Ein Vorfall vom Wochenende brachte das Fass eines jahrelangen Konflikts erneut zum Überlaufen: Zwei kleine Patrouillenboote der ukrainischen Marine und ein Schlepper versuchten, durch die Meerenge von Kertsch ins Asowsche Meer einzulaufen. Doch erst rammte ein Schiff der russischen Küstenwache den Schlepper, später schossen die Russen und brachten die drei Schiffe auf. Zwar haben Russland und die Ukraine einander einmal freie Schifffahrt in dem flachen Asowschen Meer versprochen. Doch seit Moskau die Krim annektiert und durch eine Brücke erschlossen hat, verteidigt es die wichtige Meerenge von Kertsch als sein alleiniges Hoheitsgebiet.
Warum spielt das Asowsche Meer überhaupt eine Rolle?
Russland und die Ukraine haben das Asowsche Meer 2003 in einem Vertrag zu einem gemeinsam genutzten Territorialgewässer erklärt. Das flache Binnenmeer, mit 39.000 Quadratkilometern etwas kleiner als die Schweiz, ist nur durch die Meerenge von Kertsch mit dem Schwarzen Meer verbunden. Die Seegrenze sollte extra festgelegt werden.
Handels- wie Kriegsschiffe beider Länder dürfen dem Vertrag zufolge das Asowsche Meer wie auch die Meerenge frei benutzen. Handelsschiffe anderer Staaten können ukrainische und russische Häfen anlaufen. Für Besuche ausländischer Marineschiffe in einem Land ist aber die Zustimmung des jeweils anderen Landes erforderlich.
Schwierig ist die Lage, seit Russland 2014 die ukrainische Schwarzmeer-Halbinsel Krim annektiert hat. Früher gab es mehrere Lotsendienste, jetzt nur noch einen russischen Dienst im Hafen von Kertsch auf der Krim. Mit der Eröffnung der neuen Brücke auf die Krim hat Russland den Zugriff auf das Nadelöhr der Schifffahrt ausgedehnt. Auch kleinere Schiffe dürfen jetzt nur mit russischen Lotsen passieren.
Seit mehreren Monaten hat der russische Grenzschutz außerdem die Kontrollen bei der Ein- und Ausfahrt in die Straße von Kertsch sowie im Asowschen Meer verstärkt. Nach ukrainischen Angaben sind Hunderte Schiffe, die Häfen in der Ukraine anlaufen wollten, über Tage oder Stunden festgehalten worden. Die Ukraine hat russische Fischkutter von der Krim festgesetzt, weil sie deren Heimathäfen als ihr Staatsgebiet ansieht. Moskau zog mit gleichen Maßnahmen nach.
Warum tritt das Kriegsrecht in Kraft?
Der Zwischenfall vom Wochenende hat internationale Besorgnis über eine weitere Eskalation zwischen Russland und der Ukraine ausgelöst. In Kiew hat sich Präsident Petro Poroschenko vom Parlament freie Hand geben lassen, um ab Mittwoch für 30 Tage in bestimmten Regionen nach Kriegsrecht regieren zu können. Er will so mögliche russische Aggressionen besser abwehren können. Bei einer Normalisierung der Lage könne das Kriegsrecht "jederzeit" wieder aufgehoben werden, sagte Alexander Turtschinow, Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrates.
Was sind mögliche Gründe für den Konflikt?
Mögliche Motive für eine Zuspitzung haben beide Staatschefs - Poroschenko wie Putin. Die Ukraine hat die Krim 2014 verloren. Russland verleibte sich die Halbinsel ein nach einem international nicht anerkannten Referendum. Aus Moskauer Sicht wurde der historische Fehler korrigiert, dass der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow die Krim 1954 von Russland der Ukraine übertragen hat.
Im Osten der Ukraine führt Russland ebenfalls seit 2014 verdeckt Krieg. Seine Militärmacht versteckt sich hinter den separatistischen Kämpfern der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Mehr als 10.000 Menschen sind im Kohlerevier Donbass bisher getötet worden. Weder Separatisten noch die Ukraine halten sich an die eigentlich geltende Waffenruhe. Eine Friedenslösung, ausgehandelt unter deutscher und französischer Vermittlung, steckt fest.
In den letzten Monaten hat die Ukraine unerwartete Erfolge erzielt - auf ganz anderem Gebiet. Das Oberhaupt der weltweiten Orthodoxie, der ökumenische Patriarch von Konstantinopel, der in Istanbul sitzt, will der Ukraine eine eigene, von Russland unabhängige Kirche geben. Für Moskau und seine orthodoxe Kirche wäre der Verlust von Millionen Gläubigen in der Ukraine ein schwerer Schlag. Die Eskalation auf dem Schwarzen Meer könnte auch damit zusammenhängen.
Das offensichtlichere Motiv hat Poroschenko. In Kiew wurde die Aktion sofort mit der für März erwarteten Präsidentenwahl verbunden. Der Amtsinhaber liegt in Umfragen abgeschlagen hinter der Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko. Selbst um den Einzug in eine Stichwahl müsste er bangen. Deshalb die Eskalation gegen Russland? Armee und Kirche sind zwei Schwerpunkte in seinem Vorwahlkampf.
Kommt die neue Auseinandersetzung überraschend?
Nein. Die Ausweitung auf eine dritte Front im Asowschen Meer hat sich seit Monaten abgezeichnet. Für Putin geht es um mehr als nur den Ärger über die ukrainische Kirche. Ein Abriegeln des Binnenmeeres würde die Ukraine wirtschaftlich treffen. Die Häfen Mariupol und Berdjansk, nach Umschlagsmenge die Nummern fünf und acht in der Ukraine, wären blockiert. "Putin versucht mit ein paar Schüssen, aus dem offenen Asowschen Meer ein Meer zu machen, das nur ihm gehört", kommentierte der oppositionelle Wirtschaftsexperte und Politiker Wladimir Milow.
Auch der Kremlchef ist nach seiner triumphalen Wiederwahl vom März innenpolitisch unerwartet unter Druck geraten. Die russische Bevölkerung nimmt ihm eine Rentenreform nachhaltig übel. Deshalb ein Ablenkungsmanöver? Die Heimholung der Krim hat seiner Popularität schon 2014 geholfen.
Wie geht es weiter?
Hoffnungen auf militärische Unterstützung darf sich die Ukraine nicht machen. Sie ist kein NATO-Mitglied und gehört nicht zur EU. Niemand wolle die Regierung in Kiew ermuntern, den Konflikt mit Russland weiter eskalieren zu lassen, heißt es in Brüssel. Und niemand wolle in einen bewaffneten Konflikt mit Russland hineingezogen werden. Doch mehr politischer Druck - vielleicht neue EU-Sanktionen - könnten das Mittel der Wahl sein, sollte sich die Lage nicht entspannen.
Erste Voraussetzung für eine Deeskalation im jüngsten militärischen Konflikt wäre seitens Russland freilich eine Freilassung der ukrainischen Soldaten und die Zurückgabe der beschlagnahmten Schiffe. Auch die USA drängten beide Seiten dazu, Zurückhaltung zu üben. Der russische Präsident Wladimir Putin und Poroschenko müssten gemeinsam an einer Lösung arbeiten, wie der US-Außenminister Mike Pompeo mitteilte.