Kollektive Depression - und wie man sie überwindet

Tipps von Psychiater Georg Psota

Der Leiter der Psychosozialen Dienste Wiens, Georg Psota, erklärt, warum wir in der Corona-Krise öfter zurückblicken sollten, warum Lachen hilft und wann wir bei Angst und Sorgen professionelle Hilfe suchen sollten

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Krisenpsychologie - Kollektive Depression - und wie man sie überwindet
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Georg Psota, geboren 1958, ist Chefarzt der Psychosozialen Dienste in Wien und derzeit auch Leiter des Psychosozialen Corona- Krisenstabs der Stadt. Autor von "Das weite Land der Seele. Über die Psyche in einer verrückten Welt"(2016),"Angst. Erkennen -Verstehen - Überwinden" (2018) sowie zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen.

Eine Beobachtung. Ich habe einer alten Dame auf der Straße zugelächelt. Sie hat gesagt: "Man sieht ja heute gar niemanden mehr lächeln." Das stimmt. In welcher seelischen Verfassung sind wir im zweiten Jahr Corona?
Es ist eine kollektive Deprimiertheit. Bei manchen auch beträchtliche Zeichen von Gereiztheit. Es gibt aber auch Menschen, denen es gelingt, mit einem Lächeln mit der Situation umzugehen. Daher finde ich es ganz großartig, wenn Sie die alte Dame angelächelt haben. Es kam ja auch gleich eine nette Reaktion zurück.

Ein Aufruf: mehr Lächeln?
Das ist in dieser Situation viel verlangt - schon klar. Aber andererseits: Es ist immer eine Frage der Betrachtungsweise. Das Wetter ist schön, der Frühling ist da. Es gibt einiges, worüber man sich freuen darf. Sicher geht es uns besser, wenn wir einander anlächeln, auch wenn das hinter der Maske schwierig ist. Freundlich und respektvoll miteinander zu sein, ist wichtig. Übrigens ist der Umstand, dass wir uns hinter der Maske nicht lächeln sehen können, wirklich ein Nachteil. Durchsichtige Masken hätte ich gern. Aber auch ein freundliches Zunicken kann schon einen positiven Effekt haben.

Die aktuellen Ausgangsverbote machen das Anlächeln aber schwierig.
Aber wir haben es bald hinter uns. Es ist gut, wenn wir uns vor Augen führen, was wir schon geschafft haben. Ich muss zugeben: Sie treffen mit mir auf einen fast schon penetranten Optimisten, weil ich glaube, dass es wirklich notwendig ist, dass wir jetzt unsere freundlichen Affekte wecken. Das Gegenteil wären ja kollektiver Streit, Ärger und Deprimiertheit. Da könnten wir uns dann alle gegenseitig beweinen und beflegeln. Das bringt ja nix.

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Man sollte also in der Corona-Krise lieber zurückschauen als nach vorne?
Nicht unbedingt, aber wenn ich ein Jahr zurückdenke: die Unklarheit - was ist da los? Wie unsicher ist das alles? Wie funktioniert dieses verflixte Virus überhaupt? Die unmittelbare Angst vor dem Virus war damals noch viel größer. Eine Impfung war in weiter Ferne.

Alle haben gedacht, die Entwicklung eines Impfstoffs würde Jahre dauern.
Genau. Sie sprechen mit einem, der schon geimpft ist, weil ich als Arzt Patientinnen und Patienten habe. Es ist gut, dass es die Impfung gibt, und ich wünsche sie möglichst vielen möglichst bald. Und ich wünsche mir, dass möglichst viele sie annehmen. Die Impfung ist ein Geschenk, das vor einem Jahr nicht abzusehen war.

Sie haben im Herbst eine Untersuchung präsentiert, die auf dem ersten Lockdown beruhte: 25 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher spürten depressive Symptome. Wie sieht es heute aus?
Es dürfte sich Richtung 30 Prozent bewegen. Wobei das nicht heißt, dass das immer die gleichen Personen sind. Es gibt Menschen, die mit dem ersten Lockdown extrem schlecht zurande gekommen sind und denen es jetzt besser geht. Und es gibt Menschen, die mit der fortwährenden Dauer nicht gut zurechtkommen. Verschiedene Gruppen der Bevölkerung sind unterschiedlich stark betroffen. Am schlimmsten ist es für die Gruppe der 15-bis 25-Jährigen. Für die müssen wir uns jedenfalls auch etwas einfallen lassen. Nicht nur für sie, sondern auch mit ihnen. Es wäre sehr wichtig, dass die in die Diskussion der Möglichkeiten mehr eingebunden werden. Im Gegensatz zu den Schülerinnen und Schülern, die mittlerweile wahrgenommen werden, hat diese Gruppe gar keine Lobby. Ja, und dafür müssen wir sorgen. Diese Menschen müssen mehr gehört werden. Worunter leiden die Jugendlichen am stärksten? Bei einer Untersuchung Anfang dieses Jahres, die von der Wiener Kinder und Jugendpsychiatrie mit der Donau Uni Krems gemacht wurde, hat es bei Parametern, die die Depressivität messen, wirklich hohe Werte gegeben. Mehr als die Hälfte waren in einem signifikanten Ausmaß von depressiven Belastungsreaktionen betroffen.

»Sie treffen mit mir auf einen fast schon penetranten Optimisten«

Brauchen sie ärztliche oder psychotherapeutische Hilfe?
Das kann im Einzelfall sein. Früher gab es bei zwölf Prozent erhöhte Depressivitätswerte, jetzt bei über 50 Prozent. Das heißt aber nicht, dass die alle eine Behandlung brauchen. Aber es gibt eine große Zahl von Jugendlichen, die durch den Strukturverlust ins Strudeln kommen, die Schwierigkeiten mit dem Tag Nacht Rhythmus haben. Ehemalige Vorzugsschülerinnen und Schüler, die praktisch nur mehr liegen und zur Nahrungsaufnahme aufstehen. Das ist ein Zustandsbild, da braucht es professionelle Hilfe, und man sollte nicht zögern, diese in Anspruch zu nehmen. Man könnte aber auch schon vielfrüher die vielen Telefonberatungsangebote nützen und einiges erreichen.

Welche Corona Maßnahmen müsste man überdenken, damit es den Jungen besser geht? Sie haben Kontaktverbote, Zukunftsängste und werden beschimpft, wenn sie sich am Donaukanal treffen.
Wir müssen aus dieser Dialektik raus: "Die Maßnahme X kippen, und dann ist alles wiedergut." Denn das stimmt so nicht. In dieser Gruppe sind unglaublich viele sehr verantwortungsvoll, haben große Sorgen, dass sie das Virus nach Hause bringen. Viele Jugendliche machen bei allen Maßnahmen ohne hin sehr mit. Es geht um etwas anderes: Man muss ihre Sorgenernst nehmen und ihnen ein Sprachrohr geben, damit es nicht sprachlose Sorgen bleiben. Und zweitens: Es steht schon länger an, dass wir uns bei diesen Menschen einfachbedanken. Ihr macht das großartig! Und der dritte Aspekt: Durch Schulschließungen etc. kommt es zu unglaublichen Vereinzelungen. Denen müssen wir konzertiert entgegenwirken. 16 Jährige können Mittechnischen Dingen tausendmal besser umgehen als ich. Die sind in der Lage, digitale Großgruppenveranstaltungen zu organisieren. Aber sie brauchen Plattform und Animation dazu. Es geht darum, mit ihnen gemeinsam zu erkunden, was sie tun können. Was sie nicht dürfen, wissen sie eh. Für sie geht es darum, einen Stolz zu entwickeln, dass sie es als Generation nicht gerade leicht haben, sich aber gegenseitig unterstützen und das Beste daraus machen. Dafür braucht es öffentliche Wahrnehmung.

Sie haben die Schulschließungen erwähnt: Das stresst Kinder und die Eltern, weil sie Angst vor dem sozialen Abstieg der Kinder haben.
Die Eltern spielen eine wichtige Rolle. Ihre Sorgen und Ängste können sich stark auf die Kinder auswirken, keine Frage. Das ist den Eltern, die ohnehin neben Homeschooling und Homeoffice Sorgen haben, aber nicht vorzuwerfen. Ich empfehle den Eltern, sich zu entlasten und bei einer der Hotlines anzurufen und sich ein bissel was von der Seele zu reden. Die Eltern sind nach diesem schwierigen Jahr einfach erschöpft. Nur bringt es nichts, wenn wir uns die ganze Zeit sagen: "Ach, wir sind so erschöpft." Nein: Wir sind super! Wir haben schon ganz viel hinter uns. Jetzt schauen wir auf die nächste Etappe.

Was ist für die Seele schlimmer: Horrorszenarien von vollen Intensivstationen oder Hoffnungsversprechen, die nicht eintreten -"Licht am Ende des Tunnels"?
Hoffnungsszenarien zu zeichnen, die nicht eintreten, halte ich für etwas ganz, ganz Ungeschicktes. Das ist nicht nur meine private Meinung. Da sind sich alle Experten einig. Es ist gescheiter, zu sagen, okay, diese Maßnahmen sind so lang notwendig, diesen Zeitraum vielleicht sogar ein Stück auszudehnen, um dann sagen zu können: "Okay, jetzt brauchen wir das nicht mehr." Das Umgekehrte ist der psychisch schwieriger zu verkraftende Weg. Wenn man nach einer zu kurzen Maßnahme sagt, das wird noch verlängert, ist das psychodynamisch nicht günstig. Es geht auch nicht, jetzt zu sagen, im Sommer ist alles vorbei, weil so wird es nicht sein. Leider. Aber Faktum ist: Wenn wir bis zum Sommer eine große Durchimpfung erreichen, dann wird es um Eckhäuser leichter, und das ist doch etwas Feines. In der Psychologie gibt es etwas, das heißt "finales Denken". Menschen, die depressiv sind, sind erst wieder froh, wenn alles hundert Prozent so gut ist, wie es vorher war. Davor ist alles für sie schlecht, sogar 99 Prozent. Von diesem Denken rate ich stark ab. Jedes Prozent besser ist besser. Ein schwer Depressiver kann nichts dafür, wenn er so denkt, aber das sind wir als Gesamtgesellschaft nicht. Wir können uns vor Augen führen, was wir beim Impfen und Testen erreicht haben. Ich finde großartig, dass es das gibt. Das gehört genützt. Wir können es uns sogar leisten.

Im Zusammenhang mit dem Impfen wurde zuletzt das Wort "Impfneid" geprägt. Wie steht es um den Zusammenhalt der Gesellschaft?
Im ersten Lockdown war der wirklich hoch. Jetzt dauert das schon so lange, es gibt viel Gegeneinander -auch öffentliches, das färbt ab. Verzeihen Sie, wenn ich es sage: Auch die Medien haben ihren Anteil daran.

Ich hatte die Frage vorbereitet: Trägt Medienkonsum zu dieser Stimmung bei?
Sicher. Wenn ich mir fünfmal am Tag schlechte Nachrichten reinziehe, spielt das eine Rolle. Mein Aufruf an die Medien ist, viele wirklich positive Nachrichten zu bringen.

Gute Corona-Nachrichten oder Corona-freie?
Ein Corona-freies Heft, ich weiß nicht, ob sich das verkauft. Aber man kann ja Corona-freie Teile machen. Oder dem Thema etwas Kreatives abgewinnen. Zum Beispiel: Jetzt gehen so viele Menschen spazieren. Warum macht nicht jeder ein Foto, und viele machen dann gemeinsam das coolste Fotobuch oder eine tolle Präsentation? Und noch etwas zur Politik: Jede Diskrepanz, wurscht, welcher Parteien oder Gruppen, wird sofort in eine starke Dialektik gebracht. Das ist letztlich nichts anderes als eine fortwährende Spaltung. Auf diese Weise werden wir nicht mehr zusammenhalten. Das ist ein Aufruf zu Solidarität auf vielen Ebenen, auch auf der Ebene der Gesellschaft, dass man sich gegenseitig hilft.

Unsere Ängste, die Gereiztheit - geht das von selber weg, wenn sich das Leben wieder normalisiert? Ab wann braucht man Hilfe?
Hilfe muss man sich holen, wenn man die eigene Struktur so verliert, dass man nicht mehr aufkommt. Wenn man hartnäckige Schlafstörungen hat und kaum noch aufstehen kann. Wenn man nur mehr mit Mühe mit anderen Menschen Schönes teilen oder Interesse für andere aufbringen kann. Freud hat gesagt: "Dass man nicht mehr lieben und arbeiten kann." Wenn es so weit ist, dass das kaum mehr gelingt, ist es Zeit, sich bei einer Corona-Hotline professionell beraten zu lassen.

Aber wenn das nicht der Fall ist, können wir darauf bauen, dass es uns besser gehen wird?
Mit einem Gesamtaufschwung werden auch diese Dinge vorbeigehen. Wenn es Einzelne gibt, die wirklich Hilfe brauchen, können auch sie sich wieder erfangen.

Wenn Sie sich nach Corona etwas für Ihre Arbeit wünschen könnten, was wäre das?
Ich wünsche mir eine Atmosphäre des Miteinanders. Aus so einem Gemeinschaftsgefühl als Antwort auf die Krise kann sich unglaublich viel entwickeln. Im spezifisch psychiatrischen, psychologischen und psychotherapeutischen Bereich wäre mein Wunsch eine Entstigmatisierung der Behandlungen. Insofern ist die Corona-Zeit auch eine Chance: Man darf jetzt über die Psyche reden. Es darf sie geben.

Das kann bleiben.
Genau. Man darf zu seinen Leiden stehen. Es ist großartig, wie viele Menschen sich erfangen, die in einer Krise waren. Aber das ist viel zu wenig bekannt, weil es so stigmatisiert ist. Es darf sein, dass es einem einmal schlecht geht. Und dabei kann es auch sein, dass man sich wieder erfängt.

Österreichweite Nummern: Telefonseelsorge (142) Ö3-Kummernummer (11 61 23) Rat auf Draht (147) anonym und kostenlos

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der News Ausgabe Nr. 14/21

Kommentare

Menschen ihre Sorgen zu erleichtern, indem man ihnen - wie im Artikel erwähnt - ein Sprachrohr gibt, ist sicherlich besser als der Weg der klassischen Psychiatrie, einfach alles mit Psychopharmaka zu betäuben.

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