"Die Kinder dürfen
ja nicht hungern"

Mütter erzählen von einem Weihnachten ohne Geschenke

Auch in Österreich, einem der reichsten Länder der Welt, gibt es Armut. Zur Weihnachtszeit tut sie besonders weh. Vor allem den Kindern. Zwei Frauen erzählen, wie es ist, wenn man jeden Euro dreimal umdrehen muss und nicht mehr richtig mithalten kann

von Kinderarmut - "Die Kinder dürfen
ja nicht hungern" © Bild: shutterstock

Schreibts auf, was 's glaubts", sagt Andrea Mayer (Name von der Redaktion geändert) vor Weihnachten zu ihren Kindern. Aber die wissen wie alle Kinder, dass das Christkind nicht alles bringt, was auf dem Wunschzettel steht. Ihnen ganz besonders wenig. Jonas (zehn) träumt von einer Spielkonsole, aber bei dem Traum wird es bleiben. Seine Mutter müsste drei Jahre lang darauf sparen. Kleinere Wünsche kann sie ihm gleich erfüllen. 20 Euro in drei Monaten beiseitezulegen für ein Gameboy-Spiel zum Beispiel, das schafft sie.

Die Weihnachtsbeleuchtung in den Einkaufsstraßen glitzert mit den Waren in den Schaufenstern um die Wette, aber längst nicht alle können teilhaben an dieser schönen Konsumwelt. Manche gehen nicht einmal mehr vor den Schaufenstern spazieren und tun so, als ob. Frau Mayer zum Beispiel. Seit zwei Wochen lebt sie mit ihren drei Kindern in einem Mutter-Kind-Heim der Caritas in Wien. Sie ist arm. Das bedeutet neben vielen anderen Dingen auch, dass sie nicht mehr Teil der gesellschaftlichen Normalität ist. Wegen eines Bechers Punsch auf dem Christkindlmarkt hätte sie tagelang ein schlechtes Gewissen. An Kino oder dergleichen ist nicht zu denken. Andrea Mayer geht nicht mehr viel außer Haus.

Die stressigste Zeit

Weihnachten, für viele die schönste Zeit im Jahr, ist für sie eine besonders stressige. Wegen der hohen Ausgaben. Die Geschenke der Kinder bleiben oft auf der Strecke, sagt sie. Noch mehr auf der Strecke bleibt sie selbst. Cola, "das echte", gönnt sie sich, eine Flasche muss vier Tage reichen. Eine Schnitzelsemmel beim Schnitzelwirt wäre Luxus. Aber dann rechnet sie sich aus, dass sie mit den drei Euro einen Liter Milch und etwas Schinken für die Kinder kaufen könnte, und verzichtet doch lieber.

© News Ricardo Herrgott Yvonne Leitgeb mit ihrem Sohn Niklas (7)

Auch Yvonne Leitgeb empfindet die Weihnachtszeit als belastend. Die alleinerziehende Mutter des siebenjährigen Niklas muss nach Deckung der Fixkosten mit 350 Euro im Monat auskommen. Geschenke, Christbaum, Holz für die Beheizung der 70-Quadratmeter-Erdgeschoßwohnung - zu dieser Jahreszeit sind nicht nur die Erwartungen, sondern auch die Ausgaben besonders hoch. Und das bei einem Budget, das schon aus dem Gleichgewicht gerät, wenn der Bub zwei Wochen nach Schulstart sein Federpennal verliert. Die Kosten für die Schultasche im Herbst übernahm die Diakonie und half auch davor immer wieder mit Lebensmittel-und Holzspenden aus. "Ich weiß nicht, was ich ohne diese Hilfe getan hätte."

»Die Angst, es nicht zu schaffen, ist riesig. Die Leute spüren, dass man nicht verlieren darf«

Alleinerziehende Frauen wie Yvonne Leitgeb und Andrea Mayer sind besonders häufig von Armut betroffen, sagt Martin Schenk, Armutsexperte der Diakonie. Und damit auch deren Kinder. Während die Zahl der Armen und Armutsgefährdeten in den letzten Jahren ungefähr gleich geblieben sei, hätten jene Fälle zugenommen, in denen eine Mischung aus prekärem Job und psychischer oder physischer Erkrankung zum finanziellen Absturz führte. Erschöpfungsdepressionen seien ein großes Thema -der psychische Apparat bricht infolge chronischen Stresses und ständiger Konflikte irgendwann zusammen. Dazu kommt, dass der Anspruch größer geworden ist, sagt Schenk. "Die Angst, es nicht zu schaffen, ist riesig. Und den Gestrauchelten wird von der Gesellschaft eine gewisse Mitleidlosigkeit entgegengebracht. Die Leute spüren, dass man nicht verlieren darf."

Besonders dramatisch ist es, wenn Frauen und Kinder obdachlos werden. Ein fast unsichtbares Phänomen. Frau Mayer war davon betroffen. Ihr Ex-Lebensgefährte schmiss sie aus der gemeinsamen Wohnung. Im Mutter-Kind-Haus Luise der Caritas darf sie jetzt zwei Jahre bleiben und wieder zu Kräften kommen.

»Ich esse nur, was übrig bleibt, und wenn nichts übrig bleibt, esse ich nichts. Ich habe immer das Gefühl, es ist zu wenig da, und die Kinder dürfen ja nicht hungern«

Sie hat Glück, dass sie aufgenommen wurde. Die Bedingungen wurden durch den Fördergeber, den Fonds Soziales Wien, sukzessive verschärft. Nach welchen Kriterien, sei nicht ganz klar, sagt Klaus Schwertner, Generalsekretär der Caritas Wien. "Wir merken nur, dass es hier öfter als früher zu Ablehnungen kommt." Das neu eröffnete Haus Frida bietet auch wohnungslosen Frauen und Kindern mit Migrationshintergrund, die den Kriterien nicht entsprechen, Platz. Es wird ebenfalls vom Fonds Soziales Wien gefördert. Die Caritas-Mitarbeiter helfen Andrea Mayer nun dabei, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Ihre Finanzen. Und ihre Gesundheit. Denn Armut macht krank, auch körperlich. Sie habe eine Essstörung entwickelt, weil sie zugunsten der Kinder auf das Essen verzichtet, erzählt die gelernte Kindergruppenbetreuerin. "Ich esse nur, was übrig bleibt, und wenn nichts übrig bleibt, esse ich nichts. Ich habe immer das Gefühl, es ist zu wenig da, und die Kinder dürfen ja nicht hungern."

Früher, erzählt Andrea Mayer, habe sie alles getan, um nicht zu zeigen, dass sie nicht mithalten könne. Ihre beiden älteren, schon erwachsenen Kinder trugen Adidas-Schuhe und aßen dafür eine Woche nur Butterbrote. Dann kam der finanzielle Zusammenbruch, und Mayer lernte, dass zuerst Geld für Miete, Strom, Gas, Kindergarten und Schule da sein muss. Auch wenn dann nichts mehr übrig bleibt. Sie begann, H-Milch zu kaufen, das Brot selbst zu backen, und legte 30 Euro pro Woche für Frischwaren zur Seite. Wenn ihre Kinder sich heute darüber beschweren, dass sie in der Schule gemobbt werden, weil sie die falschen Kleider tragen, sagt sie ihnen: "Tut mir leid, wenn du arbeiten gehst, kannst du selber welche kaufen."

Markenkleider

Der siebenjährige Niklas interessiert sich noch nicht für Markenkleider. Aber er fragt seine Mama schon, warum die anderen Kinder ein neues Fahrrad oder eine neue Playstation bekommen und er nicht. Sie versuche, aus der Not eine Tugend zu machen, sagt Yvonne Leitgeb, und ihm zu erklären, dass man nicht immer alles neu kaufen müsse. Das geht eine Weile gut. Aber viele Kinder spüren doch, dass sie anders sind als die anderen. Weniger können, weniger dürfen, weniger gelten. Nach den Ferien sei es besonders schlimm, sagt Frau Mayer, wenn alle anderen Kinder vom Urlaub erzählen.

Bei ihren ist nicht einmal ein Zoobesuch drin. Jonas und seine Schwester, die 13-jährige Lisa, erleben nichts, wovon sie erzählen, womit sie angeben könnten. Den Geburtstag einmal im Indoor-Spielplatz zu feiern, das wäre das Schönste, aber: keine Chance. Doch wer nicht einlädt, wird nicht eingeladen und verliert bald den sozialen Anschluss.

© News Ricardo Herrgott

Kinder armer Eltern sind auch oft in der Schule schlechter, weil es zu Hause keine Unterstützung gibt und an teure Nachhilfestunden natürlich nicht zu denken ist. Ihre 13-jährige Tochter, erzählte Andrea Mayer, brauchte kürzlich Hilfe bei einem Englisch-Aufsatz, "aber ich kann ja selber nicht mehr als 'hello' und 'come on'. Wir haben es mit dem Google-Übersetzer versucht, aber das hat gar nicht funktioniert."

Auch psychische Probleme können auf Kinder übergehen, wenn schon die Mamas psychische Probleme haben und unfähig sind, stabile Bindungen herzustellen.Armut ist erblich. Frau Mayer verbrachte ihre Teenagerjahre in einem Heim, mit ihren Kindern kommt sie nun schon zum zweiten Mal in einem Caritas-Haus unter. Yvonne Leitgeb musste als Kind miterleben, wie es ist, delogiert zu werden.

Armutsspirale

Um diese "Armutsspirale" zu durchbrechen, brauche es intensive Beratung und Betreuung, meint Caritas-Generalsekretär Klaus Schwertner. Und einen Umbau des Bildungssystems in dem Sinne, "dass Familien nicht nur mit Strafen unter Druck gesetzt werden, sondern dass Schulen mit mehr Kindern aus sozial schwierigen Verhältnissen, nichtdeutscher Muttersprache usw. mehr Mittel zur Verfügung gestellt werden." Das ganz große Thema der letzten Jahre, das viele Familien vor unlösbare Probleme stelle, sei die Lage am Wohnungsmarkt. Die Kriterien für Gemeindewohnungen wurden verschärft, die Preise auf dem privaten Markt explodierten. Die Caritas fordert von der nächsten Bundesregierung eine Mietrechtsreform, die Wohnen wieder leistbarer machen soll.

Mehr Geld für Gesundheitsprävention, um chronische Erkrankungen und Burnout rechtzeitig verhindern zu können, hält Diakonie-Experte Martin Schenk für wichtig; er ortet dahingehend "einen blinden Fleck" in den Regierungsverhandlungen. Und warnt davor, Hartz-4-Elemente einzuführen. "Davon würde ich abraten. Das wird es nicht verbessern."

» Es wäre wichtig, auf den sozialen Frieden in unserem Land zu achten«

Die ersten Signale der schwarz-blauen Regierung gingen stark in Richtung "Law-and-Order-Politik", meint Klaus Schwertner von der Caritas. "Das beobachten wir mit Sorge. Wenn ich einen Weihnachtswunsch formulieren darf: Es wäre wichtig, auf den sozialen Frieden in unserem Land zu achten."

Yvonne Leitgeb wünscht sich, dass sie bald wieder einen Job findet. Dann, hofft sie, wird es auch finanziell wieder bergauf gehen. Niklas geht gerne in die Schule. Er lernt gerade lesen, kann schon neun Buchstaben und liebt Fußballspielen. Vielleicht will er Feuerwehrmann werden. Im Fernsehen schaut er gerne "Simpsons". Die Wunschliste an das Christkind ist lang.

Andrea Mayer wird sich am 24. Dezember von ihrer erwachsenen Tochter einen Plastikchristbaum ausborgen und ihn für die kleineren Kinder schmücken. Zu essen gibt es wahrscheinlich kalte Platte. Das Christkind kommt auch ins Haus Luise. Aber die meisten Geschenke wird es dann schon woanders abgegeben haben.

Spenden

Hilfe verschenken

Auf www.schenkenmitsinn.at kann man Spenden an Caritas-Projekte schenken -der Beschenkte bekommt ein Billet mit Infos zum Projekt. Zur Wahl stehen u. a. ein Babypaket (20 Euro) und ein Schlafplatz für Mutter und Kind (33 Euro). Die Diakonie sammelt u. a. für die Projekte "Waki. Krisen-und Notschlafstelle für Jugendliche" und "Lernen mit leerem Bauch? Geht nicht".