Pflicht oder Pflichterl

Die Regierung hat sich auf die Impfpflicht festgelegt, nachdem die Einhaltung anderer Corona-Maßnahmen bisher eher lax geahndet wurde. Ist das verhältnismäßig?

von Anna Gasteiger © Bild: News/Ricardo Herrgott

Rückkehrer aus den Skigebieten berichten, dass die Corona-Regeln dort nicht ganz so streng eingehalten werden. So komme es zum Beispiel vor, erzählt eine Freundin, dass sich andere Hotelgäste in der eigentlich pro Familie gebuchten Sauna einfach dazusetzen -man habe das bisher immer so gehandhabt, eh kein Problem, oder?

Die kleine Anekdote bringt den österreichischen Umgang mit Corona-Maßnahmen gut auf den Punkt. Sie wurden und werden bestenfalls als Empfehlung wahrgenommen, an die man sich halten kann, aber nicht unbedingt muss. Im Gegenteil: Wer zu regelkonform agiert, gilt schnell als kleinlich, spießig, streberhaft. Siehe die Nichteinhaltung von Geschwindigkeitsbeschränkungen auf der Autobahn und andere "Kavaliersdelikte". (Anders sozialisierte Einwanderer wissen ein Lied davon zu singen; liebe Schwedinnen und Schweden zum Beispiel, ihr wisst, was ich meine.) Die bisherigen Corona-Maßnahmen und ihre mangelhaften Kontrollen: eine einzige Einladung, solche Kavaliersdelikte zu begehen. Schon im Sommer war die Chance, ohne 3G-Nachweis im Wirtshaus bedient zu werden, sehr hoch. Auch der immer noch geltende Lockdown für Ungeimpfte war bisher eher Theorie, oder wurde in Geschäften, die nicht der Deckung des täglichen Bedarfs dienen, jemals flächendeckend kontrolliert?

Selbst wenn, war es bis zuletzt erschreckend einfach, sich mit gefälschten Impfpässen Zugang zu verschaffen, die Politik schien nicht übermäßig interessiert daran, das Problem zu beheben. Man muss diese Inkonsequenz nicht kritisch sehen. Wir leben immerhin in keinem Polizeistaat, die meisten Bewohnerinnen und Bewohner dieses Landes sind erwachsen und mehr oder weniger in der Lage, die Folgen ihres Verhaltens abzuschätzen.

»Ausgerechnet über die Impfpflicht wurde bisher viel zu wenig diskutiert«

Aber in Hinblick auf die Impfpflicht wirft diese Strategie einige Fragen auf. Erstens: Wurde wirklich genug getan, um diese Maßnahme, die "nur als letztes Mittel menschenrechtlich geboten sein kann", wie es die Menschenrechtsorganisation Amnesty International in ihrer Stellungnahme zum Impfpflichtgesetz ausdrückt, zu vermeiden?

Zweitens: Was bringt eine ähnlich inkonsequent umgesetzte Impfpflicht außer weitere Polarisierung, Verärgerung und enorme Verwaltungskosten (der Dachverband der Verwaltungsrichterinnen und -richter fordert in seiner Stellungnahme eine Verdoppelung des Personals, um die zu erwartenden Beschwerden bearbeiten zu können)?

Und wäre, drittens, eine konsequent umgesetzte Impfpflicht vor dem Hintergrund der bisherigen Vorgehensweise nicht unverhältnismäßig? Was, viertens, zu der Frage führt, ob sie dann überhaupt sinnvoll ist.

Ausgerechnet darüber wurde bisher viel zu wenig diskutiert, anscheinend streiten wir hierzulande lieber über unwichtige Themen. Die einen sagten sofort Ja ohne Aber, die anderen Aber ohne Ja, und dazwischen gibt es ja angeblich nichts mehr, zumindest nichts, was sich im öffentlichen Diskurs Gehör verschaffen könnte. Die Bundesregierung hat sich festgelegt. Die Impfpflicht wird kommen. Ob es eine Pflicht wird oder doch eher ein Pflichterl, wird man sehen. Einschätzungen gelernter Österreicher und -innen werden gerne entgegengenommen.

Was meinen Sie? Schreiben Sie mir bitte: gasteiger.anna@news.at