Was brauchen Kinder
zum Glücklichsein?

Was brauchen Kinder zum Glücklichsein? Ein gesundes Maß an Selbstständigkeit, gute Bindungserfahrung und Autonomie, sagt Bestsellerautorin Stefanie Stahl. Die Eltern wiederum müssen bereit sein, die Prägungen der eigenen Kindheit aufzuspüren und zu reflektieren.

von Erziehung - Was brauchen Kinder
zum Glücklichsein? © Bild: Ricardo Herrgott

Frau Stahl, Ihr Buch "Das Kind in dir muss Heimat finden"* ist seit drei Jahren in den Top Ten der Bestsellerlisten gereiht. Können Sie jenen, die das Buch noch nicht entdeckt haben, kurz erklären, worum es geht?
Wir alle sehnen uns danach, angenommen und geliebt zu werden. Doch auch erfahrene Kränkungen prägen sich ein und bestimmen unbewusst unser Beziehungsleben. Das Schattenkind, um das es in diesem Buch geht, ist ein Symbol für diese vergangenen Verletzungen, für alte Kindheitsprägungen. Durch diese Prägungen sehen wir die Welt. Das manifestiert sich in Glaubenssätzen wie zum Beispiel: "Ich genüge nicht", "Ich bin nicht wertvoll" oder "Ich muss lieb und artig sein". Diese Glaubenssätze bestimmen im Erwachsenenleben ganz weitreichend, wie wir fühlen, denken und uns verhalten.

Sie sagen, man muss nicht in die letzte Provinz seiner Seele latschen, um eine Heimat für das innere Kind zu finden, sondern nur den roten Faden finden. Wo fange ich mit der Suche an?
Indem ich mir bestimmte Fragen einmal stelle und indem ich schaue: Wie waren meine Eltern drauf? Und indem ich in mich hineinspüre, zu welchen tiefen inneren Überzeugungen ich deswegen gekommen bin. Eltern haben einen großen Einfluss, auch wenn das manche nicht hören wollen. Es geht aber nicht darum, den Eltern die Schuld zu geben. Es geht vielmehr darum, zu verstehen, was mich geprägt hat und wie ich aufgewachsen bin.

"Nestwärme, die Flügel verleiht"* heißt Ihr neuester Ratgeber. Diesmal nehmen Sie die Eltern ins Visier. Gibt es besonderen Redebedarf?
Meine Co-Autorin und ich haben bewusst keinen Erziehungsratgeber geschrieben. Die gibt es wie Sand am Meer. Wir haben einen anderen Fokus. Wir schauen auf die Eltern - und zwar genau unter dieser Fragestellung: Wie kannst du es schaffen, möglichst wenig von deinem eigenen Schattenkind und deinen eigenen Prägungen, die ja nicht nur gesund waren, unbewusst auf dein Kind zu übertragen? Dabei geht es nicht nur um Schwächen und Defizite. Es geht auch um die Stärken. Aber was auf der einen Seite eine Stärke sein kann, kann natürlich auch - wenn es zu viel ist -ein Problem sein.

»Es geht darum, zu verstehen, was mich geprägt hat und wie ich aufgewachsen bin«

Ein Beispiel bitte.
Ein Elternteil hat in seinem eigenen Elternhaus ein Defizit von Liebe, Geborgenheit und Verständnis erfahren. Er hat jetzt drei Möglichkeiten. Die erste Möglichkeit: Er gibt dieses Defizit an seine Kinder weiter, weil für ihn war das ja alles normal. Also behandelt er seine Kinder ähnlich, wie seine Eltern ihn behandelt haben. Die zweite Möglichkeit: Er reflektiert das und nimmt sich vor: Ich werde das ganz anders machen. Jetzt kann es passieren, dass das in das andere Extrem kippt - und ein Zuviel wird. Das heißt, die Kinder werden überbehütet und dadurch die Autonomie, die Entwicklung zur Selbstständigkeit - ohne dass das eigentlich gewollt ist - behindert. Die dritte Möglichkeit: einfach ganz viel richtig machen. Also weder überkompensieren noch die Eltern wiederholen mit ihren Defiziten und den Kindern alles mitgeben, was sie brauchen: ein gutes Maß an Bindung und ein gutes Maß an Autonomie. Das ist der reflektierte Weg. In der Kindererziehung geht es immer um Bindung und Autonomie. Kinder brauchen Bindung, Zuneigung und Liebe. Sie brauchen aber auch Freiheit und Selbstständigkeit. Viele Eltern sind da ein bisschen aus der Balance. Sie gehen entweder zu sehr auf die Seite der Bindung und sind zu überbehütend, binden die Kinder zu eng an sich, bemuttern zu viel. Oder sie sind zu sehr auf der Seite der Autonomie. Das heißt, sie können zwar die Freiheitsbedürfnisse ihres Kindes fördern, aber sie schaffen es nicht so gut, die Bindungsbedürfnisse zu erfüllen.

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Gibt es Unterschiede zwischen Müttern und Vätern?
Die Geschlechterverteilung auf den Polen "Nähe" und "Autonomie" hat typische Tendenzen. Frauen sind eher angepasst, Männer eher autonom. Wir sagen aber ganz bewusst "eher", weil es sich wirklich nur um Tendenzen handelt. Es gibt auch angepasste Männer und autonome Frauen. Und es ist auch keineswegs nur so, dass alle Mütter immer bindungsorientierter sind. Tendenziell neigen Mütter eher zum fürsorglichen Pol und Väter fühlen sich dem Pol näher, der das Kind herausfordert und in die Selbstständigkeit bringt. Beide Stärken zusammen sorgen dafür, dass das Kind am Ende gut versorgt ist und mutig die Welt erkundet. Wenn wir das akzeptieren und die Stärke in jeder Rolle sehen, könnten viele Streitereien vermieden werden. Leider ist es manchmal so, dass jeder annimmt, seine Sicht auf die Dinge sei die richtige.

Apropos Autonomie: Bei Müttern und Vätern gleichermaßen ein großes Thema ist das Loslassenkönnen - etwa in der Pubertät. Wie gehe ich damit am besten um?
Auch das hängt viel mit den eigenen Ängsten zusammen, den eigenen Sorgen, der Verlustangst, der Angst, dem Kind könnte etwas passieren. Auch hier ist der Ansatz, erst mal bei sich selbst zu schauen: Wo sind meine Ängste? Und dann braucht es wieder den Realitätscheck: Sind diese Ängste angemessen oder völlig übertrieben? Im Zweifelsfall muss man seine eigenen Ängste managen, ohne das Kind damit ständig zu belästigen. Das Kind darf nicht für die eigenen Ängste herhalten müssen - etwa durch alle möglichen Verbote oder Freiheitsentzug.

Wie groß ist die Bereitschaft der Eltern, sich auf diese Reflexion einzulassen? Das kann ja auch durchaus ein schmerzhafter Prozess sein.
Viele Eltern sind dazu bereit, über sich nachzudenken, sich in Frage zu stellen. Andere sagen: "Ich will keine Tipps. Ich mache das alles intuitiv."

Aber mit der Intuition ist das so eine Sache. Sie ist kein Allheilmittel, wenn es um die Erziehung geht, oder?
Es lohnt sich, darüber nachzudenken, wovon meine Intuition geprägt wurde. Schließlich speist sich die Intuition nicht immer nur aus gesunden Quellen. Wenn das Bauchgefühl eher aus meinem Schattenkind entsteht, kann ich mit Bauchgefühl und Intuition auch einiges verkehrt machen.

© Ricardo Herrgott

Was sind die ersten Fragen, die ich mir stellen muss?
Wie haben meine Eltern meine Bindungsbedürfnisse erfüllt? Waren sie fürsorglich, liebevoll? Habe ich mich verstanden gefühlt? Waren meine Eltern emphatisch? Durfte ich meine Gefühle ausleben? Und dann sollte man sich anschauen, zu welchen tiefen inneren Überzeugungen, zu welchen Glaubenssätzen ich gekommen bin, dadurch, dass meine Eltern so waren, wie sie waren. Habe ich Glaubenssätze wie "Ich darf so sein wie ich bin", "Ich bin liebenswert","Ich bin okay","Ich bin erwünscht"? Oder habe ich Glaubenssätze wie "Ich muss mich anpassen", "Keiner versteht mich", "Ich genüge nicht"? In Hinblick auf die Autonomie kann ich mich fragen: Wie war es daheim? Haben meine Eltern meine Selbstständigkeit gefördert? Durfte ich mich ohne Schuldgefühle lösen? Wie sind meine Eltern mit meiner Wut umgegangen?

Erklären Sie das mal.
Ein Mann kam zu mir in die Sprechstunde, weil er immer fürchterliche Machtkämpfe mit seinem dreijährigen Sohn hatte, der sehr willensstark und trotzig war. Der Vater war ein ganz netter Typ, Akademiker, ein zugewandter Vater. Aber an dem Punkt flippte er immer aus. Wir fanden sehr schnell heraus, dass er durch seine eigenen Prägungen den Glaubenssatz hatte: "Ich werde nicht respektiert!" Er hatte noch viele Geschwister, er fühlte sich oft übergangen. Und immer wenn der Kleine einen Trotzanfall bekam, blieb der Vater nicht in seinem Erwachsenen-Ich, sondern dachte: "Der Sohn akzeptiert mich nicht" - und ist auf 180 gegangen. Es geht darum, herauszufinden, welche Knöpfe meine Kinder bei mir immer wieder drücken. Welches alte Thema, das eigentlich gar nicht in das Hier und Heute gehört, taucht immer wieder auf? Es geht um das bewusste Ertappen - und um das bewusste Umschalten: Hey, das ist ein altes Thema von mir. In dem Moment, wo er das Verhalten seines Sohnes nicht mehr durch seine Schattenkind-Augen gesehen hat, sondern durch die Augen des Erwachsenen, konnte er viel gelassener damit umgehen.

Einzig elterliches Einfühlungsvermögen lässt Nestwärme entstehen, heißt es in Ihrem Buch. Auf welche Weise kann man sich im empathischen Umgang mit seinem Kind üben?
Es geht immer wieder um die Selbsterkenntnis. Es geht darum, dass man die eigenen Bedürfnisse nicht immer wieder auf das Kind überträgt -etwa wenn man als Mutter ein großes Kuschelbedürfnis hat, weil das in der eigenen Kindheit zu kurz gekommen ist. Das ist der allerwichtigste Schritt. Man darf die Welt da draußen und die eigenen Kinder nicht immer durch die Brille der eigenen Verletzungen und Bedürfnisse wahrnehmen. Einfühlen heißt also, das Kind genau wahrzunehmen. Genau hinzugucken, hinzuhören und anzuerkennen, dass das Kind ein anderer Mensch ist als ich selbst. Und nicht immer die eigenen Gefühle auf das Kind projizieren.

»Man darf die Welt nicht immer durch die Brille der eigenen Verletzungen und Bedürfnisse wahrnehmen«

Das fällt vielen schwer, oder?
Das ist in all unseren Beziehungen ein großes Thema. Wir alle haben eine subjektive Brille auf der Nase, durch die wir die Welt betrachten. Wenn ich den Glaubenssatz "Ich genüge nicht" habe und jemand lächelt mich freundlich an, kann es passieren, dass ich denke: "Was grinst der denn so blöd?" Eben weil ich das durch die Brille meines schlechten Selbstwertgefühls sehe.

Aber es ist nicht immer die Zeit, zu reflektieren, tief in mich zu gehen ...
Richtig. Aber ich kann feststellen, was meine typischen Schattenkinder sind und wie die sich äußern - etwa ein Kloß im Hals. Das kennt jeder. Wenn man das einmal für sich diagnostiziert, merkt man schnell, da ist wieder das typische Schattenkind-Gefühl -und kann die Situation ganz anders bewerten. Es wird klarer, wo ich aufpassen muss. Wenn ich etwa weiß, dass ich die Neigung habe, Dinge negativ zu sehen, laufe ich nicht so schnell Gefahr, alles auch gleich negativ zu deuten.

Dieses Gefühl, "ich bin Schuld", kennen viele. Woher kommt das?
Das ist eine ganz alte Konditionierung aus der Kindheit. Kinder sind immer schuld und Eltern unantastbar -zumindest durch die Kinderaugen gesehen.

Ihr Buch hat eine beruhigende Botschaft: Es ist nie zu spät, gute Eltern zu sein.
Ja, auch bei großen Kindern ist es wahnsinnig heilsam für die Kinder, wenn die Eltern sagen: "Es tut mir leid. Da und da habe ich damals übertrieben reagiert. Das würde ich heute anders machen, ich war überfordert, das war nicht okay." Das bringt so viel Erlösung. Wir sind keine perfekten Eltern. Alle Eltern machen Fehler. Das ist völlig normal -aber abstreiten ist doof. Eltern haben eine große Verantwortung und sie können mit ihrem Verhalten viel bewirken - im Guten wie im Schlechten. Wenn ich eine gute Beziehung zu meinem Kind hinkriege, dann klappt es meistens auch mit der Erziehung. Aber was nützen mir die ganzen Erziehungstricks und -tipps, wenn die Beziehung nicht stimmt?

Gilt das auch für Großeltern?
Ja, natürlich. Aber wir wollen es nicht zu kompliziert machen. Die Großeltern haben in der Regel nicht mehr ganz so die Reichweite wie die Eltern. Und die Großeltern dürfen auch ein bisschen verwöhnender sein.

Zur Person: Stefanie Stahl Die deutsche Erfolgsautorin ist Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin und beschäftigt sich vor allem mit den Themen Bindungsangst, Stärkung des Selbstwertgefühls und Arbeit mit dem "inneren Kind". Ihre Bücher erreichen ein Millionenpublikum. "Das Kind in dir muss Heimat finden" ist seit mittlerweile drei Jahren in der "Spiegel"-Bestsellerliste. Weiterer Bestseller: "Jeder ist beziehungsfähig".

Dieses Interview erschien ursprünglich im News Nr. 35/2019.

Die Bücher

Das Buch "Nestwärme, die Flügel verleiht: Halt geben und Freiheit schenken - wie wir erziehen, ohne zu erziehen" finden Sie hier.*

Das Buch "Das Kind in dir muss Heimat finden: Der Schlüssel zur Lösung (fast) aller Probleme" finden Sie hier.*

Das Buch "Jeder ist beziehungsfähig: Der goldene Weg zwischen Freiheit und Nähe" finden Sie hier.*

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