Die Krimtataren

Opfer und Täter

von Sängerin Jamala © Bild: Carlos Alvarez/Getty Images

Wenn Fremde kommen, kommen sie zu eurem Haus, sie töten euch alle und sagen, wir tragen keine Schuld, keine Schuld". So beginnt das Lied "1944", mit dem die 32-jährige Jamala - Sussana Dschamaladinowa ist ihr Name - 2016 den 61. Eurovision Song Contest gewann. Für viele ein wichtiges, politisches Signal und weniger ein Preis für die besondere Melodie dieser Präsentation. Der Text erinnert nicht nur an das Schicksal der Krimtataren ein Jahr vor Ende des Zweiten Weltkriegs, sondern an Jamalas eigene Familiengeschichte.

Ihre Urgroßmutter überlebte die Verschleppung der Krimtataren nach Usbekistan und Kirgisistan. Jamala wurde 1983 in Osch in Kirgisistan geboren und kehrte mit ihren Eltern 1991 -50 Jahre nach der Vertreibung ihrer Familie -auf die Halbinsel Krim zurück. In einem Interview erklärte Jamala: "Es geht um meine Familie, meine Vergangenheit und meine Wurzeln. Es ist kein frei erfundener Text oder der Versuch, die jetzige Politik zu kommentieren. Die Worte kommen aus der Erinnerung meiner Kindheit und gehen noch viel weiter zurück."

Geheime Vorbereitung

Am 18. Mai 1944 veröffentlichte die Sowjetische Führung folgende Erklärung: "Viele Krimtataren haben während des Vaterländischen Kriegs die Heimat verraten, sind von der Roten Armee desertiert, ins feindliche Lager übergelaufen und den deutschtatarischen Militäreinheiten beigetreten; die Krimtataren waren als Mitglieder der deutschen Truppen berüchtigt wegen ihrer brutalen Massaker an den sowjetischen Partisanen und haben den Deutschen bei der Versklavung sowjetischer Frauen und Männer und Massenvernichtung der sowjetischen Bevölkerung geholfen."

In einer geheim vorbereiteten, überfallsartigen Aktion stürmten im Morgengrauen dieses 18. Mai Soldaten des sowjetischen Geheimdienstes die Häuser und Wohnungen der Krimtataren und gaben den Bewohnern 15 Minuten Zeit, ihre wichtigsten Habseligkeiten und Proviant zu packen. 500 Kilogramm wurden jeder Familie erlaubt, mitzunehmen. Völlig unvorbereitet kam es zu chaotischen Szenen, was konnten sie in 15 Minuten vorbereiten? Sollten sie Kleider, Möbel oder Lebensmittel mitnehmen?

32.000 Soldaten des sowjetischen Geheimdienstes nahmen daran teil. 285.000 Menschen -hauptsächlich Frauen und Kinder, die Männer waren an der Front - wurden innerhalb von zwei Tagen mit Lastkraftwagen zum Bahnhof gebracht, in 70 verschlossene, fensterlose Viehwagons eingesperrt und auf verschiedene Orte in Usbekistan und Kirgisistan verteilt. Tausende überlebten die Fahrt nicht, erstickten, verhungerten, verdursteten oder wurden in der zusammengepferchten Menge erdrückt.

Tamara Protasowa beschrieb diesen Terror: "Bis an mein Lebensende vergesse ich nicht diese Demütigung, als wir in die Waggons gedrängt und Tage und Nächte ohne Essen und Getränke wie Tiere transportiert wurden. Rund um mich sind Menschen gestorben. Während der kurzen Aufenthalte haben die Soldaten die Leichen aus den Waggons geworfen. Es gab keine Zeit, sie zu beerdigen. Mit einem Hupsignal der Lokomotive ist der Zug weitergefahren. Sie ließen die Toten einfach liegen."

Freiheit und Krieg

Nach der Gründung der Sowjetunion im Jahr 1922 respektierte die Parteiführung für eine kurze Zeit die Traditionen der Krimtataren. Es erschienen Zeitungen und Magazine. Museen, Bibliotheken, Radiostationen und Theater wurden gegründet. Krimtatarisch war neben Russisch offi zielle Amtssprache der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Krim. 1927 beendete Stalin diese Periode der Freiheit und Selbstverwaltung. Kulturelle Einrichtungen und Publikationen wurden verboten. Selbst ihre traditionelle arabische Schreibweise musste mit der kyrillischen ersetzt werden.

Mit dem Überfalls der deutschen Truppen auf die Sowjetunion begann eine widersprüchliche und zum Teil wenig heroische Epoche der neueren Geschichte der Krimtataren. Ein Teil der Männer kämpfte in der Roten Armee gegen die Wehrmacht oder schloss sich dem illegalen Widerstand gegen die Deutschen an. Manche bekamen die höchsten Auszeichnungen der Roten Armee; der Pilot Amet-Han Sultan wurde zweimal als "Held der Sowjetunion" geehrt.

Befreiung

Der Großteil der Bevölkerung empfing die Wehrmacht 1941 jedoch als "Befreier" nach jahrelanger sowjetischer Unterdrückung. Etwa 20.000 muslimische Krimtataren, fast sieben Prozent der gesamten krimtatarischen Bevölkerung, meldeten sich zur Wehrmacht, doppelt so viele, wie zur Roten Armee eingezogen worden waren. Die krimtatarischen Einheiten übernahmen die Aufgaben der Sicherheitsdienste in den besetzten Gebieten, organisierten ein Spitzelsystem und beteiligten sich im Kampf gegen Partisanen.

In den deutschen Gefangenenlagern rekrutierte die Lagerverwaltung Soldaten der Roten Armee für die Wehrmacht und die neu gegründete SS-Einheit "Tatarische SS-Waffen-Gebirgs-Brigade Nr. 1". Die große Anzahl der Freiwilligen unter den Krimtataren konnte die Verluste der Deutschen 11. Armee teilweise ausgleichen. Ein Viertel der jungen Männer, die auf beiden Seiten der Front kämpften, überlebte den Krieg nicht.

Sklavenhandel

Über die Herkunft der Krimtataren existieren verschiedene Theorien. Sie gehören zu den turksprachigen Völkern in Gebieten von der Mandschurei bis zur Türkei. Wahrscheinlich repräsentieren sie einen Schmelztiegel der zahlreichen Eroberer der Krim wie Mongolen, Chasaren, Griechen, Iraner, Hunnen, Bulgaren, Venezianer und Genueser.

Eine andere Theorie besagt, sie seien Nachkommen der Kiptschaken, die im Zuge der mongolischen Eroberung ein eigenständiges Khanat -ein Staatsgebilde türkischer und mongolischer Stämme - auf der Krim gegründeten. Im zehnten Jahrhundert übernahmen die Krimtataren den Islam als ihre Religion.

Das Krim-Khanat war vom 15. bis zum 18. Jahrhundert das Zentrum des zentralasiatischen Sklavenhandels. Junge Männer des Khanats wurden von den Herrschern für Raubzüge verpflichtet, die eine wirtschaftliche Basis dem Fürstentum garantierten. Sie nannten es die "Ernte der Steppe", überfielen Dörfer in den slawischen Gebieten, verschleppten die Bevölkerung und verkauften sie in der Hafenstadt Kefe auf dem größten Sklavenmarkt der Region an christliche Händler, meist Griechen und Armenier. Ganze Landstriche der christlichen Nachbarländer wurden entvölkert und geplündert. Erst im 18. Jahrhundert konnte der russische Zar mithilfe der Armee die Tataren auf die Krim zurückdrängen und die Überfälle beenden.

Rückkehr

Stalin hatte neben den Krimtataren auch anderen Völkern "Verrat der Sowjetunion" vorgeworfen. Seine Geheimpolizei verhaftete 15.000 Griechen, 12.000 Bulgaren und 9.000 Armenier. Sie wurden nach Sibirien, Usbekistan und Kasachstan deportiert. Während der Jahre der Abwesenheit bot die sowjetische Regierung russischen Familien großzügige Unterstützungen, wenn sie bereit waren, auf die Krim zu übersiedeln. Ursprüngliche Ortsnamen, Flüsse und Berge wurden umbenannt, die tatarischen Wurzeln der Krim sollten verschwinden.

Nach dem Tod Stalins durften die ersten Völker aus der Verbannung zurückkehren, die Krimtataren ab 1974 jedoch mit erheblichen Einschränkungen. Die freie Rückkehr begann erst 1980. Heute leben wieder 300.000 Tataren auf der Halbinsel Krim, das sind zwölf Prozent der Bevölkerung. Die meisten sind sunnitische Muslime. Die Regierung ließ sie nicht in die Häuser ihrer alten Dörfern zurückkehren und wies ihnen neue, oft schwer zugängliche und unfruchtbare Gebiete zu.

Vaterland

Doch die Zeiten sind nicht ruhiger geworden. Nach der russischen Besetzung der Krim 2014 flüchteten 20.000 Krimtataren in die Ukraine. Jene, die blieben und auf den russischen Pass verzichteten, haben keine Krankenversicherung und keinen Zugang zum Bildungssystem. Bürgerrechtskämpfer wurden entführt und ermordet, Häuser durchsucht und Bewohner wahllos verhaftet. Die einzige Radiostation in ihrer Sprache erhielt keine Lizenz mehr und sendet jetzt aus der Ukraine.

Jamalas Lied endet mit den Worten: "Ich konnte meine Jugend dort nicht verbringen , ihr habt mir das Land geraubt, ihr habt mir mein Vaterland geraubt."