Land der Schweiger, skrupelreich

Lehren aus dem Präsidentschaftswahlkampf gibt es viele. Eine ist: Wenn niemand mehr da ist, den Lügen und Halbwahrheiten zu widersprechen, wird es düster.

von Anna Gasteiger © Bild: News/Ricardo Herrgott

Die Posse erheitert seit einigen Tagen das Land: Präsidentschaftskandidat Tassilo Wallentin hatte am Wahlabend mehrfach und vor Kameras erzählt, dass er die Existenz eines Wahlkampfleiters gegenüber Medien und Innenministerium nur erfunden habe, seine Kandidatur in Wahrheit aber eine "One-Man-Show" gewesen sei. Tags darauf ruderte er zurück und sprach von einer "verzerrten" und "aus dem Zusammenhang gerissenen" Darstellung, obwohl er nicht leugnete, gesagt zu haben, was er gesagt hatte, und erneut bestätigte, keinen Wahlkampfleiter beschäftigt zu haben. Ganz schön kompliziert.

Drei Erklärungsversuche mit absteigendem Wohlwollen: 1. Wallentin hat einen merkwürdigen Humor. 2. Er kennt das Mediengeschäft erstaunlich schlecht, obwohl er von sich behauptet, Journalist zu sein. 3. Er nimmt es mit der Wahrheit nicht so genau. Für letztere These gab es schon im Wahlkampf Hinweise. Im "ZiB 2"-Interview mit Armin Wolf, einer Sternstunde des an Sternstunden sonst armen Präsidentschaftswahlkampfs, flog Wallentin als nicht besonders gründlich recherchierender Autor auf. Freundlich ausgedrückt. Weil jetzt allerorts von Lehren die Rede ist, die aus diesem Wahlkampf zu ziehen seien: Sicher nicht jene, dass es demokratiegefährdend ist, wenn sich sechs unorthodoxe und teilweise unerfahrene Kandidaten um das höchste Amt im Staat bewerben.

Im Gegenteil. Vielfalt ist gut. Je mehr Stimmen am Diskurs teilnehmen, desto besser, kein Problem. Man muss ihnen aber auch wirklich zuhören. Dann fällt auf, dass alle sechs Gegenkandidaten zu Alexander Van der Bellen -zwei davon mit Boulevardmedien im Hintergrund, die seit vielen Jahren extrem von Regierungsinseraten profitieren -ihre Wahlkämpfe mit unbelegten Behauptungen, Halbwahrheiten, populistischen Versprechungen und ominösen Andeutungen bis hin zu Verschwörungstheorien bestritten. In unterschiedlichem Ausmaß und mit unterschiedlichen Absichten, aber doch. Und das ist ein Problem. Auch, weil das Bewusstsein dafür schwindet. Als habe jeder heutzutage ein Anrecht auf seine eigene kleine Lüge, als Teil der Meinungsfreiheit quasi. Es wird weniger widersprochen. Aus falschem Respekt vor dem Gefühl der Unzufriedenheit, das diese Stimmen artikulieren? Aus Faulheit, Unwissenheit, Angst? Oder weil bald niemand mehr da ist, um Einwand zu erheben?

»Es braucht viel mehr Qualitätsjournalismus in diesem Land, nicht weniger«

In den Wahlkampf der Halbwahrheiten fiel die Nachricht vom langsamen Ende der "Wiener Zeitung". Wenn die vergangenen Wochen etwas ganz deutlich gemacht haben: Es braucht viel mehr Qualitätsjournalismus in diesem Land, nicht weniger. Und das aus den richtigen Gründen. Nicht, weil es immer schon so war (?) und irgendwie dazugehört, sondern weil es ein breites gesellschaftliches Verständnis dafür gibt, dass die Demokratie ohne unabhängige, den Fakten verpflichtete Instanzen, die auch weiterhin selbstbewusst darauf hinweisen, dass die Erde keine Scheibe ist, à la longue nicht funktionieren kann. Wo dieses Verständnis herkommen soll? Indem (etablierte) Politiker mit gutem Beispiel vorangehen, was nicht immer der Fall war, siehe das Medienverständnis des Sebastian Kurz. Und: Bildung, Bildung, Bildung. Jetzt. Schnell. Der Hut scheint leider zu brennen.