Faust: Triumph
der Sinnlichkeit

Frank Castorfs Inszenierung von Gounods „Faust“ prunkt mit ihrer faszinierenden Bilderwelt und einem brillanten Ensemble an der Wiener Staatsoper.

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Kritik - Faust: Triumph
der Sinnlichkeit © Bild: Wiener Staatsoper/Michael Plöhn / Im Bild: Nicole Car (Marguerite) und Juan Diego Flórez (Faust)

Eine Telefonzelle, ein Café, eine mysteriöse Gemischtwarenhandlung, ein Getränkeautomat und die Metro-Station Stalingrad zu Ebener Erde und im ersten Stock, ein Fragment von Notre-Dame und Gretchens Zimmer rotieren auf einer Drehbühne (Aleksandar Denić). Videos zeigen verstörende Bilder von Liebe und Lust, von trügerischer Idylle aus der Werbung, von Krieg und brutalen Schlachten. Frank Castorf, Regie-Gigant und einer der wirklichen Erklärer großer Weltliteratur, zeigt nun in Wien seine 2016 in Stuttgart gefeierte Inszenierung von Charles Gounods „Faust“.

Da der Gounod’sche Faust mit dem Doktor von Goethe nur sehr wenig gemeinsam hat, verlegt Castorf die Geschichte nach Paris. Da ist ein alter Mann, der sich nach Liebe, nach dem Genuss im Leben sehnt und sich dafür dem Teufel verschreibt. Der ist bei Castorf ein Voodoo-Zauberer, der sich seine Spielfiguren, Faust und Margarethe, aussucht.

© Wiener Staatsoper/Michael Plöhn Im BIld: Nicole Car (Marguerite) und Étienne Dupuis (Valentin)

Die Geschichte ist klar und packend erzählt. Castorf aber bereichert das Geschehen mit einer philosophischen Unterlage, blendet Texte über Partisanen ein, lässt Rimbaud zitieren und zeigt verstörende Bilder via Live-Kamera, die historische Kontexte herstellen. So etwas kehrt Margarethes Verehrer Siebel mit blutigen Füßen aus dem Algerienkrieg zurück, Valentin, ihr Bruder ist Soldat und Kämpfer, der mit blutroten Lettern die Aufschrift Stalingrad in der U-Bahnstation mit „Algerien ist französisch“ übermalt. Man kann all diese Kontexte, diese Verweisungen annehmen, weiterdenken und darüber mit sich selbst philosophieren, muss man aber nicht.

Nicht minder faszinierend ist es, sich diesem Rausch, dieser Sinnlichkeit dieser überwältigenden Bilderwelt einfach hinzugeben. Denn da stimmt alles perfekt mit der Musik von Gounod überein. Akkurat sind die Chöre inszeniert, als Grisetten, als Soldaten oder brave Fähnchen schwenkende Bürger. Da sind es die Details, die aufmerken lassen. Beim schnellen Hinsehen glaubt man, das Rot-Weiß-Rot als Anspielung auf Österreich zu dechiffrieren, was beim zweiten Blick eine Coca-Cola-Fahne ist. Castorf zeigt seine Meisterschaft im Verrätseln und im Entschlüsseln. Etwa, wenn er ein Video einblendet, das den dichten, nächtlichen Abendverkehr rund um den Pariser Triumphbogen und am Prachtboulevard Champs-Élysées zeigt, mag das für die einen, die sein Werk kennen, die Abbildung des Kapitalismus sein, für die anderen purer Genuss einer pulsierenden Großstadt.

Das Faszinierende ist, dass bei Castorf alles seinen Platz hat. Da ist kein Video zu viel, kein Detail ohne Sinn und jede der Figuren kann ihre eigene Geschichte erzählen.

© Wiener Staatsoper/Michael Plöhn Im Bild: Nicole Car (Marguerite) und Juan Diego Flórez (Faust)

Brillantes Ensemble

Das ist möglich, weil Castorf mit einem brillanten Ensemble von herausragenden Singschauspielern arbeitet. Juan Diego Flórez spielt den alten, von Zittern und Kreuzschmerzen geplagten Faust, der sich zum strahlenden, jungen Mann wandelt mit Präzision. Da stimmt alles. Sein Rollendebüt lässt in jeder Hinsicht aufmerken. Mit seiner leichten Tenorstimme bewältig er diese Partie unfassbar intensiv. Nicole Car spielt und singt die Margarethe fulminant. Sie zeigt eine Frau, die das Leben und die Liebe kennt. Ihr kraftvoller Sopran ist überwältigend. Als Schauspielerin gibt sie alles und agiert auf Videos sogar mit echten, lebendigen mit Schlangen.

© Wiener Staatsoper/Michael Plöhn Im Bild: Nicole Car (Marguerite) und Juan Diego Flórez (Faust)

Adam Palka schöpft als Mephisto das Potential seiner Bassstimme bis an die Grenzen aus. Ein veritabler Singschauspieler ist Étienne Dupuis. Er lässt als Valentin die reichen Facetten seinem schön timbrieten Baritons hören und agiert exzessiv. Kate Lindsey ist eine echte Luxusbesetzung als Siebel. Monika Bohinec und Martin Häßler komplettieren sehr gut als Marthe und Wagner.

© Wiener Staatsoper/Michael Plöhn Im Bild: Étienne Dupuis (Valentin)

Bertrand de Billy am Pult des Staatsopernorchesters lässt die Produktion auch musikalisch zum Ereignis werden. Da ist die Qualität dieses einzigartigen Orchesters, der Wiener Philharmoniker, zu hören. Üppig, süffig, rauschhaft exzessiv und fein nuanciert. Auch da triumphiert die Sinnlichkeit.

In Radio Ö1 am 1. Mai um 19.30 Uhr, auf ORF III am 9. Mai ab 20.15 Uhr.