Menschlichkeit in
unmenschlichen Zeiten

Das neue Buch des streitbaren Humanisten Michael Landau - eine Leseprobe

Für Basima begann die Hölle auf Erden vor fast fünf Jahren. Damals, im Februar 2012, als die syrische Stadt Homs zum ersten Mal bombardiert wurde und die ersten Panzer durch die Straßen ihrer Heimatstadt rollten. Das kleine Mädchen hatte längst aufgehört, die Zahl der Angriffe und die Panzer zu zählen. Basima und ihre Familie waren in den vergangenen Jahren damit beschäftigt zu überleben - den Fassbomben Assads und den Schergen des Islamischen Staates zu entkommen. Zumindest vorerst haben sie dieses Ziel auch erreicht.

von
Flüchtlinge - Menschlichkeit in
unmenschlichen Zeiten

Ich treffe Basima im Sommer 2015 in einem inoffiziellen Flüchtlingslager im Libanon. Bei einer Größe etwa des Landes Tirol hatte der Libanon zu diesem Zeitpunkt neben den eigenen rund vier Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern mehr als eine Million registrierte Geflüchtete aufgenommen. Dazu kommen vermutlich rund noch einmal so viele nicht registrierte Menschen auf der Flucht. Wir wollten gerade eines der kleinen Gewächshäuser aus Kunststoff, das die Menschen hier notdürftig zu ihrem neuen Zuhause zurechtgezimmert haben, verlassen, als wir zu Basima gerufen wurden. Das Mädchen lag apathisch in den Armen ihrer Mutter. Die Kleine hatte eine dunkelrot entzündete, offene Stelle auf der Stirn, mit weißlichen, staubig wirkenden Rändern. Ein Granatsplitter hatte eine Entzündung ausgelöst. Basimas Eltern sind nach schwerem Granatbeschuss mit ihren Kindern aus Syrien geflohen. Das Mädchen wurde Tage zuvor im Schlaf getroffen und verwundet. Bis zum Eintreffen der mobilen Ambulanz versuchten wir ihr Trost zu spenden. Doch welche Worte können trösten, wenn der Krieg das Vergangene soeben ausgelöscht hat, wenn Familie, Verwandte und Freunde zurückgelassen werden müssen und die Menschen von einer ungewissen Zukunft in einem überfüllten Gewächshaus erwartet werden?

Der blutige Bürgerkrieg in Syrien hält die Welt seit nunmehr fünf Jahren in Atem. Und so wie Basima aufgehört hat, die Panzer zu zählen, haben die Vereinten Nationen aufgehört, die Opfer dieser Todesmaschinerie zu registrieren. Die Quellenlage ist zu unübersichtlich, die Lage zu verworren. Klar ist: Es sind zu viele, die bereits ihr Leben lassen mussten. Und klar ist auch: Dieser Krieg ist die größte humanitäre Katastrophe der Gegenwart -ein Krieg, der bereits mehrere Millionen Menschen zu Verfolgten und Vertriebenen gemacht hat. Ein Krieg, der nicht nur Basimas, sondern auch unser aller Leben verändert hat. Deutlich mehr Menschen, als Österreich Einwohner hat, sind in dieser Region bereits auf der Flucht. Mehr als die Hälfte von ihnen sind Frauen und Kinder. Einige von ihnen fliehen auch zu uns.

»Weltweit sind laut UNHCR gegenwärtig mehr als 65 Millionen Menschen auf der Flucht «

Die Dramen und das Leid dieser Menschen in Syrien, im Libanon, in Jordanien, im Nordirak, auch das Leid der Menschen in der Ukraine, die vergessenen Kriege Afrikas, Sturm-und Klimakatastrophen, Erdbeben und Seuchen wie Ebola -die Welt kommt nicht zur Ruhe. Der neue Dauermodus ist die Krise. Wir können uns dieser Wirklichkeit immer weniger entziehen. Die Bilder von zerbombten Städten, folternden "Gotteskriegern" und Ertrinkenden im Mittelmeer erreichen uns heute in Echtzeit. Aber nicht nur die Bilder berichten von Krieg, Verfolgung, Folter und Tod. Auch jene Menschen, die Europa und somit auch Österreich seit dem Herbst 2015 zu Hunderttausenden erreicht haben, die weitergezogen oder auch geblieben sind -sie alle legen Zeugnis davon ab, dass die Welt, wie wir sie noch bis vor Kurzem kannten, aus den Fugen geraten ist.

Weltweit sind laut UNHCR gegenwärtig mehr als 65 Millionen Menschen auf der Flucht - und wenn auch nur ein vergleichsweise sehr geringer Teil von ihnen den Weg nach Europa einschlägt und die meisten in ihren Herkunftsregionen bleiben, so ist doch auch klar: So viele Flüchtende gab es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. Das ist längst nicht nur, aber eben auch in Europa hautnah spürbar.

Wir erleben, so hat es der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani in seinem gleichnamigen Buch beschrieben, den Einbruch der Wirklichkeit. Syrien mag Tausende Kilometer entfernt liegen, und doch hat es mittlerweile den Anschein, als wäre Damaskus nicht weiter von Wien entfernt als London oder Reykjavik. Zehntausende Österreicherinnen und Österreicher haben in den vergangenen Monaten die existenzielle Erfahrung gemacht, dass diese Not und dieses Leid auch uns angehen -ob wir wollen oder nicht. Ganz konkret an den Grenzen in Nickelsdorf und in Spielfeld. Vor den Toren des Erstaufnahmezentrums in Traiskirchen. Am West-und am Hauptbahnhof in Wien, an den Bahnhöfen in Graz, in Salzburg oder Linz. In den zahlreichen Not-und Transitquartieren, die seit September 2015 neu entstanden sind. In den Turnhallen, in den Gemeindesälen und in den geöffneten Pfarrhöfen dieses Landes.

» Allein bei der Caritas haben sich in den ersten Monaten seit September 2015 mehr als 15.000 Freiwillige in ganz Österreich gemeldet, um zu helfen«

An all diesen Orten haben Zehntausende Menschen geholfen. Studierende und Pensionisten, Schüler und ihre Lehrerinnen und Lehrer, Unternehmen, Behörden, Rettungs- und Hilfsorganisationen, die Bundesbahnen und das Heer -sie alle haben Lebensmittel ausgegeben, Kleidung verteilt, Wohnraum zur Verfügung gestellt. Bis heute organisieren Freiwillige Deutschkurse, sie koordinieren Behördenwege und versuchen nach dem großen Unterkommen in den Notquartieren nun auch ein tragfähiges Ankommen in der Gesellschaft insgesamt und damit eine Form der Integration zu ermöglichen. Allein bei der Caritas haben sich in den ersten Monaten seit September 2015 mehr als 15.000 Freiwillige in ganz Österreich gemeldet, um zu helfen. Rasch und unbürokratisch. Was wir hier erleben, ist eine Renaissance der Zivilgesellschaft.

Anstelle einer Schlagzeile zum "Bürgerkrieg in Syrien" traten damit konkrete Schicksale in den Vordergrund. Schicksale, die viele Helferinnen und Helfer nicht aus den Medien, sondern in der direkten Begegnung selbst erfahren haben. Schicksale wie jene von Zahrah und ihrer 15-jährigen Tochter Diana. "Wir haben vier Jahre Krieg durchgehalten und auf Frieden gehofft, doch auf Bomben folgten weitere Bomben." Die Überfahrt mit dem Schlauchboot war ein Albtraum, erzählt die Frau, die in Syrien als Chemikerin gearbeitet hatte. "Zuerst haben wir alle Rucksäcke über Bord geworfen, aber es kam immer noch mehr Wasser ins Schlauchboot, und wir sind langsam gesunken." Ein Küstenschiff hat Mutter und Tochter gerettet.

»Es geht hier um das Festhalten an der unverlierbaren Würde des Menschen, die Option für die Armen, all das gewinnt Gestalt im Umgang mit Menschen an den Rändern«

Ich wage zu behaupten: Geschichten wie diese und die Ereignisse seit den Herbsttagen im Jahr 2015 haben unser Land, haben die Art und Weise, wie wir auf diese Welt, aber auch auf uns selbst blicken, schon stärker verändert als die vergangenen zweieinhalb Jahrzehnte davor. Das endgültige Urteil ist noch offen, noch bleibt dieser Blick auf uns und auf die Welt unscharf und verschwommen. Denn noch immer sind die Dinge in Bewegung. Greifbar ist aber die Erkenntnis, dass sich die Welt im Umbruch befindet und wir uns mit ihr. Heute wissen wir, was wir lange vielleicht nur im Stillen vermutet haben: Es gibt auch so etwas wie eine dunkle Realität der Globalisierung. Eine Wirklichkeit, die nun auch Teil der unseren geworden ist.

Es geht hier um das Festhalten an der unverlierbaren Würde des Menschen, die Option für die Armen, all das gewinnt Gestalt im Umgang mit Menschen an den Rändern. Mit Armutsbetroffenen. Mit Kranken. Und eben auch mit Menschen auf der Flucht.

Michael Landau Buch
© Verlag Brandstätter

Das Buch
Michael Landau
"Solidarität - Anstiftung zur Menschlichkeit"
Verlag Brandstätter (192 S., € 22,90)

Michael Landau wurde am 23. Mai 1960 in Wien geboren. Er ist der Sohn eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter. Landau ist studierter Biochemiker. 1980 wurde er getauft, 1986 begann er das Studium der Theologie. Seit 1992 ist er katholischer Priester. Ende 1995 übernahm er nach Helmut Schüller die Leitung der Wiener Caritas. Seit drei Jahren ist er Präsident der Caritas Österreich. Landau ist ein parteipolitisch nicht zuordenbarer Intellektueller, der für sein humanitäres Engagement vielfach geehrt wurde.

Kommentare

ähäm.. anstatt uns ununterbrochen vorzuhalten, dass wir nächstenliebe leben sollen und MÜSSEN, wäre es einmal angebracht, die tatsächlichen verursacher dieser miseren ins licht zu stellen. WEM bitte haben wir das zu verdanken? mir fällt einmal SOROS ein,dann die UNHCO, die von heute auf morgen gelder für flüchtlingslager eingestellt hat.gibt sicher noch andere genug .....aber WIR hier sicher NICHT

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