Warum kriegen wir nie genug?

Albin und Sigrid haben sich in ihren Fünfzigern kennengelernt und sind seit vier Monaten zusammen. Sie sind buchstäblich: krank vor Liebe. Denn während andere Paare in jeder Liebesnacht irgendwann selig einschlafen, ist es für diese beiden scheinbar nie genug.

von Liebes Leben - Warum kriegen wir nie genug? © Bild: Nathan Murrell

Albin ist es, der sich in meine Praxis für Psychotherapie begibt. In Sexualtherapie. Denn: Er kann mit Sigrid schlafen, wann immer sie will, aber wie lange noch? Bis jetzt sei alles gut gegangen, was aber würde sein, wenn er mit ihrer Begierde nicht mehr mithalten konnte? Er beklagt Hautveränderungen von der übermäßigen Reibung, Kopfschmerzen, Einschlafprobleme und Durchschlafstörungen. Ihn plagt zudem ein Grübelzwang, wenn er immer im Kreis denkt und manchmal nachts nervös auf und ab läuft. Und jetzt kommt das große Wenn und Aber: Wenn er doch vielleicht Viagra nehmen würde, wäre dann das Problem gelöst? Oder würde es dann auch bald nicht mehr die gewünschte Wirkung haben? Wie bewältigt er die Aufgabe, jederzeit und unbegrenzt bei Sigrid "seinen Mann stehen zu können"?

Ein kurzer Rückblick: Während Albin vor der Initialzündung ihrer Verliebtheit noch in seiner Ehe war und nie für möglich gehalten hätte, das zu ändern, war Sigrid schon lang Single. Beide waren sexuell ausgehungert.

Von Sigrid kommen Äußerungen, was passiert und was mit ihm los ist, wann immer er den schon fast obligatorischen Beischlaf einmal auslassen möchte. So hatten sie seit Beginn ihrer Beziehung -und trotz ihrer getrennten Wohnsitze - bei buchstäblich jeder Gelegenheit Sex. X-mal, wie Albin mit vor Müdigkeit und Erschöpfung tiefsitzenden Augen in seiner Therapiesitzung bekennt. Mit seiner Frau pflegt er nach wie vor eine Freundschaft, die Scheidung steht bevor. Aber was, wenn, ja wenn er doch nicht ausdauernd genug für Sigrid ist, die ihn buchstäblich bis zum Umfallen fordert? Und die ganz und gar uneinsichtig ist, wenn er mal zu müde ist.

Was tun? Die beiden befinden sich im unendlichen Ozean der Wollust. Das bedeutet vor allem in der ersten Verliebtheitsphase Ende nie. Vor lauter Begeisterung haben Albin und Sigrid, aber hat vor allem sie die Bodenhaftung verloren und versucht er, ihr in allem, in wirklich allem ihr perfekt zu entsprechen. So weit, so gut. Der ultimative Haken an diesem Perfektionismus-Anspruch: Albin sitzt in der Falle. Denn nichts und niemand, eben Nobody is perfect! Auch Albin nicht. Und er muss auch nicht perfekt sein. Mein heißer Tipp an der Stelle: Sollte Sie Ihr Perfektionismus-Anspruch schon erschöpfen, und können Sie ebenso wenig wie Albin Ihrer besseren Hälfte reinen Wein einschenken, dass Sie nicht jeden Tag gleich sind, dann bremsen Sie besser jetzt als später. Denn je mehr Sie Sex zur alltäglichen Konstante, zur Routine machen, desto mehr Kuschelhormon Oxytocin schütten Sie aus! Aber -und da kommt es nun wieder zur womöglich abwegigsten Nebenwirkung der Liebe: Trotzdem das Bindungshormon dafür bekannt ist, Stress abzubauen, baut sich paradoxerweise und ungeachtet dessen gerade extra viel Stress auf, nämlich psychischer Stress, ja Erwartungsund Hochleistungsdruck. Sie treten dann jedes Mal in den Ring gegen sich selbst in Ihrer, nennen wir's: sexuellen Bestform.

Im Laufe von Albins Sexualtherapie kommt Sigrid hinzu. Und er muss ihr schonend klarmachen, dass manchmal weniger mehr und genug genug ist. Und dass das nicht bedeutet, dass er sie nicht mehr liebt, weniger begehrt oder sie nicht länger attraktiv und sexy für ihn ist. Der ultimative Ratschlag zum Schluss: Machen Sie bitte aus Sex keinen Wettbewerb! Und stehen Sie zu Ihren körperlichen, aber auch psychischen Grenzen der Belastbarkeit. Gerade das zeigt Ihnen, wer Sie wirklich liebt. Und Sie nicht bloß zu seiner Selbstbestätigung nutzt.

Prof. Mag. Dr. Monika D. Wogrolly ist Philosophin und Psychotherapeutin Haben Sie noch Fragen? Schreiben Sie mir bitte: praxis@wogrollymonika.at