Gerhard Roth: "Da komme ich mir geschützt und vergessen vor"

Venedig sehen und schreiben. Zuletzt verlief die Reise des österreichischen Weltliteraten Gerhard Roth allerdings anders: Er hätte sie fast nicht überlebt. Ein Bildband und ein demnächst erscheinender Roman sind der Schicksalsstadt zugedacht. Aber das Leben konzentriert sich auf die Höhen der Südweststeiermark

von Kultur - Gerhard Roth: "Da komme ich mir geschützt und vergessen vor" © Bild: Ricardo Herrgott

Erst an den Touristen erstickend, heute an deren Ausbleiben verhungernd. Venedig ist für den großen österreichischen Romancier Gerhard Roth, 79, ein lebenslanger Sehnsuchtsort, der vor mehr als einem Jahr beinahe die letzte Station seiner Lebensreise geworden wäre: Eine Lungenentzündung erforderte sofortigen Rücktransport, und in der Intensivstation wurden noch weit gröbere Unzukömmlichkeiten diagnostiziert. Der große, mächtige Mann wirkt zerbrechlich. Den Feindseligkeiten des Lebens begegnet er mit unentwegtem Arbeiten in seinem Haus auf den Höhen der Südweststeiermark.

Die Chronologie seiner Neuerscheinungen ist kompliziert geworden: Ein prachtvoller Bildband des exzellenten Fotografen, Resultat vieler Venedig-Reisen, ist im Handel. Am 24. Februar folgt der hochliterarische Kriminalroman "Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe", der dritte und letzte Teil einer Venedig-Trilogie. Mittlerweile ist auch schon der apokalyptische Roman "Die Imker" zur Korrektur fertig. Er kommt nächstes Jahr zu Roths 80. Geburtstag. Und der Vertrag für einen weiteren Roman ist unterschrieben.

Herr Roth, wie geht es Ihnen in dieser herausfordernden Zeit?
Den Umständen entsprechend.

Wie darf man sich die vorstellen?
Ich bin vor eineinhalb Jahren in Venedig erkrankt, wurde mit einem Rettungsboot durch den Canal Grande ins Spital gebracht, von dem man übrigens durch ein Fenster auf den Friedhof San Michele sehen kann, und zwei Tage später mit dem Rettungswagen in ein Krankenhaus nach Österreich. Dort kam ich auf die Intensivstation, nachdem man eine Lungenentzündung festgestellt hatte. Im Verlauf der Nachuntersuchung hat sich dann ergeben, dass eine Magenoperation nötig war.

Und jetzt?
Ich habe mehr als 50 Kilogramm abgenommen. Es geht mir nicht besonders.

Waren Sie auch von Corona betroffen?
Im positiven Sinn. Ich habe meine Ruhe gehabt, und gestern Nacht war noch dazu Schneefall. Meine Gegend ist besonders schön, wenn rundherum Nebel oder Schnee liegt, da komme ich mir geschützt und vergessen vor. Ich brauche mit dem Auto fünf Minuten, bis ich im Wald bin. Dort gehe ich an den Fischteichen entlang und denke nach.

Gibt es Corona-Opfer in Ihrem Bekanntenkreis?
Nein.

Werden Sie sich impfen lassen?
Ich versuche, schon bald dranzukommen. Es ist absurd, dass ein Mensch, der mit 79 Jahren nicht im Altersheim und trotz erheblicher Erkrankungen berufstätig ist, noch keine Impfung bekommen kann. Es heißt, dass die EU zu spät und zu wenig Impfstoff angefordert hat. Anderswo sind schon Hunderttausende geimpft. Ich will ein relativ normales Leben aufnehmen und habe auch zu meinen neuen Büchern Interviewanfragen.

Sie haben aber schwere Allergien, etwa gegen Mandeln.
Die haben bisher bei keiner Impfung oder Operation eine Rolle gespielt. Für mich ist eine Impfung eine Selbstverständlichkeit, auch im Hinblick auf andere Menschen. Man kann nicht immer nur auf sich selbst schauen. Während der Pandemie hört man immer wieder die Begründung "Freiheit" gegen den "Impfzwang". Auch die Anhänger von Trump, die das Kapitol gestürmt haben, haben sich der Ausrede "Freiheit" für ihre Dummheiten bedient. Mit wenigen Worten wird so viel Unsinn getrieben wie leider mit dem Begriff Freiheit. Außer vielleicht mit "nachhaltig", dem inflationärsten Schwindelwort ... Man muss sich übrigens vor Augen halten, dass nicht jede Seuche "nachhaltig" aus der Welt geschafft werden kann. Ich beende gerade einen Roman über ein Thema, das mich seit Jahrzehnten beschäftigt.

Erzählen Sie!
Er heißt "Die Imker", und in ihm geht die Welt unter. Die Einzigen, die überleben, sind die geistig kranken Künstler aus Gugging. Die Bienen nehmen, so wie öfters in meinen Büchern, eine wichtige Rolle ein.

Lehren uns die Bienen da auch etwas über die Pandemie?
Sicher. Die Europäische Honigbiene, Apis mellifera, ist seit 120 Jahren von der Varroa-Milbe, Varroa destructor, bedroht. Die Milbe ist ein 1-2 mm großes Spinnentier, aber sie gehört für mich zur Mikrowelt. Ihren Durchbruch hat erst in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts ein DDR-Team verursacht, das nach Russland geflogen ist, um die europäische mit der asiatischen Biene zu kreuzen. Nach der Rückkehr ist vermutlich ein kleiner Schwarm der von der Milbe befallenen asiatischen Bienen entkommen und hat auf dem Höhepunkt, das war 1986,50 Prozent der Bienen in Thüringen über den Winter zerstört. Bis heute müssen die Bienen vor jedem Winterschlaf z. B. mit Ameisensäure gegen die Milbe behandelt werden. Der Ausfall beträgt trotz intensiver Forschung nach einem Gegenmittel immer noch 20 Prozent. Das heißt, es gibt keine Garantie, eine Seuche "nachhaltig" zu besiegen. Wir brauchen die Mikrowelt ja, wir würden ohne sie gar nicht leben, weil sie auch unsere Immunfaktoren enthält. Mit anderen Worten: Wir müssen uns mit ihr abfinden. Seit der Globalisierung kommt jede Mutation eines Virus in Kürze über den ganzen Erdball.

Und was tun?
Auszurotten wird das Virus nicht sein, so wie auch das Grippe-Virus, gegen das man sich jedes Jahr neu impfen lassen muss. Es können auch noch weit schlimmere Epidemien kommen. Denken Sie an die Pest, die Cholera, die Pocken, die Kinderlähmung ... Wir müssen uns also mit der Mikrowelt arrangieren und neu zu denken beginnen. Derzeit ist alles aus den Ufern gelaufen: die Globalisierung, die Gier nach Geld. Der Mensch ist ja ein Goldgräber ersten Ranges, doch mit der Gewinnung von Rohstoffen geht immer auch die Zerstörung von Natur einher. Das muss überdacht werden. Ich glaube aber nicht, dass der Mensch das macht. Das Gier-Element ist größer als das Element, das es möglich macht, uns als Teil eines lebendigen Erdkörpers zu empfinden, den wir allmählich zerstören.

"Venedig: Ein Spiegelbild der Menschheit" gibt es hier*

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Hatten Sie selbst starke finanzielle Ausfälle wie viele Ihrer Kollegen, die zu verzweifeln beginnen?
In meinem Alter mache ich keine Lesungen und keine öffentlichen Auftritte mehr. Deshalb bin ich weniger betroffen, und ich werde auch nicht um finanzielle Hilfe ansuchen, weil es andere gibt, die sie dringender benötigen als ich.

Tut die Regierung denn genug für die Kultur?
Die Kultur muss sich immer selbst bemerkbar machen, niemand meldet sich für sie sonst zu Wort. Es gab jetzt ein paar Initiativen, die den Künstlern Geld gebracht haben. Aber es besteht keine Garantie, dass es so weitergeht. Die Künstler sind in der Gesellschaft weitgehend benachteiligt. Keine Partei hat sich um sie ernsthaft bemüht, man sieht immer nur die gutverdienenden Ausnahmen.

Sind Sie selbst pensions-und krankenversichert?
Ich habe meine gesamten Archivalien, Aufzeichnungen und Fotografien - auch die zukünftigen -, die zur Arbeit gehören, vor bald 20 Jahren an den Staat verkauft und das Geld in einer monatlichen Zahlung angelegt.

Die erhält Sie gut?
Ich kann davon leben. Das Schreiben geht ja weiter und meine Frau hat eine Pension, da sie bis zum 60. Lebensjahr gearbeitet hat. Krankenversichert war ich immer, darauf habe ich geachtet, auch in der Zeit, als ich schlecht verdient habe. Pensionsversicherung konnte ich mir damals keine leisten.

Nun sind Sie Jahrgang 1942, haben also die übelste Zeit unserer Geschichte noch erlebt. Wie ordnet sich denn da die Corona-Krise in ihrer Wertigkeit ein?
Es war damals viel härter. Ich habe bestimmte Bildfragmente der beiden letzten Kriegsjahre im Kopf. Ich sehe immer noch das Flugzeug, das auf uns geschossen und einige der Fahrgäste getroffen hat, als wir auf der Flucht vor den Bomben aus der Eisenbahn stiegen. Oder als wir in Deutschland, nachdem die Eisenbahn bei Nacht stehengeblieben war, zusehen mussten, wie Würzburg bombardiert wurde. Mein Vater hat in der Nähe von Mainbernheim in einem Lazarett gearbeitet und meine Mutter ist mit meinen beiden Brüdern und mir dorthin geflüchtet. Es war kalt, wir hatten keinen Brennstoff. Die Erfahrungen, die bis in die 1950er-Jahre hineinreichten, haben mich geprägt.

Kommen wir zu Ihrem Werk. Der Venedig-Bildband zeigt doch Ihren lebenslangen Sehnsuchtsort, der jetzt fast tot daliegt, nicht?
Es geht um den Untertitel: "Ein Spiegelbild der Menschheit". Da nimmt die negative Seite des Menschen auch eine größere Rolle ein. Venedig war häufig von der Pest betroffen, es gibt darüber ein großartiges Archiv, in das ich Einsicht nehmen durfte. Es werden auch die Gefängnisse und die Hinrichtungsstätten behandelt. Zwei Säulen des Arkadenganges im ersten Stock des Dogenpalastes sind rot angestrichen. Zwischen ihnen wurden die Todesurteile verkündet. Die Delinquenten wurden dann auf der Piazetta zwischen den bekannten Säulen mit dem Heiligen Theodor und dem Markuslöwen entsprechend dem Urteil gehäutet oder allen Grausamkeiten der Folter unterzogen, bevor sie geköpft wurden. Viele Venezianer gehen deshalb nicht zwischen diesen Säulen hindurch.

Sie sind einer der politischesten Autoren des Landes. Wie gefällt Ihnen denn unsere Regierung?
Ich habe mich von der Politik zurückgezogen, weil ich meine schriftstellerische Arbeit zu Ende führen will. Es war eine Entscheidung, die ich lange mit mir herumgetragen habe. Als ich jünger und gesünder war, konnte ich die unbezahlte Öffentlichkeitsarbeit machen und habe auch den Streit und den mit ihm verbundenen Hass ausgehalten. Jetzt ist die Zeit knapper geworden.

Die Flüchtlingsthematik geht aber über das Politische hinaus. Wie gefällt Ihnen denn das Agieren speziell der Grünen im Zusammenhang mit Moria?
Es ist eine einzige Katastrophe, die Grünen waren vom Ehrgeiz getrieben, in die höchsten politischen Ämter aufzusteigen. Sie haben sich vorher als die strengsten Richter über die kleinsten Mängel aufgespielt und machen sich jetzt in Griechenland wichtig, um anderswo wegsehen zu können. Das sind Scheingefechte, von denen ich bitter enttäuscht bin.

Man macht ein großes Theater um die Flüchtlinge in Griechenland, dabei sind die meisten Flüchtlinge, wo sie gerade auch sind, arm, jetzt gerade die in Bosnien. Die EU hat es bisher versäumt, eine Flüchtlingspolitik auf den Weg zu bringen. Es beginnt mit Ungarn und Polen, die keine Flüchtlinge aufnehmen und trotzdem weiter finanziell von der EU gefördert werden. Dass jemand wie Orbán innerhalb der EU möglich ist, kann ich nicht akzeptieren. Die EU wird für mich eine immer größere Enttäuschung, auch weil sie auf dem Kultursektor keine Aktivitäten setzt. Wir sehen keine Förderung für Übersetzungen von Büchern in alle Sprachen der europäischen Länder, wir wissen nicht, was in der Kunst anderer europäischer Länder vor sich geht, es gibt keine Ausstellungen weniger bekannter europäischer Maler und kein europäisches Filmzentrum nach der Art von Hollywood oder der bedeutungslos gewordenen Cinecittà in Rom. Vor allem aber gibt es in Europa noch immer keine einheitlichen Sozialgesetze, es geht nur um die Wirtschaft, um das Geschäft. Die sich häufenden Fehler werden auch kaum von Befürwortern der EU kritisiert, weil die EU offenbar sakrosankt ist.

Wann erscheint nun Ihr nächster Roman, und worum geht es? Es handelt sich wohl um den dritten Teil Ihrer Venedig-Trilogie?
Ja. Der Titel lautet "Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe" - ein Shakespeare-Zitat. Das Buch erscheint am 24. Februar und ist ein Kriminalroman. Zum ersten Mal ist meine Hauptfigur eine Frau. Das war beim Schreiben ein großartiges Erlebnis. Die übrigen Personen sind weitgehend die gleichen wie in den beiden anderen Teilen, und es wird sich am Ende herausstellen, warum ich den Commissario ins Zentrum der Trilogie stelle.

»Ich bin privilegiert mit meinem Alter und der Arbeit. Ich habe meine Endlichkeit akzeptiert«

Nun beenden Sie schon bald den übernächsten Roman, "Die Imker". Hält Sie dieses unablässige Schaffen inmitten gesundheitlicher Feindseligkeiten am Leben?
Ich kann mir mein Dasein nicht anders vorstellen als arbeitend. Es wäre für mich kein Leben, wenn ich mich nicht in die Innenwelt zurückziehen könnte.

Bereitet Ihnen das Wissen um die Endlichkeit Angst?
Nein. Ich bin ohnehin privilegiert mit meinem Alter und der Arbeit, die ich machen kann. Ich akzeptiere das Ende, weil alle Menschen sterben müssen. Mir tun diejenigen leid, die jung sterben und nicht zur Vollendung ihres Lebens gekommen sind. Und die vielen Menschen, die arm sind und unter schwierigsten Umständen leben und arbeiten müssen. Ich habe meine Endlichkeit nach dem körperlichen Zusammenbruch in Venedig akzeptiert, als ich nach einer Biopsie und der Diagnose 15 Minuten allein mit mir war. In dieser Zeit ist mir klar geworden, wie lächerlich es wäre, in Verzweiflung zu verfallen. Denn im Vergleich zum Gesamten ist es überhaupt nichts. Ich war keinen einzigen Tag depressiv. Ich lese viel, schreibe und habe noch Ideen. Bei meinem Verlag S. Fischer habe ich im vergangenen Herbst einen Vertrag für ein weiteres neues Buch unterschrieben.

Nach dem Imkerroman?
Ja, nach dem "Weltuntergang". Ich werde sehen, wie weit ich damit komme.

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