Poirot ist ein Flüchtling

Auf der Fahrt von Istanbul nach London steckt der luxuriöseste Zug der Welt in der jugoslawischen Schneewüste fest. Ein Passagier überlebt nicht: Mord im Orient-Express! Kenneth Branagh verfilmte starbesetzt Agatha Christies Klassiker. Aber wer ist der Detektiv Hercule Poirot wirklich?

von Mord im Orient-Express - Poirot ist ein Flüchtling © Bild: Twentieth Century Fox

Ein depressiver, einsamer Shakespeare-Held mit leuchtendem Blaublick, den eisgrauen, unglaubhaft riesigen Schnurrbart wie ein Theaterrequisit im Gesicht tragend; und trotz des undefinierbaren Akzents so britisch wie ein älterer englischer Heldendarsteller nur sein kann: Per Augenschein ist Kenneth Branagh das habituelle Gegenteil von Agatha Christies kleinem, gedrungenem, lackschwarz gefärbtem, aberwitzig eitlem und inbegrifflich ausländischem Exzentriker Hercule Poirot. In der Tat mäkelte der britische "Guardian" gegen die Neuverfilmung von Agatha Christies Klassiker "Mord im Orient-Express" (1934): "Ein verstaubter, altmodischer Blindgänger" aus dem Keller von Madame Tussauds sei dem Regisseur und Hauptdarsteller Branagh da entkommen. Und das trotz Star-Bombardement von Dame Judi Dench bis Michelle Pfeiffer und Johnny Depp (die wesentlich positivere News-Kritik finden Sie weiter unten) .

© Twentieth Century Fox Große Besetzung für Branaghs Christie-Verfilmung: Olivia Colman - Hildegarde Schmidt, Judi Dench - Princess Dragomiroff, Josh Gad - Hector MacQueen, Willem Dafoe - Gerhard Hardman, Daisy Ridley - Mary Debenham, Tom Bateman - Bouc, Michelle Pfeiffer - Caroline Hubbard, Kenneth Branagh - Hercule Poirot, Derek Jacobi - Masterman, Leslie Odom Jr. - Dr. Arbuthnot, Penélope Cruz - Pilar Estravados, Johnny Depp - Edward Ratchett

Gefangen im Schnee

Er habe eben einen Geruch aus vergangener Zeit hervorholen wollen, erwidert Branagh: den der Russschwaden über der einsamen jugoslawischen Tiefebene, in deren Schneewächten der dampfgetriebene Luxuszug von Istanbul nach London feststeckt. Einer der Passagiere ist Poirot, ein anderer ein kriminelles Schwein, dem alsbald die Stunde schlägt. Jeder der Passagiere hat ein Motiv. Und der Zug ist klaustrophobisch von der Welt abgeschnitten.

© Twentieth Century Fox Das Mordopfer: Johnny Depp als Scheusal, das im Zug zu Tode kommt

Um noch etwas, fügt Branagh hinzu, sei es ihm zu tun gewesen: die englische Kriminalschriftstellerin Agatha Mary Clarissa Christie, Lady Mallowan, Dame Commander of the Order of the British Empire, aus ihrem öffentlichen Klischee zu befreien. Keine "geschlechtslose, jenseitige, papierene, strickende und sehr englische" Existenz sei Agatha Christie (1890-1976) gewesen, sondern eine kühne Abenteurerin, die ihrer Zeit ein Stück voraus war. Die Weltauflage von zwei Milliarden verkauften Büchern erarbeitete sie sich durch Recherche und Authentizität. Die wohlhabenden Eltern verarmten nach Unterschlagungen durch einen amerikanischen Vermögensberater (der in Christies Werken mehrfach auftritt), die junge Dame wurde im Ersten Weltkrieg Rotkreuzhelferin und entwickelte ein Faible für pharmazeutische Gifte. Sie heiratete den Luftwaffen-Oberst Archibald Christie, der sie betrog, worauf sie im Winter 1926 für zehn Tage unauffindbar blieb. Das Rätsel ihres Verbleibs ist bis heute ungeklärt (selbst der Sherlock-Holmes-Kreator Arthur Conan Doyle beteiligte sich an der Suche). Nach der Scheidung reiste sie mit dem Orient-Express nach Bagdad, beteiligte sich an Ausgrabungen und heiratete den um vieles jüngeren Archäologen Max Mallowan. So gut wie jedes biografische Detail floss in ihr Werk ein.

© Twentieth Century Fox Penélope Cruz als Pilar Estravados, die Trost in der Religion sucht

Poirot, der Flüchtling

Schon 1920 war ihr erster Kriminalroman, "Das fehlende Glied in der Kette", erschienen. Der Erfolg war noch bescheiden, aber mit diesem Fall nahm Poirot die Ermittlungen auf. Er hielt darin 33 Romane lang nicht inne, und grandiose Schauspieler haben ihn verkörpert: Orson Welles sprach ihn in einem Hörspiel; der massige, gedrungene, hellhaarige Sir Peter Ustinov kreierte quasi den Gegen-Poirot; Albert Finney ermittelte 1974 mit hohen Annäherungswerten im Orient-Express; und David Suchet spielte ihn bis 2013 in einer siebzigteiligen englischen Fernsehreihe. Poirot ist fraglos eine Komödienfigur. Doch rekonstruiert man seine Biografie, so erschließt sich die Aura der Tragik, die Branagh zu erzeugen versucht. Poirot ist Flüchtling. Als pensionierter belgischer Polizeibeamter ist er 1916 nach England gekommen, und hier thematisiert Agatha Christie ein wenig bekanntes Stück Zeitgeschichte: Die deutschen Truppen besetzten im Ersten Weltkrieg völkerrechtswidrig das neutrale Belgien. Sie verübten dort unter Verweis auf angebliche oder tatsächliche Widerstandsaktivitäten wahre Massaker. Mit mehreren Landsleuten findet Poirot im englischen Ort Styles Zuflucht. Erst als eine alte Dame, die sich der Bedrängten liebevoll angenommen hat, ermordet wird, ergreift der Flüchtling Poirot aus Dankbarkeit die Initiative.

© Twentieth Century Fox Geheimnisvolle Michelle Pfeiffer

Poirot, der "Ausländer"

Der bekennende Katholik Poirot stand im höheren belgischen Polizeidienst, war aber zum Zeitpunkt der Flucht schon pensioniert. Der Karriere als Privatermittler -sie führt an die Weltspitze mit gekrönter Klientel - steht also einiges entgegen.

  • Das Alter macht dem kleinen, gedrungenen Mann, dessen grüne Augen in Momenten der Erkenntnis katzenhaft zu glühen beginnen, zu schaffen: Das penibel mittelgescheitelte Haar und der enorme Schnurrbart sind wahrscheinlich schwarz gefärbt. Junge englische Polizisten nehmen ihn nicht ernst. Sie vertrauen der modernen, technisierten Kriminalistik, während Poirot seine Fälle mittels penibler Ordnung im Kopf löst.
  • Seine Eitelkeit ist so pathologisch wie sein Ordnungswahn. Aber während er wie unter Zwang Nippes-Figuren auf Kaminsimsen zurechtrückt, ordnen sich die Mordfälle in seinem Kopf. Unablässig entfernt er Stäubchen von Samtjacketts und anderen Stücken, die sich im feuchten britischen Klima nicht bewähren. Klar, dass ihm ständig kalt ist und er sich selbst bei bekömmlichen Temperaturen in bizarrem Pelz-und Schalwerk vermummt. Die Lackschuhe, von denen er auch im Moorgebiet nicht lassen will, foltern ihn.
  • Er ist so ausländisch, wie man im chauvinistischen England nur sein kann. Häufig wird er für einen französischen Friseur gehalten, in der freundlicheren Variante für einen Modeschöpfer. Er spricht sehr gut Englisch, gibt aber bei Bedarf den ausländischen Clown und wiegt damit die britischen Täter im Wahn ihrer Überlegenheit.
  • Über seine Familie weiß man wenig, möglich, dass es in der belgischen Besatzungszeit eine Tragödie gab. Benannt wurde er nach dem griechischen Über-Helden Herkules. Dass es einen Zwillingsbruder namens Achille gäbe, erweist sich als ermittlungstaktische Mystifikation.
  • Mit Sherlock Holmes hat er beabsichtigterweise einiges zu tun. Sein Doktor Watson ist der tölpische Hauptmann Hastings. Und so wie Holmes nur einmal erotische Gefühle gegenüber einer Kriminellen namens Irene Adler entwickelt, ist der sonst asexuelle Poirot einer großwüchsigen russischen Hochstaplerin namens Vera Rossakoff verfallen. Der Schnurrbart kann somit als Kompensation unausgelebter phallischer Aktivitäten durchgehen.

Alles in allem ist Poirot das Gegenstück zu Agatha Christies zweiter epochaler Kreation: der schmalen, unverheirateten, zutiefst englischen Jane Marple, die das Dorf St. Mary Mead als Kleinstmodell menschlicher Befindlichkeiten erkannt hat.

Beiden gemeinsam ist ihre Moralität. "Ich billige Mord nicht", sagt Poirot einmal. Er macht allerdings Ausnahmen: Der Mord im Orient-Express bleibt offi ziell ungeklärt. Und am Ende seines Lebens wird er selbst zum Mörder. Todkrank ins Dörfchen Styles zurückgekehrt, identifiziert er einen wahren Teufel, den er nicht dingfest machen kann. Also greift er auf den letzten Metern seines Lebens zur Selbstjustiz. Das Buch schrieb Agatha Christie schon in den Vierzigerjahren, behielt es aber im Tresor, für schlechte Zeiten. Als sich die nicht einstellen wollten, stimmte sie 1975, ein Jahr vor ihrem Tod, der Veröffentlichung zu.

Poirot wäre damals mindestens 120 Jahre alt gewesen. Aber was tut das bei einem Unsterblichen?

© Twentieth Century Fox Belgische Galanterie: Kenneth Branagh und Daisy Ridley

Filmkritik von Susanne Zobl

Poirot im Eissturm der Erkenntnis

Kenneth Branagh hat den Hang zum Großen. So üppig wie sein Schnurrbart, den er als Agatha Christies belgischer Detektiv Hercule Poirot trägt, hat er auch deren Klassiker "Mord im Orient-Express" verfilmt. Das aber ist kein Nachteil.

Wie aus dem Märchen

Denn Branagh erschafft das Werk neu. Das zeigt sich zunächst bei den pittoresken, ausladenden Landschaftsdarstellungen. Ausgangspunkt seiner Reise mit dem Orient-Express ist Istanbul, das als orientalische Märchenstadt vorgeführt wird. Die Fahrt des Luxuszugs durch die jugoslawische Winterlandschaft mutet wie ein animiertes Bilderbuch an. Diesen Szenen ist bestes Schauspielhandwerk seiner erstklassigen Besetzung gegenübergestellt. In seiner Doppelfunktion als Regisseur und Hauptdarsteller führt Branagh seine Kollegen so, als hätte Agatha Christie jede einzelne ihrer Figuren nur für seine Darsteller erschaffen. Dass er sich dafür Gestalten aus anderen Werken ausleiht, etwa wie hier die bigotte Pilar Estravados ,die Penélope Cruz als enigmatisches Wesen zeigt, spricht für Branaghs Christie- Verständnis. Er entwirft Gegenpole zu Sidney Lumets legendärem Vorgängerwerk aus dem Jahr 1974. Den smarten Arzt Dr. Arbuthnot, den Sean Connery gab, besetzt Branagh mit dem sympathischen Leslie Odom jr. Johnny Depp zeigt als Unhold mit ausdrucksstarkem Mienenspiel seine Wandlungsfähigkeit. Judi Dench, Willem Dafoe und Derek Jacobi begeistern mit schauspielerischen Finessen. Einzig Michelle Pfeiffer versucht, sich als Rächerin an ihrer Vorgängerin Lauren Bacall zu orientieren. Das versteht man bei dieser Vorgängerin.

Kunstfigur Poirot

Branagh selbst nimmt sich bei seiner Agatha-Christie-Erneuerung nicht aus. Sein Hercule Poirot gerät zum melancholischen Außenseiter, der seine Sehnsucht nach einer Frau, die er vor langer Zeit verloren hat -mehr erfährt man nicht -, mit obsessivem Ordnungswahn zu verdrängen sucht. Damit verleiht er Figur und Film zumindest Momente lang einen Hauch von Komik. Doch ihm geht es um Tieferes, nämlich um die Frage der Selbstjustiz. So intensiv hat man Agatha Christies Welt noch nicht betreten.