"Das Gehirn können
Sie nicht täuschen"

Wissenschaftler John-Dylan Haynes spricht über die Möglichkeit von Forschern und Hightechkonzernen, unsere geheimsten Gedanken auszulesen.

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Sie nicht täuschen" © Bild: iStockPhoto.com
Der gebürtige Brite ist Psychologe und Neurowissenschaftler. Forschungsaufenthalte führten ihn nach Magdeburg, Plymouth und London. Seit 2006 ist er Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimaging (BCAN) und Professor am Bernstein Center for Computational Neuroscience (BCCN) der Charité in Berlin.

Bevor wir mit dem Interview starten: Können Sie meine Gedanken lesen?
Wir können immer zu einem gewissen Grad raten, was andere Personen denken -ganz ohne Hirnscanner. Zum Beispiel anhand der Stimmfärbung, anhand der Dinge, die sie sagen, und ihres Gesichtsausdrucks und der Körperhaltung. Aber wir kommen da natürlich nicht in die Details der Gedanken hinein. Ich weiß zum Beispiel nicht, warum Sie gut gelaunt sind. Wenn ich Details zu den Gedanken haben möchte, dann müsste ich entweder fragen oder in Ihr Gehirn reinschauen, um etwas über Ihre Gedanken in Erfahrung zu bringen.

Wie kann ich mir das vorstellen, dass Sie in mein Gehirn hineinschauen?
Seit rund 15 Jahren ist die Hirnforschung so weit, zu einem bestimmten Grad aus der Hirnaktivität auszulesen, was jemand denkt. Denn jeder Gedanke, den man hat, ist mit einem unverwechselbaren Muster der Gehirnaktivität verbunden. Wenn ich beispielsweise an einen Hund denke, dann ergibt dieser Gedanke ein spezielles, unverwechselbares Aktivitätsmuster im Gehirn. Wenn ich nun einem Computer beibringe, diese Aktivitätsmuster zu erkennen, kann ich zu einem gewissen Grad auslesen, was Sie gerade denken.

Ist das Gehirnmuster bei jedem Menschen gleich, wenn er beispielsweise an einen Hund denkt?
Das sind die Grenzen und Herausforderungen, die das Gebiet hat. Wenn man an einen Hund denkt, gibt es schon eine gewisse Ähnlichkeit in den verschiedenen Gehirnen, aber es gibt auch große Unterschiede. So wie es etwa bei dem Muster auf zwei Leopardenfellen der Fall ist. Sie ähneln sich, aber keines ist komplett gleich. Beim Gehirn liegen die Unterschiede an unserer unterschiedlichen Anatomie, die noch individueller als unser Fingerabdruck ist. Und es liegt daran, dass sich unsere gemachten Lebenserfahrungen unterscheiden. Beim Beispiel Hund etwa denkt der eine an seinen treuen Freund und der andere daran, dass er als Kind von einem Hund gebissen worden ist.

Wie präzise können unsere Gedanken mittlerweile gelesen werden?
Wenn man genau weiß, welche Alternativen es sein könnten, geht das bisweilen schon ganz gut. Man fordert Personen auf, an etwas Bestimmtes zu denken. Ihre Gedanken werden dann in einem Gehirnscanner gemessen. In weiterer Folge können sich diese Personen einen der Gedanken aussuchen, der zuvor schon aufgezeichnet worden ist. Aufgrund der Gehirnaktivität kann schließlich abgelesen werden, welcher Gedanke es ist. Das funktioniert schon. Der frei fliegende Gedankenstrudel, den jemand im Alltag hat, ist schwieriger auszulesen, weil der Möglichkeitenraum so groß ist. Allerdings gibt es Situationen, in denen man nicht jedes einzelne Detail auslesen können muss, sondern es reicht eine grobe Einschätzung. Wenn man wissen will, ob jemand gelogen hat oder nicht, ob er an einem Tatort war oder nicht oder ein bestimmtes Produkt kaufen will oder nicht, dann reicht eine einfache Ja-Nein-Entscheidung.

Das heißt, der Lügendetektor funktioniert?
Im Labor funktionieren diese Dinge ganz gut. Doch wenn im Labor gelogen wird, dann ist das eine künstliche Situation. Wenn man aber vor Gericht einen Lügendetektortest machen würde, ginge es um sehr viel, etwa ob man ins Gefängnis wandert. Menschen, die wegen Straftaten vor Gericht landen, sind zudem auch oft psychisch anders als Gesunde. Das sind zum Teil Leute mit sogenannter antisozialer Persönlichkeitsstörung, emotionaler Verflachung, und sie sind oft manipulativer. Daher ist eine der Kernbotschaften des Buches "Fenster ins Gehirn": Im Labor funktioniert das alles gut, aber wenn man in richtige Anwendungen möchte, gibt es noch einige Schwierigkeiten.

Amerikanische Hightechfirmen vermitteln seit einiger Zeit, dass Gedankenlesen bereits bald Realität ist
Ja, diese Firmen sind sehr marktschreierisch aufgetreten und haben angekündigt, in ein paar Jahren können wir Gedanken lesen und per Gedankenkraft E-Mails schreiben. Elon Musk ist besonders intensiv dabei, große Behauptungen - z. B. bald können wir ganze Bewusstseinsinhalte runterladen -aufzustellen. Das ist wirklich alles Zukunftsmusik und schadet uns als Feld, wenn Leute, die vielleicht nicht ganz so viel Ahnung davon haben, alle möglichen Behauptungen aufstellen, Wünsche und Begehrlichkeiten und Befürchtungen wecken, die aber derzeit gar nicht angemessen sind.

Wenn wir von den Hightechkonzernen sprechen: Vielen ist es schon passiert, dass sie an etwas denken und kurz darauf scheint die dazu passende Werbung auf. Wie kann das sein?
Das hat verschiedene Gründe. Zum einen neigen wir Menschen dazu, Zufälle überzubewerten und überzuinterpretieren. Aber natürlich werden im Internet Botschaften und Werbungen zielgerichtet auf das Klickprofil eines Users zugeschnitten. Das klassische Beispiel ist die Frau, die auf einmal Werbung für Umstandsmode bekommt, obwohl sie vielleicht noch gar nicht weiß, dass sie schwanger ist. Aber sie hat möglicherweise die Symptome der Schwangerschaft schon gegoogelt. Auch wenn Leute anfangen, Krankheitssymptome einzugeben. Dann wird vermutet, dass diese Personen eine Erkrankung haben, und es werden Medikamente angezeigt oder wo die nächste Covid-Teststelle ist. Das ist kein Zufall, sondern echt. Aber es ist ein Unterschied zwischen Gedankenlesen aus dem Gehirn und dem auf der Basis eines Footprints im Internet. Letzteres beruht darauf, dass die Menschen bereitwillig alles von sich im Internet angeben und wie wild alles anklicken, ohne sich Gedanken zu machen, was sie da alles preisgeben.

Aber warum investieren Hightechkonzerne dennoch so viel ins Gedankenlesen?
Den Internetabdruck kann man manipulieren. Wenn Sie unter einem autoritären Regime leben und Sie wissen, dass Sie überwacht werden, können Sie einfach immer die Seite des Präsidenten liken und immer die richtigen Websites besuchen. Aber das Gehirn können Sie nicht täuschen. Ihr Gehirn sagt eigentlich immer die Wahrheit. Ich meine damit nicht, dass jemand immer die Wahrheit ausspricht, aber ein Blick mit dem Kernspintomografen ins Innerste des Gehirns zeigt, was Sie wirklich denken. Das sind Dinge, die wir normalerweise für verborgen halten und niemandem erzählen.

Das macht diese Möglichkeit des Gedankenlesens allerdings auch gefährlich
Das sehe ich genauso. Man muss sich prinzipiell die Frage stellen: Was soll man können dürfen? Ich denke, eine sinnvolle Forderung wäre, dass man nur dann aus der Hirnaktivität Gedanken lesen darf, wenn dies im Interesse der Person ist. Damit fallen viele Anwendungen raus. Wie der Bereich des Gehirnmarketings. Hier wird versucht, Produkte zu optimieren. Mittels Gehirnströmen wird untersucht, ob jemand das Produkt kaufen wird. Das ist eine extrem manipulative Absicht, die sich dahinter verbirgt.

Wird das schon durchgeführt?
Es gibt zahlreiche Firmen, die das schon anbieten. Das reine Neuromarketing - das Erkennen von Kaufabsichten aus Gehirnaktivität -funktioniert eigentlich nicht richtig. Es gibt Firmen, die damit Geld verdienen. Aber eigentlich ist das Kaffeesatzleserei. Einfacher wäre es, die Person zu fragen, ob sie ein Produkt kaufen würde.

Aber wird es irgendwann so weit sein, dass mein Handy meine Gedanken lesen und ich meinen Code per Gedanken eingeben kann?
Das wird noch eine ganze Weile dauern. Weil man ja als Grundlage dafür eine Messung der Gehirnaktivität benötigt. Da gibt es derzeit vor allem zwei Techniken, die man verwendet: zum einen die großen Gehirnscanner, die Kernspintomografen, und die EEG-Kappen, die Hirnströme messen.

Etwas anderes zur Messung gibt es noch nicht?
Nein, nicht ohne die Schädeldecke zu öffnen. Allerdings werden diese EEG-Kappen immer besser und einfacher zu nutzen. Man setzt sie auf und braucht kein Gel mehr wie früher. Es gibt hier tatsächlich schon Studien dazu, ob man sich ins Gehirn einhacken kann. Also zum Beispiel wenn jemand PlayStation spielt und ein EEG-Set anschließt, werden immer kurz PIN-Nummern eingeblendet. Man sieht, wie das Gehirn reagiert, und wenn der richtige Code dasteht, reagiert das Gehirn besonders. Das heißt, man liest Informationen unbemerkt, quasi durch die Hintertür ab. Da sollte man schon etwas Angst haben, dass man zu viel von sich verrät.

Was wäre in Zukunft Ihrer Meinung nach alles möglich?
Die großen Behauptungen à la Facebook und Musk sind, dass irgendwann Implantate ins Gehirn eingebaut werden. Elon Musk hat das vor einem halben Jahr bei Schweinen präsentiert. Technisch ist das schon ganz gut. Ein Roboter nimmt die Operation vor. Doch die grundlegende Problematik ist, dass unsere Gedanken im Gehirn verteilt und nicht an einem Ort sind. Dafür gibt es noch keine Techniken. Die Technik von Musk ist noch sehr lokal. Weiterhin gibt es die Idee, dass man Nanostaub spritzt und diese Nanoteilchen anschließend Informationen nach außen funken. Das ist aber auch noch unrealistisch. Niemand will diese Partikel in der Blutbahn oder dass diese Partikel ins Gehirn übergehen. Denken Sie nur an das Schlaganfallrisiko!

Ich brauche also in nächster Zeit keine Angst zu haben, dass mein Handy meine Gedanken kennt?
Nein. Es passiert sehr viel Interessantes, was auch für Patienten hilfreich sein kann, etwa wenn Prothesen mit Gedankenkraft gesteuert werden. Aber es hilft niemandem, wenn falsche Erwartungen und Ängste geweckt werden. Es wird in den nächsten Jahren keinesfalls so sein, dass das Handy meine Gedanken liest. Und warum auch? Ich kann ja einfach einen Befehl aussprechen und mein Handy reagiert. Bei vielen Dingen, die die großen Hightechfirmen präsentieren, habe ich den Verdacht, dass es einfach um die Präsenz der Firmen in den Medien geht.