"Das Heim war unser Kindergefängnis"

Drei ehemalige Zöglinge sprechen über ihre Erlebnisse in der Kinderwelt Stiefern.

von Eine alte Postkartenansicht des Kinderheims in Stiefern. © Bild: NEWS.AT/Repro/privat

"Er hat uns traktiert, das kann man sich nicht vorstellen. Er hat mich mit einer Hundekette geschlagen und mit einem Gewehr in meine Richtung geschossen", sagt Georg H., 43, im Gespräch mit NEWS.AT. Mit "Er" ist ein Verantwortlicher des Heims gemeint. Derzeit steht der Mann im Fall eines Ex-Zöglings wegen Körperverletzung und gefährlicher Drohung vor Gericht. Im Verfahren bekennt er sich nicht schuldig. Und auch die Geschäftsführerin des Heims, seine Ehefrau, weist sämtliche Vorwürfe ehemaliger Heimkinder zurück. Die drei Betroffenen kämpfen dennoch; dafür, dass ihnen endlich jemand zuhört und für eine gerechte Entschädigung.

Misshandlungsopfer aus der "Kinderwelt Stiefern"
© NEWS.AT Georg H., ein ehemaliges Heimkind von Stiefern.

Georg H. kramt in einem Wiener Café in seinen Unterlagen, darunter Akten aus seiner Zeit im Heim. Ihm gegenüber sitzen Peter S., 47, und Bernhard G., 43, ebenfalls ehemalige Heimkinder. "Lesen Sie das, dann verstehen Sie", sagt H. und zückt einen Bericht der Opferschutzorganisation "Weißer Ring". Und inmitten einer Kaffeehaus-Atmosphäre mit klimpernden Tassen und Alltagsgesprächen taucht plötzlich eine völlig andere Welt auf: "[...] Georg H. und ein anderes Kind wurden verdächtigt, den Diebstahl (eine Geldkassette, Anmerkung d. Red.) begangen zu haben. Die zwei wurden ins Büro geholt und drei Tage lang abwechselnd blutig geschlagen. Einer wurde geschlagen, der andere musste einstweilen in der Ecke stehen und warten. Wenn sie blutig waren von den Schlägen, wurde ihnen das Blut abgewaschen und dann wurden sie weiter verprügelt. In diesen drei Tagen gab es für sie weder etwas zu essen noch durften sie schlafen, nur 'Ecke stehen' und abwechselnd verprügelt werden." Ein Vorfall von vielen, die in dem Bericht erscheinen.

Heim mit Familientradition

Die Tradition der "Kinderwelt Stiefern" im Bezirk Krems-Land reicht bis zum Zweiten Weltkrieg zurück; ein Familienbetrieb durch und durch und von Generation zu Generation weitervererbt. Im Jahr 1945 schließt das Wiener Jugendamt (Mag Elf) einen Vertrag mit dem Heim ab, seitdem schicken die Behörden aus Wien und Niederösterreich laufend neue Kinder. Die Heimleiter leben immer in nächster Nähe zu ihren Schutzbefohlenen; Haupthaus und Wohnanlage liegen nur wenige Meter voneinander entfernt. Ende der 1970er Jahre übernimmt das Ehepaar P. die Heimleitung, ihr Sohn, ein Arzt und der jetzige Eigentümer der Liegenschaft, studiert zu diesem Zeitpunkt noch. Die ehemaligen Heimkindern erinnern sich noch gut an ihn: "Er hat sich oft auf dem Heimgelände aufgehalten und uns immer wieder geschlagen", wirft Georg H. dem Verantwortlichen vor.

Mit einer Hundekette soll der Gesellschafter den Zögling verprügelt haben. "Ich habe schützend meine beiden Hände über den Kopf gelegt und erlitt durch die Schläge mit der Kette an der linken Hand an mehreren Fingern an der Handaußenseite einen Bruch", sagt H. in seiner polizeilichen Vernehmung aus. Innerhalb von drei Monaten muss er drei Mal wegen Knochenbrüchen an der Hand ins Spital nach Krems. Dort dokumentiert der Arzt jedes Mal: Selbstverschulden des Kindes. Heimakten, die NEWS.AT vorliegen, dokumentieren zwei der Vorfälle. "Beim Arzt durfte ich nichts sagen, die Heimleitung hat für mich gesprochen", teilt H. mit.

Auch Peter S. denkt an einen Vorfall zurück, den er sogar bei der polizeilichen Zeugenvernehmung angibt: "Der Hund war immer bei ihm (der Gesellschafter; Anmerkung d. Red.) . Wenn er uns geschlagen hat, ist der Hund aggressiv geworden. Das hat er solange getrieben, bis der Hund nach dem Kind geschnappt hat."

Traumatisiert fürs Leben

Erst vor rund drei Jahren durch den Fall Wilhelminenberg beginnen die ehemaligen Heimkinder ihre Erlebnisse aufzuarbeiten. Immer wieder kriechen alte Erinnerungen an die Zeit im Heim hoch. Manche bleiben für immer verschollen. "Ich kann mich an vieles nicht mehr erinnern", sagt Peter S. "Weil man es verdrängt", kommentiert Bernhard G. In Gesprächen mit dem "Weißen Ring" schildern die drei früheren Zöglinge unabhängig voneinander ihre Erlebnisse erstmals detailliert, ein sogenannter Clearing-Bericht wird verfasst. Er hält fest, was heute für viele Opfer immer noch kaum in Worte zu fassen ist.

Ein Dokument eines Misshandlungsopfers aus dem Kinderheim Stiefern.
© NEWS.AT Ein Auszug aus einem Clearing-Bericht.

"Die Hühner haben die Kinder am nächsten Tag zum Mittagessen bekommen", erzählt Georg H. Acht Jahre lang lebt er - und auch einige seiner Geschwister - in der Kinderwelt Stiefern; für ihn ein acht Jahre andauernder Albtraum. Die Folgen spüren die Ex-Heimkinder bis heute. "Wir sind alle noch in psychologischer Behandlung. Viele ehemalige Heimkinder, mit denen wir zusammen dort waren, sind inzwischen gestorben. Sie haben sich das Leben genommen", sagt H. Über den "Weißen Ring" erhält er von der Stadt Wien schließlich eine Entschädigung, ebenso wie Peter S. und Bernhard G. Strafrechtlich ist alles bereits verjährt. Melden sich jedoch weitere Betroffene, könnte die Verjährungskette greifen, dann besteht die Chance auf einen Prozess. Doch warum haben sie so viele Jahre geschwiegen? "Uns Heimkindern ist nie geglaubt worden", sagt H. Die Kinder trauen sich damals einfach nicht, sich an das Jugendamt oder die Polizei zu wenden, denn "die waren mit der Heimleitung ständig in Kontakt, haben dort gegessen und sich gut mit den Heimleitern verstanden". Die Gespräche mit den Psychologen gehen zu der Zeit in den Heimakt ein, der wiederum nach Stiefern gelangt. Die Leitung kann also theoretisch Einsicht nehmen. Die Angst der Kinder überwiegt, sie schweigen also.

Erst viele Jahre später verarbeiten die Betroffenen das Erlebte und sprechen offen miteinander darüber. "Bis heute hat es keine offizielle Entschuldigung gegeben", kritisiert Peter S. Immer noch fühlen sich Betroffene im Unrecht, Akten bleiben verschwunden, die Entschädigungen dümpeln im unteren Euro-Bereich dahin. "Ich will endlich eine gerechte Entschädigung, weil meine Kindheit kann mir ja niemand mehr zurückgeben", sagt Georg H.

Heimleitung weist alle Vorwürfe zurück

Die Heimleitung kann sämtliche Misshandlungsvorwürfe nicht nachvollziehen. "Ich kann mit absoluter Sicherheit sagen, dass diese Vorwürfe falsch sind. Es ist immer korrekt und sehr professionell nach den gültigen Standards der Zeit gearbeitet worden", sagt die Geschäftsführerin der "Kinderwelt Stiefern" gegenüber NEWS.AT. Seit dem Tod ihrer Schwiegereltern im Jahr 2007 leitet sie das Heim. Erste Einblicke in die "Heimwelt" bekommt sie aber bereits 1975, damals lernt sie ihren künftigen Mann kennen. Heute existieren neben dem Haupthaus noch weitere Gebäude, in denen rund 70 Kinder untergebracht sind. "Es waren und sind immer noch externe Ärzte, Psychologen und Therapeuten in die Betreuung der Kinder involviert. Die Kinder konnten also zu einer Vielzahl an Personen ein Vertrauensverhältnis entwickeln", versichert die Geschäftsführerin. Die Ausbildung der Kinder passiere zudem auf öffentlichen Schulen. Auch der Kontakt zu Freunden sei erlaubt. "Es hat nie gewalttätige Übergriffe, egal durch wen, auf Kinder in Stiefern gegeben", sagt die Heimleiterin, "besonders nicht durch meinen Mann." Außerdem sei über die Jahre hinweg keinem Externen je etwas aufgefallen. Und das hätte doch jemand bemerken müssen, teilt sie mit.

Die Heimkinder erzählen also Lügen? "Diese Fälle von Gewalt hat es nie gegeben", sagt die Geschäftsführerin. Strafen oder Konsequenzen für schlimmes Benehmen in Form von Schlägen oder Essensentzug lehnt sie strikt ab. In Stiefern herrscht die Pädagogik, nicht die rohe Gewalt, so die Leiterin. Heimkinder hätten oft eine sehr schwere Vergangenheit hinter sich, meist in Verbindung mit Gewalterfahrungen in der frühen Kindheit. Die Fremdunterbringung werde ihnen dann praktisch aufgezwungen. "Das führt natürlich dazu, dass sie sich sehr ambivalent gegenüber der Einrichtung verhalten, die als Helfersystem gedacht ist. Sie wenden sich dann oftmals gegen die Menschen, denen sie anvertraut sind oder gegen Menschen, die sie mit dieser Institution in Verbindung bringen", sagt die Leiterin von Stiefern. Und erklärt weiter: "Das Heim besteht seit dem Zweiten Weltkrieg, seitdem sind tausende Klienten durch unsere Einrichtung gewandert. Man muss das daher in Relation zur Gesamtzahl an Fällen sehen." Auch könnten bei einigen ehemaligen Zöglingen Projektionen und Verdrängungsmechanismen eine Rolle spielen.

Peter S. wird seit seiner Geburt immer wieder in Kinderheimen untergebracht. Woher er einen Großteil seiner "schweren Vergangenheit" hat, steht für ihn und für alle anderen Betroffenen außer Frage.

Ein Dokument eines Misshandlungsopfers aus dem Kinderheim Stiefern.
© NEWS.AT Ein weiterer Auszug aus einem Clearing-Bericht von H.

Glauben heißt Gerechtigkeit

Insgesamt zwölf betroffene Ex-Heimkinder der "Kinderwelt Stiefern" haben sich mittlerweile gemeldet und schildern unabhängig voneinander schwere Übergriffe. In ganz Wien melden sich im Laufe der Zeit mehr als 2.000 betroffene Heimkinder aus unterschiedlichen Einrichtungen, wie Marianne Gammer, Geschäftsführerin des "Weißen Rings" in Wien, bestätigt. Im Durchschnitt sind Heimkinder im Laufe des Heranwachsens in 4,4 Institutionen untergebracht. Das schlimmste für viele ehemalige Zöglinge ist das Nicht-Glauben. "Das kann retraumatisieren", sagt Gammer und erklärt weiters: "Es kommt immer wieder zu Freisprüchen, weil das Gericht zwar Übergriffe feststellt, aber die Beweislage nicht ausreicht. Für Betroffene führt das wirklich zu schweren Krisen."

Derzeit steht der Gesellschafter von Stiefern vor Gericht. Ein 18-jähriger Ex-Heimbewohner erhebt schwere Vorwürfe; ähnliche Vorwürfe, wie Georg H., Peter S. und Bernhard G. "Ich kann nur hoffen, dass er keinen Freispruch bekommt", sagt S. "Das wäre die nächste Watschn für mich", schließt sich H. an. "Dann wird wieder einem Heimkind nicht geglaubt", sagt G.

Weiterführende Information:

Für Betroffene gibt es die Möglichkeit sich an die Jugendanwaltschaft Wien sowie an die Opferschutzorganisation "Weißer Ring" zu wenden!

Kommentare

brauser49
brauser49 melden

Kommt man jetzt nach über 20 Jahren mit diesen Vorwürfen weil man sieht dass hier Geld zu holen ist.
Warum wartet man bis man über 40 ist?
Es geht wohl um Kohle und die Zeit scheint reif dafür !

freud0815 melden

brauser-manche menschen sind nicht in der lage jahrelang über sowas zu sprechen, sowas ist nicht als wenn man von nem lehrer erzählt der einem fies bewertet hat oder ein nachbarsburschi der einem das fahrrad platt machte-die meisten betroffenen nehmen ihre geschichte mit ins grab-traurig aber wahr.

Ehm, nein, das muss man überhaupt nicht "in Relation zur Gesamtzahl sehen". Wie kann man den ein Kind mehrmals blutig schlagen, von den anderen Sachen ganz zu schweigen, das ist doch bitte nicht normal. Wie konnte irgendwer denken, dass das was bringt?! Oder auch nur annähernd okay ist. Pfui Teufel.

Einfach nur Schrecklich!!!

Autofahrer werden wegen jeder Kleinigkeit gestraft. Wenn aber Kinder offensichtlich jahrelang gequält werden schreitet unsere "unabhängige" Justiz nicht ein!

Warum streicht man die Namen der Übeltäter durch ? Solche Menschen gehören der Öffentlichkeit präsentiert!

Tavington melden

wie kann sowas verjähren? das österreichische gesetz schützt die perverslinge und pädophile?! eine schande!

christian95 melden

100% richtig!
Das sehe ich auch so.

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@stabilis: Sie haben recht - das entschuldigt nichts. Mit dem zweiten Teil Ihrer Aussage bin ich nur bedingt einverstanden. Auch in autoritären Zeiten gibt es Menschlichkeit, Anstand und Moral. Man muss pervers sein und ein Sadist, um solches zu tun.

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Auch nur bedingt einverstanden. Gott sei Dank gibt es anständige und moralische Menschen in autoritären Zeiten, aber unter bestimmten Voraussetzungen ( Gruppenverhalten, usw.) können auch "normale" Menschen Ungeheuerliches vollbringen.

Ist zwar ein anderes Thema, aber lesens mal die aktuelle Titelgeschichte im Profil
http://www.profil.at/articles/1401/985/371167/holocaust-das-boese

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Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein "normal" gepolter Mensch zu solchem Tun fähig ist - auch in autoritären Zeiten nicht. Allerdings: Die Zahl derer, die latent sadistisch und pervers veranlagt ist, ist - denke ich - doch sehr, sehr hoch. Nur dürfen diese sich heute nicht mehr "austoben" - außer in der Kirche vielleicht.

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Noch etwas: Natürlich gibt es Zeiten, in denen auch moralische Menschen zu Verbrechen fähig sind - wenn Sie dazu gezwungen werden. Niemand hat aber in diesem Heim jene, die Böses tun, dazu gezwungen. Die haben das alles freiwillig getan, wahrscheinlich auch noch mit großer Lust.

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Doch, doch, auch normal gepolte sind zu solchem Tun fähig. Um nochmal auf die profil-Geschichte und Zwang zurückzukommen. 500 Männer ( im Zivilleben großteils Arbeiter und kleine Angestellte )des Hamburger Batallions hatten die Aufgabe alle Bewohner eines jüdischen Dorfes zusammenzutreiben und zu erschießen. Der Kommandant des Batallions stellte angesichts dieser "unangenehmen Aufgabe" den Männern frei mitzumachen oder es nicht zu tun. Von den 500 haben gerade mal 10 abgelehnt. Alle anderen taten freiwillig mit, also ganz ohne Zwang. Im Zuge der Nürnberger Prozesse wurden dann bei vielen psychologische Gutachten erstellt, weil man vermutete, ein Mensch der zu solchen Grausamkeiten fähig ist, könne nicht richtig ticken. Das Ergebnis zeigte psychisch vollkommen gesunde und normale Menschen.

Dort war der Grund Konformismus und Autoritätsgläubigkeit, in den Kinderheimen das Bewusstsein seine eigene Macht gegenüber Schwächeren ausspielen zu können. Alles steckt in jedem von uns, stark sind die, die dagegen ( gegen sich selbst) ankämpfen, aber wenn die Rahmenbedingungen es zulassen ( die kulturelle Messlatte was verwerflich ist und was nicht, ist nicht immer gleich hoch), sind das die Wenigsten. Leider.

Ignaz-Kutschnberger
Ignaz-Kutschnberger melden

Also @higgs70... um es auf den Punkt zu bringen: Eine gewisse "Drecksau" steckt in jeder/jedem von uns ...oder wie :)

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Das weiß ich nicht, was ich damit sagen wollte war lediglich, dass jemand, der Grausames tut nicht zwangsläufig psychisch krank ist.

stabilis melden

In jedem (!) Heim oder Internat gab es ÜBergriffe die nach heutigem Wertegefühl strafbar gewesen wären - es war aber eben eine andere, sehr autoritäre Zeit und der Wert des Individuums ist wesentliche geringer gewesen. Das entschuldigt nichts, erklärt aber einiges. Sexuelle Übergriffe waren nur ein Teil der autoritären Gewalt.

Loonix melden

Da haben sie in jedem Fall recht. Es müssen die Namen derer genannt werden, die die Kinder misshandelt haben. Nur so können diese Verbrechen an wehrlosen Kindern aufgearbeitet werden.

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