Erdoğan-Gegner unterstützen!

von Gerfried Sperl © Bild: News

Neuer Tiefpunkt in den Beziehungen zwischen der Türkei und Österreich. Wieder einmal wollte ein Regierungsmitglied aus Ankara nach Österreich reisen und hier für das Regime Erdoğans Stimmung machen. Das Außenministerium hat ihm die Einreise verboten und damit erneut wütende Proteste in der Türkei ausgelöst. Diesen Tiefpunkt hat Österreich nicht mutwillig gesetzt. Die Maßnahme war richtig.

Gleichzeitig wäre es gut, ständig zu betonen, dass das Regime das Referendum im April nur ganz knapp gewonnen hat. Erst zuletzt wieder haben Wiener Komplexitätsforscher nachgewiesen, dass bei Erdoğans "Sieg" nachgeholfen wurde. Jene nicht gestempelten Wahlzettel, die mit Pro-Stimmen versehen und mitgezählt wurden, haben auch nach Meinung der OSZE das Ergebnis verfälscht - ein Nein in ein Ja verwandelt.

Dazu kommt der enorme Erfolg des Oppositionsmarsches von Ankara nach Istanbul, dessen Bedeutung nicht hoch genug einzuschätzen ist. Vor dem Hintergrund der Massenverhaftungen und der Einschüchterungen sind jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer couragierte Vertreter der Zivilgesellschaft. Es wäre daher anzuraten, dass die Regierung in Wien nicht permanent den vollständigen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen fordert, sondern "proaktiv"(eine unmögliche, aber in diesem Fall passende Wortschöpfung in Neudeutsch) diesen Marsch der türkischen Demokraten unterstützt.

Selbst der Nationalrat könnte sich dazu aufraffen, in seiner ersten Hofburg-Sitzung eine Resolution zu dieser mutigen Volksbewegung zu verabschieden.

Dem österreichischen EU-Kommissar Johannes Hahn blieb es vorbehalten, in der ORF-Sendung "Hohes Haus" erneut den Weg der Vernunft zu beschreiten.

Zum x-ten Mal lehnte er den Abbruch der Verhandlungen mit der Türkei ab und umschrieb dezent das Faktum, dass Österreich mit seiner Radikalität in dieser Frage unter den EU-Staaten isoliert ist. Gespräche in Wirtschafts-und Umweltfragen beispielsweise müssten weitergeführt werden, weil es um gesamteuropäische Fragen gehe. Und, möchte man hinzufügen, um jenen Teil der Bevölkerung, der nicht nur gegen Erdoğan ist, sondern auch unter der neuen Autokratie leidet.

Auch das Türkei-Problem wird den Wahlkampf prägen - wenn Politiker, die nichts Anspruchsvolles lesen, keine argumentativen Kontroversen mitverfolgen, mit der Vorurteilskeule bei all jenen um Zustimmung heischen, die gar nichts lesen wollen, damit ihre simplen Weltbilder nicht ins Wanken geraten. Sie mögen sich die Teilnehmer des zitierten Friedensmarsches zum Vorbild nehmen und den Vereinfachern unter den Kandidaten und Kandidatinnen für das Parlament auf offener Straßenbühne, neben Maiskolben und Paprika korrigierende Fragen stellen.

Im Unterschied zur Türkei darf man in Österreich noch frech fragen, ohne Gefahr zu laufen, eingesperrt zu werden.

Was meinen Sie? Schreiben Sie mir bitte: sperl.gerfried@news.at