Schleuderkurs

Maske rauf, Maske runter, eine Impfpflicht, die nicht einmal von ihren Erfindern ernst genommen wird. Österreich kommt schlechter durch die Pandemie als Schweden. Besserung ist nicht in Sicht, es herrscht Vorwahlkampf

von Kolumne - Schleuderkurs © Bild: Privat

Im dritten Jahr der Pandemie hat Österreich noch immer keine ordentlichen Daten, um sich ein Bild von der Lage machen zu können. Dieser Eindruck blieb unlängst zurück, als die Beamten von Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) die Angaben über die Corona-Todesfälle nach oben korrigieren mussten. Nach dem Abgleich zweier Datenbanken kletterten sie um mehr als ein Fünftel auf 19.851. Doch was sagte das schon aus? Es gibt Menschen, die vor dem Tod nicht getestet worden waren und daher nie erfasst wurden. Andere sind in einem Lockdown wiederum nicht zum Arzt gegangen, um sich aufgrund irgendeiner Krankheit untersuchen zu lassen. Im schlimmsten Fall haben sie das später mit dem Leben bezahlt.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat daher ein Modell entwickelt, das zu aussagekräftigeren Daten führen soll: Ausgewiesen wird hier die Übersterblichkeit im Zusammenhang mit der Pandemie. Vereinfacht ausgedrückt geht es darum, zu ermitteln, um wie viele Frauen und Männer mehr gestorben sind als in gewöhnlichen Zeiten. Das Ergebnis ist durchwachsen aus österreichischer Sicht: Es gibt Staaten wie Belgien und Italien, in denen die Übersterblichkeit bisher größer ist als hierzulande, aber auch Länder wie Schweden und die Schweiz, in denen sie niedriger ist. Das ist insofern bemerkenswert, als dort kaum Beschränkungen existierten, ja eine bestätigte Infektion zum Teil nicht einmal mehr meldepflichtig ist.

"Hü-hott-Politik" rächt sich

Was hat Österreich falsch gemacht? Ein Forscherteam, bestehend aus Maria Hofmarcher, Johannes Wüger und Ludwig Kaspar, hat in einer Studie zur Sterblichkeit herausgearbeitet, dass die Entwicklungen hierzulande vor allem 2021 sehr schlecht waren und dass Beschränkungen damals besonders häufig geändert wurden. Alles in allem kann man folgende Schlüsse daraus ziehen: Schweden etwa ließ den Menschen mehr Freiheiten, blieb laut Hofmacher aber konsequenter und konsistenter bei den getroffenen Maßnahmen. In Österreich gab es dagegen eine "Hü-hott- Politik", die dazu führte, dass immer weniger Menschen die jeweils geltenden Regeln beachteten. Das war kontraproduktiv.

Zu den ersten Schritten, zu denen sich Johannes Rauch als Gesundheitsminister im März gezwungen sah, zählte eine Ausweitung der Maskenpflicht. Diese Woche verkündete er gemeinsam mit Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) eine Lockerung. Was kommt in zwei, drei Monaten? Immerhin: Rauch lässt Pläne für den Herbst entwickeln und auch Expertenkommissionen straffen. Das soll für einen berechenbaren, evidenzbasierten Kurs sorgen. Allein: Letztlich ist es immer Politik, die entscheidet - und die ist extrem stimmungsgetrieben. Schlimmer: Besserung ist nicht in Sicht, es herrscht eine Art Vorwahlkampf.

Ex-Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) schaffte es zu Beginn der Pandemie nicht lange, Meinungsumfragen Meinungsumfragen sein zu lassen und zu tun, was sachlich notwendig erschien. Als die Ungeduld in der Bevölkerung wuchs, fiel er darauf zurück, bei einer Masse eher nur gefällig wirken zu wollen. Also verhieß er bereits im Spätsommer 2020 ein "Licht am Ende des Tunnels". Im Jahr darauf ließ er verkünden, dass die Pandemie "gemeistert" und für Geimpfte vorbei sei. Das Ergebnis ist bekannt. Es kam anders, und so sah man sich in einer weiteren Infektionswelle mit einem Lockdown umso mehr gezwungen, in Aussicht gestelltes Glück wenigstens für die Zeit danach zu erzwingen. Und zwar durch die Impfpflicht.

Größerer Impfschaden

Allein durch ihre Ankündigung im Rahmen einer Landeshauptleutekonferenz und ihren Beschluss auf parlamentarischer Ebene ist größerer Schaden angerichtet worden. Die Impfbereitschaft ist nicht gestiegen, sondern gesunken. Bei zögerlichen Menschen kam es zu einer "Jetzt erst recht nicht"-Abwehrhaltung. Die Liste MFG, die am deutlichsten gegen die Pflicht auftritt, wurde gestärkt. Die 17,1 Prozent, die sie bei der Gemeinderatswahl im niederösterreichischen Waidhofen an der Ybbs, dem Heimat- und Wohnort von Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP), erzielte, fielen genau in diese Zeit. Aus Angst, dass das so weitergehen könnte, begann ein Landeshauptmann nach dem anderen, sich von der Impfpflicht zu verabschieden. Als Fehler ist sie aber noch von keinem bezeichnet worden. Die Lösung ist vielmehr eine zutiefst österreichische: Die Pflicht gibt es nach wie vor, es wird nur nicht ernst gemacht damit. Auch über den Sommer wird das geltende Gesetz de facto ignoriert.

»Mit der Impfpflicht wird vor den Landtagswahlen im Frühjahr 2023 kaum ernst gemacht. Zu viele Wähler wären davon betroffen, zu viele Stimmen könnte das kosten«

Die Selbstbeschädigung der Politik ist enorm: Eine türkise Abgeordnete berichtet, dass in der Fraktion "eigentlich niemand" für die Impfpflicht gewesen sei. Man habe nur aus Loyalitätsgründen zugestimmt und sich hinterher geärgert, weil man sich die ganze Geschichte offenbar hätte sparen können. Grünen-Klubobfrau Sigrid Maurer versuchte, die Impfpflicht noch damit zu begründen, dass es darum gehe, "dass wir im Herbst gut geschützt sind vor einer weiteren nächsten Welle". Von daher hätte man jedoch dranbleiben müssen: Ausreichende Immunität ist Experten zufolge nach drei Impfungen erreicht. Von der ersten Dosis an dauert das Procedere sechs Monate. Sprich: Wer heute beginnt, ist erst Ende November, Anfang Dezember geschützt.

Erfahrungsgemäß könnte das wieder einmal zu spät sein: 2020 und 2021 war Österreich zu diesem Zeitpunkt längst von einer heftigen Infektionswelle erfasst worden. Frei nach Maurer kann man nur hoffen, dass es heuer anders kommt.

Die Impfpflicht wird kaum je voll umgesetzt werden. Auf den dritten Sommer der Pandemie hin regiert zum dritten Mal Sorglosigkeit. "So viele in einem kleinen Raum heißt auch: so viele Viren. Aber jetzt kümmert es uns nicht mehr", begrüßte Karl Nehammer Hunderte Delegierte des ÖVP-Parteitags in der Grazer Helmut-List-Halle. Tage darauf bedauerte er es, der Effekt war jedoch fatal: Wer soll bei einem solchen Signal noch achtsam sein oder sich zur Impfung überwinden? Im Durchschnitt tun Letzteres pro Tag nur noch 0,001 Prozent der Gesamtbevölkerung. 24 Prozent haben sich noch nicht einmal eine Dosis verabreichen lassen, ganze 45 Prozent haben noch keine drei Dosen erhalten.

Angst vor dem Wähler

Nötig wären gute Ideen, vor allem aber engagierte Politiker, um hier noch etwas bewegen zu können. Letztere meiden das Thema jedoch mit Blick auf baldige Landtagswahlen in Niederösterreich, Salzburg, Kärnten und Tirol. 24 Prozent Ungeimpfte sind so viele, dass es sich vor Abschluss der Urnengänge im Frühjahr 2023 schon gar niemand leisten mag, sie durch Strafen und dergleichen gegen sich aufzubringen.

Die Aussichten, dass sich Wesentliches ändert, sind schlecht. Auch auf Bundesebene herrscht immer mehr Wahlkampf. SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner hat sich bereits zur Kanzlerkandidatin erklärt und im Hohen Haus auch schon einen Neuwahlantrag eingebracht. Er wurde abgelehnt, Rendi-Wagner wird jedoch dranbleiben. Dafür hat sie auch aufgehört, als Ärztin immer wieder Vorschläge für möglichst strenge Corona-Maßnahmen oder Impf-Motivationskampagnen zu machen. Damit ist für die Oppositionsvertreterin nichts zu gewinnen, im Gegenteil.

Bundeskanzler Karl Nehammer steht als ÖVP-Obmann wiederum unter Druck, den Absturz seiner Partei zu stoppen. Zuletzt hat sie sich nach einer vorübergehenden Phase der Stabilisierung Richtung 20 Prozent bewegt. Also vermeidet er Dinge, die unpopulär sein könnten, hat er im Wissen, dass neun von zehn Österreichern daran hängen, Anfang März nicht nur eine von ihm selbst eröffnete Neutralitätsdebatte ebenso schnell wieder beendet. Es ist auch die Verlockung groß für ihn, die Pandemie aus der allgemeinen Wahrnehmung verschwinden zu lassen und wie auf dem Parteitag Unbekümmertheit zu versprühen.

Johannes Huber, Journalist und Blogger zur österreichischen Politik, www.diesubstanz.at