Das Lehrlingsdebakel: Wo bleibt der Nachwuchs?

Der Mitarbeitermangel ist eine Existenzbedrohung für Gastronomie und Tourismus - das liegt auch daran, dass es kaum noch Lehrlinge gibt. Die Betriebe zahlen nun den Preis für jahrelanges Ignorieren der Problematik.

von Lehrling © Bild: iStockphoto

Verena erinnert sich genau an den Tag, an dem ihre Karriere im Tourismus endete: Sie arbeitete damals an der Rezeption eines Wiener Hotels, es war ein langer, mühsamer Dienst gewesen. Die Stelle hatte sie nach ihrer Lehrausbildung zur Hotel-und Gastgewerbeassistentin angetreten, und es war ihr Traumjob. Erst nach und nach setzte Ernüchterung ein: Überstunden waren eine Selbstverständlichkeit, ebenso Wochenenddienste, das Gehalt war überschaubar, Anerkennung gab es wenig. Als ihr Chef an dem besagten Tag die Mitarbeiter von Rezeption und Service geflissentlich übersah, als er die Stützen seines Betriebs erwähnte, reichte es ihr, und sie schrieb ihre Kündigung. "Die Lehre hat mir ja gut gefallen, aber die Umstände in der Branche passen mir gar nicht." Heute arbeitet Verena im Kundenservice einer Firma aus der Baubranche. "Den Kontakt zu Menschen habe ich nicht verloren, das brauche ich. Aber eine geregelte Arbeitszeit und freie Wochenenden sind halt Musik in meinen Ohren."

Verzweifelte Suche nach Personal

Kein Einzelfall in einer Branche, deren Fachkräftemangel längst offensichtlich ist: Auf den Websites der meisten Restaurants und Hotels poppen verzweifelte Stellenangebote auf, viele Betriebe müssen heute sogar die Aufsteller, auf die sonst das Mittagsmenü gekritzelt wird, für die Mitarbeitersuche verwenden. Fakt ist: Österreichs Gastronomie und Tourismus steuern mit Karacho in die Krise nach der Krise. Nach Lockdowns und Coronaregeln könnten jetzt wieder mehr Gäste empfangen werden, doch mangels Personals können viele Betriebe nicht hochgefahren werden. Der Wirtschaftsaufschwung dürfe nicht durch fehlende Arbeitskräfte gefährdet werden, warnte zuletzt Tourismus-Staatssekretärin Susanne Kraus-Winkler folgerichtig.

Konnten bisher Stellen mit ausländischen Mitarbeitern besetzt werden, ist diese Quelle versiegt: Wegen der Betriebsschließungen und der Kurzarbeit zu Coronazeiten sind Fachkräfte aus Ländern wie Ungarn oder der Slowakei in andere Berufe gewechselt oder haben Jobs in ihrer Heimat gefunden. Zudem machen hohe Treibstoffkosten das Pendeln unattraktiv, dazu kommt in Wien das Parkpickerl.

Das Problem liegt aber tiefer und wurde jahrelang ignoriert: Es fehlt der Nachwuchs. Immer weniger junge Menschen entscheiden sich für einen Job in Tourismus und Gastronomie - und wenn doch, springen die meisten wieder ab. Aktuell wären 2.300 Lehrstellen in Tourismus-und Freizeitwirtschaft verfügbar, aber nur 230 Lehrlinge suchen eine freie Stelle; das Problem zieht sich durch alle Bundesländer. Längst kämpft man nicht nur in der Branche um den Nachwuchs, sondern gegen andere Branchen, die Lehrlinge abwerben. Per Ende 2021 gab es in der Sparte um zwölf Prozent weniger Lehrlinge als im Jahr davor. Und laut Analyse der Arbeiterkammer Oberösterreich hat die Branche die höchste Quote an Lehrabbrüchen, inklusive nicht angetretener Abschlussprüfungen lag diese zuletzt bei knapp 45 Prozent.

Die Misere war absehbar

Woran liegt das? Nach Ansicht von Thomas Moldaschl, Experte für Lehrlingswesen bei der Arbeiterkammer, wirken schlechte Arbeitsbedingungen und Bezahlung sowie fehlende Jobaussichten abschreckend. "Ich vermisse handfeste Ansätze, was man Jugendlichen heute bieten kann." Die derzeitige Misere sei lange absehbar gewesen.

Christina Ritter, Bundesjugendsekretärin der Gewerkschaft Vida, kennt die Sorgen der Lehrlinge: "Den Mitarbeitern fehlen Planbarkeit und die Wertschätzung am Arbeitsplatz." Die Arbeitgeber machen auch zu wenig Angebote, sich im Betrieb weiterzuentwickeln. Philipp Stohner ist Kochweltmeister, Vizepräsident des Kochverbands und leitet die Küche des Wifi Tirol. Seiner Ansicht nach gab es einen Wertewechsel bei potenziellen Mitarbeitern, jüngere Menschen würden mehr auf Freizeit achten. "Das ist okay, aber auf die Arbeit darf halt nicht vergessen werden." Auch das AMS weist in einer Analyse darauf hin, dass sich die Einstellung zur Arbeit in den vergangenen Jahren geändert habe - die Work-Life-Balance ist kein hohler Begriff mehr.

Über diesen Trend kann man klagen oder ihm aktiv gegensteuern. Tamara Lhota leitet ein Restaurant der Wiener Figlmüller-Gruppe am Flughafen Wien- Schwechat und war vor rund 20 Jahren der erste Lehrling, den dieses Unternehmen eingestellt hatte. Das Lokal mit rund 20 Mitarbeitern ist an diesem Vormittag gut besucht, es gibt kaum freie Tische. Der Vorteil eines Jobs am Flughafen: Man kann sich die Arbeitszeit besser einteilen, was auch für Eltern interessant ist. "Gastronomie ist einfach die ideale Branche für mich", erzählt Lhota, während sie für einen Gast einen Cappuccino vorbereitet. Sie liebt die Arbeit mit Menschen, und das merkt man. Doch die harten Fakten müssen ebenso stimmen - etwa ein gerechter Lohn, der durch eine Umsatzbeteiligung ergänzt wird.

Harald Prochazka, Geschäftsführer der Figlmüller-Gruppe, erzählt von stark gestiegener Drop-out-Rate bei Lehrlingen. "Das liegt auch an den sozialen Medien: Die jungen Leute sehen, dass Gleichaltrige am Wochenende und am Abend ausgehen können." Es werde immer zeitaufwändiger, jene Zahl an Lehrlingen zu finden, die eingestellt werden können -rund 25 benötigt das Unternehmen. Die Bedingungen könnte man in der Gastronomie nicht ändern, sehr wohl aber das Engagement, was den Nachwuchs betrifft. "Wir wollen Lehrlinge nicht nur ausbilden, sondern auch halten." Feedback-Gespräche und Schulungen seien unverzichtbar. Dennoch springen zwei von drei Lehrlingen wieder ab, wenn man den Prozess ab dem Recruiting betrachtet.

Ideen und Visionen gibt es doch

Auch Christoph Lamprecht, Besitzer und Küchenchef des Wiener Restaurants ef16, hält nichts vom Jammern. Er setzt derzeit drei Lehrlinge ein. "Die meisten meiner Lehrlinge habe ich durch Empfehlung aus dem Bekanntenkreis zu einem Vorstellungsgespräch mit anschließendem Probetag eingeladen und bislang sehr gute Erfahrungen damit gemacht." Die Philosophie des Betriebs, der von einem kleinen Familienbetrieb zu einer bekannten Marke in der Wiener Gastronomie wurde: "Anleiten, begleiten, charakterisieren." Die Jugend sprühe vor Ideen und Visionen, betont Lamprecht. Man müsste dem Nachwuchs den nötigen Spielraum in einem vorgegebenen Rahmen geben. Arbeitgeber müssten aber kreativ sein. "Für manche reicht schon die namentliche Nennung des Vornamens zum verkauften Dessert in der Speisekarte -zum Beispiel Nikis Apfelkuchen" Andere könne man mit einer Umsatzbeteiligung an jedem verkauften Artikel motivieren.

Erich Mayrhofer, Chef des Landgasthauses Bärenwirt in Petzenkirchen (Niederösterreich), muss sich mehr anstrengen, um Nachwuchs zu engagieren. "Wir gehen in die Schulen, um welche zu finden." Er beschäftigt permanent fünf bis sechs Lehrlinge, würde aber noch zwei mehr aufnehmen. Mit Einsatz und Kreativität versuchen Betriebe, den Personalmangel zu beheben -so wird Lehrlingen manchmal der Motorrad-oder Autoführerschein bezahlt, was vor allem abseits der Ballungsräume ein gutes Argument sein kann. Auch bei der Lehrausbildung gibt es Potenzial: Philipp Stohner berichtet von einem zehnprozentigen Plus bei Kochlehrlingen in Tirol. "Wir haben bei der Ausbildung und der Abschlussprüfung viel geändert, machen außerdem Kochwettbewerbe und ähnliches." Das würde sich bezahlt machen. "Doch in Wirklichkeit ist das nur ein Tropfen auf dem heißen Stein."

Tatsächlich kann individuelles Engagement helfen, aber es wird kaum reichen. Was könnte sonst getan werden?"Unterm Strich geht es ums Geld", glaubt Thomas Moldaschl. In der Baubranche wurde das Lehrlingseinkommen deutlich erhöht und damit die Zahl der Bewerber. "Es würde helfen, wenn man Lehrlingen mehr bezahlt", glaubt Tamara Lhota. Die Fakten: Im ersten Lehrjahr bekommen Lehrlinge derzeit 815 Euro monatlich; der Mindestlohn für Fachkräfte in den ersten beiden Berufsjahren beträgt 1.700 Euro, für Hilfskräfte sind es 1.629 Euro. Wiederholt wurde gefordert, Fachkenntnisse besser zu entlohnen.

Vier-Tage-Woche gefordert

Doch Geld ist nicht alles. Philipp Stohner glaubt: "Vor dem Thema Geld kommt die Arbeitszeit." Nicht nur die Branche, die Politik müsste neue Modelle schaffen. Er verweist auf Skandinavien, wo die Vier-Tage-Woche für Gastropersonal keine Seltenheit mehr ist. Junge Leute bekommen dadurch wieder Lust, in dieser Branche zu arbeiten. Bärenwirt-Chef Mayrhofer hat seit vorigem Jahr am Sonntag geschlossen -ein wichtiges Argument für neue Mitarbeiter. Die Gastronomie müsse generell bessere Rahmenbedingungen schaffen, sind sich Experten einig, vor allem für Mitarbeiter mit Familie. Auch Johann Spreitzhofer, neuer Bundesobmann der Hotellerie in der Wirtschaftskammer, bezeichnete kürzlich in einem Interview mit der "Kleinen Zeitung" die Flexibilisierung der Arbeitszeit als Schlüssel.

Unterschiedliche Meinungen gibt es indes in der Branche, ob Matura und Studium als Ergänzung eine Motivation sein können. "Wir müssen klarmachen, dass nicht alle die Matura machen müssen. Ein toller Facharbeiter ist besser als ein unglücklicher Maturant", glaubt Mayrhofer. Verbessert gehören nach Ansicht von Harald Prochazka die Möglichkeiten, nach der Lehre Fortbildungen zu beanspruchen. Die überbetriebliche Lehre sieht er teilweise als kontraproduktiv, weil junge Mitarbeiter damit an Arbeitszeiten gewohnt würden, die in der Praxis unrealistisch seien.

Bleibt zu hoffen, dass der nötige Wandel rasch greift. Es sei jetzt "5 vor 12", konstatiert Christina Ritter. Kurzfristig heißt es jetzt wohl, die momentan schwierige Phase zu übertauchen -das könnten Monate, aber auch mehrere Jahre werden, je nach Lern-und Änderungswillen der Branche. "Es wird eine Katastrophe", fürchtet Mayrhofer. Wenn in Lokalen das Personal nur noch Englisch spreche, mache das die Gastrokultur des Landes zunichte. Tourismus und Gastronomie seien zwar Bereiche, in denen viele Jugendliche anfangen, doch viele wechseln dann die Branche, ergänzt Moldaschl. "Wir bilden im Tourismus für andere Branchen aus."

Mehr Wertschätzung gefragt

Langfristig, so der Tenor, wird sich die Branche zweifellos ändern. "Ich bin zuversichtlich, dass wir den Personalmangel beheben können", sagt Stohner. Es gäbe noch genug junge Menschen, die sich für die Gastronomie interessieren. Christoph Lamprecht glaubt, dass gerade eine Selektion stattfindet: "Unterbezahlte Gastrojobs gehören der Vergangenheit an, die Wertschätzung von neuen, interessierten Mitarbeitern steigt." Das dürfte nicht allen Betrieben bewusst sein, denkt sich Verena, wenn sie Stellenausschreibungen durchblättert und sich über die unzähligen Floskeln wundert. An stichhaltigen Argumenten mangelt es den Betrieben offenbar. "Ein familiärer Umgang wäre wichtig, auch Aufstiegschancen müssten verbessert werden" sagt Verena, die sich trotz ihrer Erfahrungen vorstellen kann, irgendwann doch wieder in der Hotellerie oder der Gastronomie zu arbeiten. "Aber die Bedingungen müssten einfach passen."

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News-Magazin Nr. 23/2022.