Diese kraftmeierische Genialität

Betrugsfälle wie jener rund um die Commerzialbank Mattersburg zeigen ein neues gesellschaftliches Mantra auf: Regeln sind für Schwächlinge

von Anna Gasteiger © Bild: News/Ricardo Herrgott

Entschuldigen Sie, dass ich off-topic anfange. In der "Zeit" war vor Jahren eine hübsche Alltagsbeobachtung notiert: Kinder gehen bei Rot über die Straße, aber nur, wenn keine Erwachsenen zuschauen. Und Erwachsene gehen auch bei Rot über die Straße, aber nur, wenn keine Kinder zuschauen. Dieser subtile Witz von der Parallelgesellschaft an der Ampel erzählt ziemlich viel über den komplexen Umgang mit Regeln. Über Abwägen und Rücksichtnahme, über die eigenverantwortliche Auslegung von Gesetzen, die am Ende zwar nicht immer gesetzeskonform, aber auch niemandem zum Schaden ist.

Der Fortschritt stürmt dahin, und auch die Moral hat eine praktische Vereinfachung erfahren. Heute ist es so: Regeln sind für Schwächlinge. Man hält sich nur an sie, wenn es unbedingt sein muss, also unmittelbar Strafe droht. Aber auch von dieser Regel im Umgang mit der Regel gibt es Ausnahmen. Denn der wahrhaft tatkräftige Mensch -meist Mann - von heute beweist seine Genialität und Schöpfungskraft oberhalb der Gesetze. Die Zeitungen sind voll von Berichten über solche Schlaumeier.

Dramatisches Beispiel I: Der Fall der Commerzialbank Mattersburg. Vergangenen Mittwoch wurde die burgenländische Kleinbank über Nacht zugedreht. Gegen den ehemaligen Bankchef Martin Pucher wird wegen des Verdachts der Bilanzfälschung und Untreue ermittelt. Tausende Kunden zittern um ihr Geld. Die Ermittlungen werden zeigen, ob die kriminelle Energie eines Einzelnen oder doch ein größeres Netzwerk von Profiteuren dahintersteht. So oder so, das Motto lautet offensichtlich: Regeln? Für Idioten.

Dramatisches Beispiel II: In der Bilanz des inzwischen insolventen deutschen Zahlungsabwicklers Wirecard fehlten 1,9 Milliarden Euro. Gegen den ehemaligen Vorstandschef Markus Braun, einen Österreicher, wird ermittelt. Seine ehemalige rechte Hand Jan Marsalek, auch aus Österreich, wird per internationalem Haftbefehl gesucht. Regeln? Segeln? Kegeln?

Undramatisches Beispiel I-CXXVIII: Keine Bahnfahrt ohne Sichtung einiger Superhelden, die offenbar beschlossen haben, Covid-19-resistent zu sein, sich daher nicht weiter mit dem Tragen einer lästigen Maske aufhalten zu müssen und Menschen, die sie auf diesen Umstand hinweisen, frech anpöbeln. Regeln?"Wos wüst du eigentlich von mir?"

Diese kraftmeierische Genialität erstreckt sich nicht nur auf Wirtschaftskriminelle und Maskenverweigerer. Auch Politiker lassen immer öfter und unverhohlener den Wunsch erkennen, sich über den Rechtsstaat stellen zu wollen. Das ist nicht so kompliziert. Das schaut auch viel besser aus. Das gilt als durchsetzungsstark, hemdsärmelig und modern, nicht so verweichlicht-konsensorientiert und brav-anständig. Aber sorry, hier kommen die schlechten Nachrichten: Der Drang, die Egos über das Allgemeinwohl stellen zu wollen, erodiert das Fundament unserer Gesellschaft. Es ist nicht schwächlich, sich selbst in Zusammenhang mit dem Ganzen sehen und Verantwortung übernehmen zu können, es ist der Grund, warum wir es die längste Zeit geschafft haben, einigermaßen zivilisiert zusammenzuleben. Kriminelle wird es immer geben. Aber Egoismus und Narzissmus zum Volkssport zu stilisieren, ist mehr als fragwürdig, es ist gefährlich.

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