Keith Richards:
Kein bisschen leise

Brutal ehrlich und schlagfertig. Keith Richards war schon immer der unterhaltsamste der Rolling Stones. Liebevoll watscht er zum aktuellen Tourstart Altersgenossen und Mick Jagger ab und gibt sich herrlich befreit von jeder Reue.

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Brutal ehrlich - Keith Richards:
Kein bisschen leise

Keith Richards hat sich seit Weihnachten keinen Drink mehr genehmigt. Widerwillig gibt der Gitarrist diese Abstinenz zu. Immerhin ist er für sein Rock-’n’-Roll-adäquates Leben bekannt. "Ich sage nicht, dass ich für immer weg bin vom Alkohol", protestiert er. "Vielleicht trinke ich in sechs Monaten wieder. Aber im Moment bin ich tatsächlich seit Monaten trocken." Auf die Frage, wie er das Leben ohne Alkohol findet, kichert er reumütig. "Es ist ganz neuartig."

Dafür raucht das 74-jährige Gründungsmitglied der Rolling Stones unaufhörlich und klingt, als wären seine Stimmbänder in dicke Fellschichten gehüllt. Zigaretten und Kaffee seien die einzigen Laster, die ihm geblieben sind, betont er. Dem grassierenden Trend zu verschreibungspflichtigen Medikamenten, etwa Xanax oder Percocet, unter Jugendlichen begegnet er mit beeindruckender Verächtlichkeit. "Drogen sind doch heutzutage total uninteressant. Sie wurden institutionalisiert und sind langweilig geworden. Und außerdem gibt es nichts, das ich nicht schon probiert hätte."

Sein ansteckendes, kehliges Lachen braust immer wieder auf wie eine Warnung, dass dieser Mann noch zu vielen Schandtaten bereit ist. Richards galt schon immer als der unterhaltsamste Gesprächspartner der Rolling Stones. Er ist brutal ehrlich und schlagfertig. Die jüngste Anhäufung von Abschiedstourneen zahlreicher Musikerkollegen lässt ihn freudig rufen: "Mehr Raum für uns!"

Ein Affe mit Arthritis

Zu Elton Johns Ankündigung, die nächsten drei Jahre auf Abschiedstour zu verbringen, sagt er: "Nach drei Jahren unterwegs mit Elton John ist doch jeder bereit für den Ruhestand. Ich nehme ihn beim Wort!" Hinter den beiden liegt ein jahrelang dauernder Streit. So nannte der 71-jährige Elton John den drei Jahre älteren Richards einst ein "Arschloch", das aussähe wie "ein Affe mit Arthritis". Aber Richards ist heute in friedvoller Stimmung. "Elton ist ein liebenswerter, alter Schatz", sagt er über den einstigen Sparringpartner. "Das Alter hat ihn milde gemacht." Auf die Frage, ob er John vermissen wird, wenn er einmal nicht mehr ist, wird Richards dann noch einmal deutlich: "Nicht ein bisschen."

Ebenso unmissverständlich antwortet er auf die Frage, was den Rolling Stones einst ihren langen Atem abschnüren könnte: "Wenn einer von uns umkippt." Schlagzeuger Charlie Watts hat bereits kundgetan, dass es ihm nicht leidtäte, wenn die Stones in Rente gingen. Doch Richards beharrt darauf, dass die Band in keiner Weise an Ruhestand denkt. "Niemals hat einer von uns auch nur ein Wort darüber verloren. Vermutlich wird der Tag irgendwann kommen, an dem wir darüber sprechen, uns zurückzuziehen. Aber bestimmt nicht in naher Zukunft. Wir freuen uns alle darauf, wieder unsere Jobs aufzunehmen." Richards meint die aktuelle "No Filter"-Tournee, die im Herbst des Vorjahres startete und letzte Woche in Dublin fortgesetzt wurde. Bis 8. Juli tourt die Band durch Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Tschechien und Polen. Ihr Österreich-Stopp im Vorjahr in Spielberg lieferte mit 95.000 Fans Tourrekord. Diesmal sind Prag (4.7.) und Warschau (8.7.) die nächsten Konzerte für heimische Fans.

"Es ist einfach ein Vergnügen, mit den Jungs auf die Bühne zu gehen. Ich finde, sie spielen besser als je zuvor. Vielleicht liegt das an der zunehmenden Erfahrung. Wir finden gemeinsam ein besseres Tempo als früher. Es ist für mich wirklich ein Geschenk, mit den besten Musikern aller Zeiten arbeiten zu können. Diese Qualität altert nicht", freut sich Richards. Die Band arbeitet außerdem an einem neuen Album, dem Nachfolger des Coverversionen-Werks "Blue & Lonesome" aus dem Jahr 2016. Richards ist zum Zeitpunkt unseres Interviews gerade dafür in New York. Er ruft aus dem Studio an und verkürzt so die Wartezeit auf Mick Jagger. "Mick ist großartig. Er wird in einer halben Stunde hier sein und dann werden wir gemeinsam Musik machen. Ganz wie immer", sagt Richards.

Keith und Mick in Flammen

Jagger und Richards waren Schulbuben, als sie einander in den Fünfzigerjahren am Bahnsteig in Dartford in der Grafschaft Kent im Südosten Englands trafen. Seit der Bandgründung 1962 sind sie das kreative und musikalische Herz der Rolling Stones. Ein Herz und eine Seele waren sie in den sechs Jahrzehnten nicht immer. Am größten war der Graben zwischen den beiden, nachdem Richards im Jahr 2010 seine Autobiografie "Life" veröffentlicht hatte. Sie enthielt abschätzige Bemerkungen über Jagger, danach war eine Zeit lang fraglich, ob die beiden je wieder gemeinsam Musik machen würden. Doch der Beifall, der ihre Shows begleitete, als sie 2012 wieder auf Tour gingen, half, die Beziehung zu kitten.

"Mick und ich brauchen dieses Feuer zwischen uns. Es hält uns wach", sagt Richards. Er spricht mit überschwänglicher Begeisterung über alle Bandkollegen: "Wir sind wie füreinander geschaffen. Wenn wir uns treffen, fühlt es sich an, wie einen alten Handschuh anzuziehen." Wenn sie nicht gemeinsam auf Tour sind, sehen einander die Mitglieder der Stones (Mick Jagger, Keith Richards, Charlie Watts, Ronnie Wood, Anm.) kaum. "Wir können wunderbar monatelang ohneeinander auskommen. Diese Pausen machen unsere Zusammentreffen von Neuem interessant. Man kommt frisch zurück in die Band. Und dann üben wir wirklich konzentriert und hart. Dann gehen wir richtig in der Band auf."

Meister aller Lebemänner

Konzerte der Rolling Stones in den vergangenen Jahren kann man getrost als außergewöhnlich bezeichnen. Noch immer erreichen sie wendig jene Höhen, die einst ihren Ruf als größte Rock-’n’-Roll-Band der Welt begründet haben. Auf die Frage, ob die Nüchternheit von Richards und seinem Gitarrenkollegen Ronnie Wood zur Punktgenauheit des Zusammenspiels beigetragen hat, bricht Richards in schallendes Gelächter aus. "Well. Alles ist relativ! Wir haben auch in Trunkenheit großartige Leistungen vollbracht!"

Richards’ persönlich liebste Zeit der Stones ("Gott, das ist eine schwere Frage. Sie zu beantworten ist, als müsste man seine Babys in die Hälfte teilen!") ist jene zwischen 1968 und 1972: "'Beggars Banquet', 'Let It Bleed', 'Sticky Fingers', 'Exile' … damals trafen wir wirklich ins Schwarze!"

Natürlich war dies auch die Zeit, als sich Richards’ Sucht nach harten Drogen manifestierte. Damals erwarb er den Ruf, jenes menschliche Wesen auf dieser Erde zu sein, das am elegantesten verlebt aussehen kann. In den für ihre offensichtlich gelebten Ausschweifungen berüchtigten Siebzigerjahren waren die Stones tonangebend. Nun, da die #metoo-Bewegung ein grelles Licht auf den Umgang mit Frauen in der Unterhaltungsindustrie wirft, stellt sich die Frage, ob Richards Gewissensbisse bezüglich seines Verhaltens in früheren Zeiten plagen. "Da müssten Sie schon die Ladys fragen", sagt er. "Ich hatte keine Beschwerden."

Tatsächlich war Richards immer mehr der Eine-Frau-Typ. Über zehn Jahre lang war er mit Model und Schauspielerin Anita Pallenberg liiert, mit der er einen Sohn und eine Tochter hat. Mit Model Patti Hansen ist er seit 34 Jahren verheiratet, die beiden haben zwei Töchter. Pallenberg, eine der großen Lieben seines Lebens, starb vergangenes Jahr. "Ich vermisse sie inniglich", sagt er und klingt für einen kurzen Moment ganz düster. Dann überrascht er wieder mit seinem Lachen: "Möge sie nicht in Frieden ruhen, denn sie hasst Frieden!"

Tot sein sieht anders aus

Mit vielen Todesfällen und Ruheständen unter seinen Altersgenossen scheint es, als würde sich die Rock-’n’-Roll-Ära dem Ende neigen. Junge Gitarrenbands haben Mühe, die Charts zu erobern. Und der legendäre Gitarrenbauer Gibson meldete gerade Insolvenz an. Richards bleibt unverdrossen optimistisch. "Ich glaube nicht, dass Ären zu Ende gehen. Sie verschränken sich und gehen ineinander über. Wenn Rock ’n’ Roll sein Ende erlebt, wann hat er dann begonnen? Er ist doch Teil des Blues. Er gehört zum musikalischen Grundgerüst dieser Welt. Auch in der Mode war ein Zeit lang alles Rock ’n’ Roll, und das dauert natürlich nicht ewig. Aber warten wir’s ab. In den kommenden Monaten spielen wir vor sieben Millionen Menschen. Tot sein sieht anders aus", sagt er.

Für aktuelle Musiktrends interessiert sich Richards nicht wirklich. ("Auch als Kind hörte ich keine aktuellen Songs, sondern altes Zeug.") Aber er bewundert Lady Gaga und vergleicht sie mit Barbra Streisand. Ebenso Ed Sheeran, über den er sagt: "Nette Stimme, nette Songs."

Einer seiner Weggefährten, Quincy Jones, verunglimpfte kürzlich das musikalische Können der größten Konkurrenten der Stones in den Sechzigern, der Beatles. Aber Richards lässt sich nicht dazu verführen, es ihm gleichzutun. "Der Gipfel der Beatles war ihr Songwriting, nicht ihr musikalisches Können. Aber das Songwriting war dem Können ebenbürtig", sagt er und lacht. Vielleicht ist ihm bewusst, dass dieses Lob auch eine Beleidigung sein kann. "Ihre stimmlichen Harmonien waren sehr stark. Da gab es einige interessante Sachen zu hören. Ich will Quincys Meinung nicht geringschätzen, aber, hey, lasst die Beatles in Ruhe."

Sorge um Micks Gelenke

Richards ist bekannt dafür, Geschichtsbücher zu lesen und ein Faible für Jazz, Blues und klassische Musik zu haben. Interessiert er sich für Politik und Tagesgeschehen? "Na ja, heutzutage ist es schwer, sich nicht dafür zu interessieren. Hier haben sie etwa diesen lustigen Kerl als Präsident. Und ich meine nicht lustig wie in: haha." Trump benutzte den Stones-Song "You Can’t Always Get What You Want" in seiner Kampagne. Er betrat dazu seine Bühnen, obwohl die Stones ihn gebeten hatten, es zu unterlassen. "Das sagt doch alles über die Manieren dieses Kerls", bemerkt Richards abschätzig.

Bandkollege Jagger wurde 2003 zum Ritter geschlagen, doch Richards geht nicht davon aus, dass er Jagger einmal im selben Rang begegnen wird. "Die Leute, die diese Ehre austeilen, kennen meine Ansichten zu genau." Er verneint vehement jegliche Bösartigkeit hinter seinen Spötteleien über Sir Mick – und Sir Elton, Sir Paul, Sir Rod, Sir Cliff, Sir Tom und Sir Ray. Doch er kann sich nicht verkneifen, hinzuzufügen: "Ich finde das alles etwas archaisch. Ich dachte immer, Sirs müssen auf dem Schlachtfeld tapfere Taten vollbracht haben und nicht bloß Liedchen trällern."

Man spürt, dass Richards auf diplomatische Art gut über Jagger sprechen will. Sein angeborener Übermut kommt ihm aber als Störenfried stets dazwischen. Er lobpreist den energischen Umgang, den der siebzigjährige Jagger mit seiner Fitness pflegt. Aber er muss einfach anmerken: "Ich mache mir schon Sorgen um seine Gelenke bei all der Joggerei, aber ihm geht’s gut damit." Über seine eigene Fitnessroutine witzelt er nur: "Ich mag keine Routine. Sobald ich draufkomme, dass ich eine habe, tue ich absichtlich alles, um sie zu zerstören."

© 2016 Samir Hussein Sie streiten und sie lieben sich: Jagger und Richards, die "Glimmer Twins", brauchen das Feuer, sagt Richards über die Freundschaft

Genießen bis zum Ende

Auch wenn alle Anzeichen das Gegenteil beschwören, wird es die Stones nicht ewig geben. Keith Richards ist klar entschlossen, die Reise zu genießen, solange sie dauert. "Je länger du deinen Weg gehst und draufkommst, dass er dir gefällt, desto mehr strengst du dich an. Allein die Tatsache, dass wir unsere Shows noch immer mit Leidenschaft zurechtfeilen, gleicht doch einem Wunder."

Richards geht davon aus, dass er auf der Bühne stehen wird, bis er umfällt. Der Tag, wenn es so weit sein wird, bereitet ihm keinerlei Kopfzerbrechen. Das ist ihm wichtig, festgehalten zu werden: "Ich denke nie über den Tod nach. Nie. Ich weiß, dass sich viele andere Menschen Sorgen über ihr Ende machen. Sollen sie sich ruhig ihre Gedanken machen. Ich für meinen Teil lasse es einfach geschehen."

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Printausgabe 21 2018