Stürmisches Erwachen in Zeiten des Virus

Was an dieser Stelle in umfänglichen Fragmenten schon nachzulesen war, erweist jetzt sein Format: Bogdan Roščić hat einen aufregenden Spielplan vorgelegt. Auch Einwände sind vorzubringen.

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Ich bin ja einer dieser Sonderlinge, denen es in der Oper auf die Regie nicht so ankommt. Das hat mit der ein Jahrtausend zurückliegenden Stehplatzzeit zu tun: Dass dem Kosmos, den Karl Böhm, Birgit Nilsson und Wolfgang Windgassen über einem Repertoire-"Tristan" errichtet haben, zur Vollkommenheit noch etwas fehlen könnte, wäre keinem in den Sinn gekommen. Wer für das blau-grün-schwarz gefleckte Gelatsche rundum ursprünglich verantwortlich war (Everding, glaube ich), weiß ich nicht einmal mehr sicher.

Es entspricht also gar nicht meiner Prioritätenliste, wenn ich mein auf Hochrechnungen begründetes Lob für den Spielplan des Staatsoperndirektors Bogdan Roščić mit dem Szenischen beginne. Von einem Tag auf den anderen (wann immer der anbrechen mag) wird der Schritt in die szenische Neuzeit getan. Zusehends lästig nämlich wurde zuletzt der angstgesteuerte Halbmodernismus, der die alte Stehtheater-Trostlosigkeit in Personenaufzügen ("Elektra") und hinter textilem Staubmilbenbefall ("Figaro") mumifiziert hat. Unter den großen Regisseuren, deren Schaffen Roščić zeigt, ist kein einziger Blender und Berufskrawallisierer: Neuenfels und Castorf sind das, Wieler, Kosky, Minghella, Serebrennikov, Tcherniakov, Stone, Lauwers, Calixto Bieito. Aber auch Kupfer, Ponnelle, Schenk, Zeffirelli, wo sie Zeitloses geschaffen haben (Zeffirellis aufgedonnerte "Carmen", die jetzt ersetzt wird, zähle ich nicht dazu).

»Quantensprünge im Szenischen, Klasse am Pult, junge, riskante Besetzungen«

Dass man sich für die Blitzreform auch exemplarischer auswärtiger Inszenierungen bedient, ist klug: Beschwerden darüber kommen typischerweise von gelangweilten Reisestarlets unter meinen Kollegen. Für den wachen, neugierigen Besucher werden diese Arbeiten neu sein. Zum viel Wichtigeren also. Mit dem Abgang des Generalmusikdirektors Franz Welser-Möst hatte sich vom Pult der Philharmoniker auch ein Stück Weltklasse verabschiedet. Diesem Zustand setzt Roščić ein Ende: Chefdirigent Philippe Jordan weilt vertraglich ein halbes Jahr am Dienstort, Welser-Möst übernimmt, fast eine Demonstration, Harry Kupfers aus dem Sperrmüll geborgene, geniale "Elektra", Thielemann kommt für "Ariadne auf Naxos".

Ob es gelingt, die beiden Letztgenannten dauerhaft ans Haus zu binden, wird über das Gelingen der nächsten Jahre mitentscheiden. Thielemann wurde von Provinzlern und Scharlatanen aus Salzburg intrigiert und ist demnächst zu Ostern dauerhaft frei. Man gewähre ihm, meinetwegen, auch konservativere Regisseure und biete ihm Koproduktionen mit Dresden an! Sinnvollerweise kommt auch Bertrand de Billy wieder, die personifizierte Kompetenz im französischen Fach. Simone Young, die gleich mit einer Henze-Premiere aufschlägt, fände ich persönlich im heimatlichen Australien besser aufgehoben.

Die Sänger also. Der hoch kantabel besetzte "Parsifal" mit Jonas Kaufmann, Tezier und der Garanča in ihrer ersten Wagner-Partie ist eine Ansage an die Weltklasse. Dass man Anna Netrebko in Barrie Koskys "Macbeth" und Kaufmann in den schon ikonisierten "Carlos" von Peter Konwitschny überreden konnte: Chapeau! Dass man für die eröffnende "Butterfly"-Premiere Asmik Grigorian verpflichtet hat, als ihre Vergöttlichung in der Salzburger "Salome" noch ein Dreivierteljahr bevorstand: abermals Chapeau, da waren Kenner am Werk! Viele Besetzungen sind riskant jung: Neben der Grigorian debütiert ein gelobter Neuling als Pinkerton, die "Onegin"-Premiere verspricht animierende Begegnungen. Der fulminante Juan Diego Flórez traut sich mit "Hoffmann" und "Faust" hoffentlich nicht zu viel. Was ich allerdings nicht goutiere, ist der Umgang mit Künstlern, die mit dem Haus eine große Geschichte verbindet: Thomas Hampson, Angela Denoke, Michael Schade fehlen. Tomasz Konieczny ist kaum eingesetzt. Und wo in der Saison einer "Elektra"-Premiere Nina Stemme bleibt, die Hochdramatische der Gegenwart: Das darf ich, mit einem Gruß nach Walhall an die göttliche Nilsson, doch nachfragen.

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