„Verzweifelte Menschen brauchen Hilfe“

Für das Theater in der Josefstadt hat Daniel Kehlmann ein Stück über die wahre Fluchttragödie von 937 Juden, die dem Holocaust entkommen wollten, zum Stück „Die Reise der Verlorenen“ verdichtet. Im Interview spricht er über Flüchtlinge und Österreichs Regierung

von Kultur - „Verzweifelte Menschen brauchen Hilfe“ © Bild: First Lukas Beck Auftrag

Auf Deck der St. Louis herrscht Bangen und Hoffen. 937 Menschen wollen nur eines: überleben. Nur knapp konnten sie der tödlichen Bedrohung eines totalitären Regimes entkommen. Vor ihnen liegen der weite Atlantik und die Hoffnung auf ein sicheres Leben auf einem anderen Kontinent. Doch dort verweigert man ihnen die Einreise. Eine Irrfahrt, die 40 Tage und 40 Nächte währt, liegt vor ihnen. Was aus ihnen werden soll, wissen sie nicht.

Was wie das Szenario von einem Flüchtlingsschiff unserer Tage anmutet, ist die grausame Wirklichkeit des Jahres 1939. Die Passagiere des Schiffs waren Juden auf der Flucht vor der tödlichen Bedrohung durch die Nationalsozialisten. In Kuba wollten sie ein neues Leben beginnen, aber sie durften dort nicht an Land gehen. Die USA und Kanada verweigerten ebenso die Einreise. Sie mussten nach Europa zurückkehren. Wie viele von ihnen überlebten, konnte bis heute nicht ­herausgefunden werden.

Der britische Journalist Gordon Thomas und der Regisseur und Autor Max Morgan-Witts haben das Geschehen in ihrem Buch „Die Reise der Verdammten“ dokumentiert. Für Holly­wood hat Regisseur Stuart Rosenberg die Geschichte mit einem Aufgebot an Stars wie Oskar Werner, Faye Dunaway und Max von Sydow verfilmt.

„Ich wusste sofort, das ist mein Stoff“, sagt Josefstadt-Direktor Herbert Föttinger, und führt dessen Entdeckung auf ein Zusammentreffen mehrerer Umstände zurück. Denn als er vor drei Jahren bei einem Urlaub auf Sizilien die Geschichte in der Fassung von Julian Barnes las, traf er dort auf ein Flüchtlingslager.

Dann ergab eins das andere. Er musste Daniel Kehlmann nicht lange zur Umsetzung der wahren Geschichte für sein Theater überreden. Am 6. September gelangt dessen „Die Reise der Verlorenen“ nun im Theater in der Josefstadt mit einem Großaufgebot von 31 Schauspielern und 21 Statisten zur Uraufführung. Föttinger steht in der Rolle des Kapitäns Gustav Schröder, der in Opposition zu den Nationalsozialisten ist, selbst auf der Bühne.

Kommt die Regierung?

„Das Schlimme an dieser Geschichte ist, dass sie tagtäglich aktueller wird“, sagt Föttinger und verweist auf das Rettungsschiff „Aquarius“, dessen Besatzung wochenlang versuchte, mit 141 Flüchtlingen an Bord in einem europäischen Mittelmeerhafen anzulegen.

Das Theater habe die Aufgabe, aufzuzeigen, wenn etwas Inhumanes geschehe, auch wenn sich mit einem Stück keine Flüchtlingsroute öffnen lasse. Er habe daher die gesamte Bundesregierung eingeladen sagt Föttinger, denn er sei überzeugt, dass man aus „Die Reise der Verlorenen“ lernen könne. Wenn alle absagen, sei das als Zeichen zu werten. „Aber wenn sie kommen, lässt es vielleicht es den einen oder anderen umdenken.“

Bevor sich das herausfinden lässt, erreichte News Daniel Kehlmann zum Gespräch.

© Tele 5 Max von Sydow als Kapitän Schröder im Film „Die Reise der Verdammten“ (1976)

Sehen Sie Parallelen zur Flucht jener Menschen, die vor dem Holocaust fliehen mussten, und den Flüchtlingen unserer Zeit?
Natürlich. Ich finde es unmöglich, diese Parallelen nicht zu sehen. Natürlich gibt es auch Unterschiede, aber die wichtigste Gemeinsamkeit ist eine ganz einfache: Hier sind verzweifelte Menschen, und sie brauchen Hilfe. Die Situation verlangt natürlich nach klarer Vernunft, sie verlangt aber ebenso nach einfacher mensch­licher Empathie.

Kann man Holocaust-Flüchtlinge überhaupt mit heutigen Wirtschaftsflüchtlingen vergleichen?
Da muss man erst einmal klären, was Wirtschaftsflüchtlinge sind. Natürlich gibt es große Unterschiede zwischen Leuten, die ihre Heimat verlassen, weil sie sonst sterben müssen, und Menschen, die ein besseres Leben suchen. Aber die Dinge sind nicht so einfach, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Ein Beispiel: Im Niger wird von europäischen Firmen Uran abgebaut. Deshalb sind große Teile des Landes verstrahlt und kaum noch bewohnbar. Wenn die Menschen nun von dort nach Europa fliehen, sind sie dann Wirtschaftsflüchtlinge, oder gibt es einen legitimen Asylgrund?

Auf der Flucht sind fast nur junge Männer. Muss man nicht auch nach den Frauen fragen, die zurückbleiben?
Natürlich muss man sich diese Frage stellen, aber noch wichtiger ist es, festzustellen, dass auch junge Männer grundsätzlich Anrecht auf Schutz und Hilfe haben. Zwar sind fast alle bedrohlichen Menschen junge Männer, aber nicht alle jungen Männer sind bedrohliche Menschen.

Karl Lagerfeld wurde heftig kritisiert, als er behauptete, man hole sich die Feinde ins Land. In Frankreich werden Juden allerdings immer häufiger zum Ziel von Angriffen durch Araber. Was soll man dagegen tun?
Zunächst einmal ganz einfach: stärkere Polizeipräsenz. In Berlin wurde ein Mann mit Kippa auf der Straße attackiert. Das ist furchtbar, aber ein Teil des Problems ist eben auch, dass man in Berlin niemals irgendwo Polizei auf der Straße sieht. Und dann braucht es natürlich Integrationsmaßnahmen. Es gibt äußerst wirksame Programme, um säkulare, westliche Werte auch an junge Araber heranzutragen. Wenn man all das Geld für Grenzzäune in Integrationsprogramme stecken würde, hätte man erstaunliche Erfolge.

Wie erklären Sie das Erstarken der Rechten in Europa?
Das ist zu komplex, Schlagworte helfen wenig. Ich würde sagen, der Fortschritt verläuft nun einmal nicht geradlinig, sondern in Schlangenlinien.

Der Amerikaner Stephen Bannon will eine vereinigte Rechte in Europa, The Movement genannt, gründen. Wo steuern wir hin?
Das macht mir keine großen Sorgen. Bannon versteht Europa nicht und kommt bei Europäern nicht gut an. Das Pro­blem sind Orbán und Salvini, nicht der abgehalfterte Propagandist Bannon.

Sie sprachen von einer beunruhigenden politischen Situation. Was beunruhigt Sie am meisten an der österreichischen Regierung?
Nun, ein Beispiel von vielen: Solange die Außenministerin, die Putin zu ihrer Hochzeit geladen hat, nicht zurückgetreten ist, wird Österreich international als groteskes Land ohne Glaubwürdigkeit dastehen.

Was sagen Sie dazu, dass man die Untersuchungen gegen Udo Landbauer in der Causa der Liederbuch-Affäre eingestellt hat?
Ekel und Entsetzen. Auch angesichts des jungen Schweigekanzlers, der alles hinnehmen wird, solange er an der Macht bleibt.

Wie sehen Sie es, dass 46 Prozent der Österreicher die Haltung der Regierung zu Putin gutheißen?
Das soll man nicht überbewerten. Die Regierung hat ja gar keine klare Haltung zu Putin, insofern ist diese Fragestellung in statistischer Hinsicht diffus.

Letzte Saison wurde Ihr Stück „Heilig Abend“ am Münchner Residenztheater erfolgreich aufgeführt. Der dort noch amtierende Direktor Martin Kušej übernimmt 2020 die „Burg“. Werden Sie in Wien dann Ihre Stücke bei ihm an der „Burg“ herausbringen?
Die Aufführung am Residenz­theater war wunderbar und hat mich sehr glücklich gemacht. Ich plane aber zur Zeit allein schon deshalb kein neues Stück, weil ich an zwei unterschiedlichen Filmprojekten beteiligt bin, das schluckt all meine Zeit und Fantasie.

Sie leben derzeit in Amerika, dort regiert Trump, in Europa werden die Rechten stärker – wie blicken Sie in die nahe Zukunft?
Mit Hoffnung. Ich glaube fest, dass die Midterm Elections im November eine gewaltige Niederlage für die Republikaner bringen werden. Und dann wird ein demokratischer Kongress mit dem Impeachment von Donald Trump beginnen.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Printausgabe 35 2018