Fast aus, aber jedenfalls vorbei

Die dienstälteste EU-Regierungschefin und Krisenmanagerin Nummer eins geht. Das kann man beklatschen. Man darf es aber auch schade finden.

von Leitartikel - Fast aus, aber jedenfalls vorbei © Bild: News/ Matt Observe

Jetzt ist sie also weg. Fast. Aber jedenfalls endlich, wie nicht wenige meinen. 16 Jahre sind wahrlich eine lange Zeit. Und folglich genug: Deutschland hat gewählt. Die Amtsinhaberin stand nicht zur Wahl. Gut möglich, dass Angela Merkel noch einmal als geschäftsführende Kanzlerin eine Neujahrsansprache halten muss. Denn bis die neue Regierung in Berlin steht, könnten Monate vergehen. Stillstand ist programmiert. In Deutschland - und in Europa. Gab es lange Zeit die Sorge vor zu viel Deutschland in Europa, macht sich derzeit vor allem Nervosität vor zu wenig Deutschland breit. Denn ohne das bevölkerungsreichste und wirtschaftsstärkste Mitgliedsland der EU geht auf dem europäischen Parkett herzlich wenig. Jetzt und überhaupt. Dabei liegt so viel auf dem Tisch und wurde - wie unerhört - von ebendieser Angela Merkel, die vier französische Staatspräsidenten, acht italienische Ministerpräsidenten, fünf britische Premierminister und rund 100 EU-Gipfeltreffen erlebt hat, nicht rechtzeitig abgearbeitet: Klimapolitik, Reform der Schuldenregeln, Bankenunion, Außen-und Sicherheitspolitik, Migration. Zu guter Letzt habe sie es auch versäumt, Orbán auf den Boden der Rechtsstaatlichkeit zurückzuholen. Enorme Herausforderungen und Umbrüche in Europa hin oder her - unter dem Strich bleiben Versäumnisse und wenig Ideen für Europa. So einfach geht eine schnelle Abrechnung.

»Wie Europapolitik geht, können jetzt andere unter Beweis stellen«

Keine Frage, die Verfasstheit Europas hat sich in den 16 Jahren ihrer Kanzlerschaft nicht wirklich verbessert. Merkel ist auf Sicht gefahren. Verlässlich und pragmatisch. Nervenstark und mit viel Durchhaltevermögen ausgestattet. Eine Visionärin war sie nicht. Dennoch: Ohne Merkel wäre Europa längst auseinandergefallen, attestieren heute viele Wegbegleiter. Wenn Probleme auftauch(t)en, schaut(e) man nach Berlin. Derzeit schaut man auf ein Deutschland, das mit sich selbst beschäftigt ist. Wie es in Europa weitergehen soll, war im deutschen Wahlkampf kein Thema. Wie Europapolitik geht und vor allem, wie es besser geht, könnten jetzt die anderen 26 Lenker der Mitgliedsstaaten unter Beweis stellen. Es braucht nur ein bisschen Mut, eine Vision und Ansagen. So schwer kann das ja nicht sein. Oder doch?

Mit Merkel geht auch eine uneitle Verwalterin des Stillstands. Eine der wenigen unter den Mächtigen, die mit einem unverrückbaren Wertegerüst ausgestattet ist. Ein Gegenentwurf zu den Populisten auf dem politischen Parkett, eine, die sich mit ihrer DDR-Vergangenheit einen anderen Blick auf die Welt, auf Grenzen, auf Freiheit erlaubte. Eine Frau, die ganz ohne breitbeiniges Alphatier-Gehabe nicht nur Deutschland, sondern vor allem Europa im Blick hatte -und jedenfalls nicht den blumigen Sager und die nächste Schlagzeile von morgen. Am Ende wird es auch das sein, was auf der europäischen Bühne fehlen wird. Nein, abgehobene Sätze in der Art wie hierzulande vom Wahlverlierer, dem Grazer ÖVP-Bürgermeister Siegfried Nagl, "ich werde meine schützende und helfende Hand zurückziehen", kommen Merkel auch auf den letzten Metern nicht über die Lippen. Sie geht einfach. Selbstbestimmt, mit Umfragewerten auf Rekordniveau und ohne Pathos: "Dann werde ich ein bisschen schlafen, und dann schauen wir mal", lautete die Antwort auf die Frage nach ihrer Zukunft. Sorgen muss man sich um Angela Merkel nicht machen. Aber um Europa.

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