Kindheit hinter Gittern

In vielen Haftanstalten in Österreich leben Kleinkinder mit ihren Müttern. Wenn sie zwei Jahre werden, müssen sie raus. Eine schmerzhafte Trennung. Über ein System, das sich scheinbar nicht verbessern lässt und trotzdem grausam ist.

von Chronik - Kindheit hinter Gittern © Bild: NEWS/Herrgott

Die Tür zur Abteilung "05" in der Justizanstalt Schwarzau ist aus Glas. Darauf kleben bunte Buchstaben "MU-KI". Die Abkürzung für Mutter-Kind. Die Justizwachbeamtin steckt den Schlüssel ins Schloss und schließt einmal, zweimal. Neben ihr sitzt ein blonder Bub im Buggy und beobachtet die Frau mit der Uniform und den vielen Schlüsseln. Maxi ist 17 Monate alt und lebt seit drei Monaten hinter der verschlossenen Glastür.

Die Justizanstalt Schwarzau, einige Kilometer südlich von Wieder Neustadt, ist wohl das ungewöhnlichste Gefängnis Österreichs. Ein etwa 20 Hektar großer Park mit Nadelbäumen umgibt das renovierte Jagdschloss aus dem 16. Jahrhundert. Die Verwaltungsräume sind prunkvoll. Der Trakt der Mu-Ki im Erdgeschoss erinnert an ein Studentenwohnheim. Der Gang ist hell, zur linken Seite erstreckt sich ein sonnendurchfluteter Innenhof. Die türkisfarbenen Stahltüren zu den Zellen sind geöffnet, bunte Bilder kleben daran. Davor parken die Kinderwägen. Doch die Idylle trügt. Es bleibt ein Gefängnis.

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Was das bedeutet, weiß Maxis Mama. Sarah ist 33 Jahre alt und eine von fünf Müttern, die im Mutter-Kind-Trakt leben. Platz ist für sieben Insassinnen und ihren Nachwuchs. Sarah und Maxi heißen in Wahrheit anders, aber die Justizanstalt verbietet, die wahren Namen zu drucken. Die Niederösterreicherin trägt ihre langen, dunklen Haare zum Zopf gebunden. Dazu Kaputzenpulli und Leggings. Sie schaut müde aus. Als hätte sie mehr Leben hinter sich, als nur 33 Jahre. Sarah hat drei Kinder. Die zwei Großen, eine Zehnjährige und einen Siebenjährigen, musste sie draußen zurücklassen. Für sie die Höchststrafe. Sie ist froh, dass Maxi bei ihr sein darf.

Mörderin musste Sohn abgeben

In Österreich gibt es in acht Justizanstalten Mutter-Kind-Abteilungen. Etwa 30 Frauen könnten das Angebot nutzen, wenn es ihr Strafmaß hergibt und das Jugendamt einverstanden ist. Bei nur elf Insassinnen in Österreich ist das der Fall. Die Regel: Mütter dürfen ihre Kinder bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres bei sich haben, wenn sie zu diesem Zeitpunkt selbst entlassen werden. Müssen sie darüber hinaus im Gefängnis bleiben, werden ihnen die Kinder mit zwei Jahren abgenommen. Ist ihr Strafmaß viel höher, dürfen die Kinder überhaupt nicht mit in Haft. Prominentes Beispiel war im Jahr 2012 die wegen Doppelmordes rechtskräftig zu lebenslanger Haft verurteilte frühere Wiener Eissalon- Besitzerin Estibaliz C. Sie war schwanger, als sie in Haft kam. Sie musste ihren Sohn direkt nach der Geburt abgeben.

»Wenn dich im tristen Gefängnisalltag ein Kind anlächelt, sind Frust und Sorgen vergessen«

Die Justizvollzugsbeamtin Regina Grabenweger ist 52 Jahre alt und arbeitet fast 30 Jahre davon hinter Gittern. Sie ist ein Kumpel-Typ mit pinken Fingernägeln. Angefangen hat sie im normalen Frauenstrafvollzug. Nebenbei half sie im Anstaltskindergarten aus. Den gibt es bis heute. Direkt hinter der Gefängnismauer spielen die Kinder der Insassinnen und der Bediensteten zusammen. Als dann die Stelle in der Mutter-Kind-Abteilung frei wurde, bewarb sich Frau Regina, wie sie hier von den Kleinen genannt wird. "Wenn dich im tristen Gefängnisalltag ein Kind anlächelt, sind Frust und Sorgen vergessen", resümiert Regina Grabenweger über ihren Job. Sie empfindet die Abteilung als Erleichterung für die Frauen, schließlich könnten sie sich hier um ihren Nachwuchs kümmern. Eine Belastung seien die Kinder, die daheim warten würden. Es sei oft vorgekommen, dass die Kinder zuhause Unfälle hätten und krank würden. Genau in solchen Momenten fehlen ihnen die Mütter besonders. Aber sie dürfen nicht raus. Dann hat Regina Grabenweger Mitleid. Mit den Frauen und den Kindern.

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Mutter betrog auf Ebay

Diese Momente kennt Sarah. Wenn sie zuhause anruft und der Siebenjährige ins Telefon weint und nicht versteht, warum Maxi bei seiner Mama sein darf und er nicht. "Dann fühle ich mich hilflos, und mir wird meine Schuld noch bewusster", sagt Sarah. Dann hilft ihr Maxi. Er fordert ihre Aufmerksamkeit und lenkt sie ab. Maxi darf bei ihr sein, weil Sarahs Strafe im zeitlichen Rahmen liegt. Die gelernte Einzelhandelskauffrau hatte auf Internetseiten wie Willhaben und Ebay Waren zum Verkauf angeboten, die sie nicht besaß. Mal für 300 Euro, mal 400 Euro. Immer nur die Beträge, die gerade in der Familienkasse fehlten, sagt sie. Wenn ihre Abnehmer merkten, dass die Ware nicht geliefert wurde, wollten sie ihr Geld zurück. Doch Sarah erfand Ausreden oder brach den Kontakt ab. Es folgten Anzeigen. Dann der Prozess und jetzt Gefängnis. Zwei Jahre hat Sarah noch vor sich. Ihren älteren Kindern hat die 33-Jährige gesagt, dass sie "Blödsinn" gemacht hat und dafür "geradestehen muss". Sarah hatte Angst davor, dass ihre Kinder sie verachten würden. Die beiden leben jetzt beim Vater. Die Tochter hat ihr neulich ein Bild ins Gefängnis gebracht. Darauf steht: "Du bist die beste Mama der Welt."

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Auch hinter Gittern gelten Mutterschutz und Karenzzeiten. Erst wenn das Kind ein Jahr alt ist, werden die Frauen zum Arbeitsdienst eingeteilt. Sarahs Tag beginnt um sechs Uhr. Dann hat sie eine Stunde, um sich und Maxi fertigzumachen und zu frühstücken. Kurz nach sieben Uhr bringt sie Maxi in den Kindergarten. Dann marschiert Regina Grabenweger neben den Müttern her, die ihre Kleinen in Kinderwägen durch den Park Richtung Gefängnismauer schieben. Durch einen Seitenausgang geht es in die Freiheit. Die Justizbedienstete trägt am Gürtel Pfefferspray und Handschellen. Geflüchtet sei aber noch keine.

Maxi geht gerne in den Kindergarten. Am liebsten malt er oder spielt mit Autos. Sarah arbeitet am Vormittag. Sie wischt die Gänge, putzt die Fenster, entleert den Müll aus sämtlichen Trakten. Dann verteilt sie das Mittagessen. Um 14 Uhr holen alle Mütter ihre Kinder ab. Regina Grabenweger ist wieder dabei. Den Nachmittag dürfen Sarah und Maxi und die anderen Mütter im Park verbringen. Dort gibt es Ziegen und einen Spielplatz. Wenn es regnet, sitzen sie im Aufenthaltsraum. Der schaut aus wie eine Mischung aus Kinderzimmer und Küche mit Fernseher.

Bobby Car fahren bei Kriminellen

Es gibt auch einen Innenhof, den sich die Mütter mit anderen Inhaftierten teilen. Dort drehen verurteilte Mörderinnen ihre Runden oder Dealerinnen oder sogar Frauen, die ihre eigenen Kinder verkauft haben. Ist das nicht zumindest unangenehm für eine Mutter, deren Kind mit dem Bobby Car dazwischen her rast? "Jein. Ich habe mit einigen Damen gesprochen, die schwere Straftaten begangen haben", erzählt Sarah. Man dürfe die Taten nicht mit den Personen verwechseln. Es gebe immer Vorgeschichten, die zu den Taten führen. "Seid ich das begriffen habe, ist die Angst weg", sagt Sarah.

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Einmal im halben Jahr machen die Mütter und Kinder mit Regina Grabenweger einen Ausflug, um so etwas wie Normalität vorzuleben. Zuletzt waren sie im Family Park im Burgenland, bald wollen sie auf den Weihnachtsmarkt nach Wien. Regina Grabenweger ist immer in zivil dabei. "Sonst schauen ja die Leute", sagt sie.

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Die 52-Jährige meint, dass es Kinder gibt, die hier im Gefängnis ihre wohl schönste Zeit erlebt haben. Diese Struktur, dieser Alltag. Das sei für viele Mütter schwierig aufrecht zu erhalten, wenn sie zurück in Freiheit sind. Aktuell gebe es eine Insassin in der Mutter-Kind-Abteilung, die bereits als Kind dort mit ihrer Mutter gewohnt hat. "Aus dem Kreislauf von Drogen und Kriminalität auszubrechen, ist schwierig", sagt Grabenweger.

Maxi kann noch nicht sprechen. Dass er weiß, dass er in einem Gefängnis lebt, glaubt Sarah nicht. Selbst wenn, was bedeutet es für einen Anderthalbjährigen? Sie habe ihm noch nicht einmal irgendwas erklärt. Maxi sei ein Papakind gewesen. Das hat sich notgedrungen verändert. Den Vater sieht er jetzt selten, Sarah ist seine einzige Bezugsperson. Die verschlossenen Türen oder Gitter vor den Fenstern würde er nicht bemerken, sagt Sarah. Das alles sei für ihn ganz normal.

»Dem Kind ist es egal, wo es aufwächst, Hauptsache, die Mama ist da«

Die Anstaltspsychologin Birgit Russheim meint, dass die Kinder bis zum vollendeten zweiten Lebensjahr die Örtlichkeit, in der sie leben, nicht bewusst wahrnehmen. "Dem Kind ist es egal, wo es aufwächst, Hauptsache, die Mama ist da", sagt Russheim. Die Sozialarbeiterin Kathrin Neuwirth kümmert sich seit zwei Jahren um die Mütter der Abteilung und kennt die Herausforderungen. Die Mütter stünden ständig unter Beobachtung. "Stellen Sie sich vor, Sie sitzen mit ihrem Kind in der Straßenbahn, und es bekommt einen Trotzanfall. Alle schauen. Alle wissen es besser, und man selbst bekommt den größten Stress, weil man nicht auf sich selbst hören kann." Genau solchen Situationen seien die Mütter hinter Gittern tagtäglich ausgesetzt. Trotzdem sei die Möglichkeit gut, dass Frauen ihre Kinder mitnehmen könnten. Einer der größten Unterschiede zu inhaftierten Väter sei, dass sich Mütter viel größere Sorgen machen würden, um ihre Kinder zuhause. "Wenn Männer inhaftiert sind, kümmern sich sehr oft zuhause die Frauen um alles. Wenn die aber in Haft sind, sind es die Männer häufig nicht gewohnt, sich um die Kinder zu kümmern, oder sie sind selbst in Haft."

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Die Bindung zwischen Mutter und Kind hinter Gittern sei besonders eng. Einen Papa oder eine Oma, die auch mal aufpassen, gebe es schließlich nicht. Deswegen sei eine Trennung nach zwei Jahren hart. "Wir versuchen, das mit den Müttern vorzubereiten", sagt Neuwirth. Auf Ausgang sollten die Frauen versuchen, ihre Kinder erst stundenweise bei einer anderen Bezugsperson zu lassen. Wenn das klappt, sollten die Kinder dann auch mal bei der Oma oder dem Papa übernachten dürfen.

Für Sarah und Maxi beginnen in wenigen Wochen die Ausgänge. Dann dürfen die beiden für 24 Stunden nach Hause. Zum Vater und zu den Geschwistern. Sarah wird Maxi loslassen müssen. Sie hat sich vorgenommen, ihn öfters zuhause übernachten zu lassen, damit er sich daran gewöhnt. Im Sommer feiert Maxi seinen zweiten Geburtstag. Dann wird er von seiner Mutter getrennt.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der Printausgabe von News (News 48/2019) erschienen.

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