"Vielleicht öffnet uns die Flut die Augen für die Klimakrise"

Der Vizepräsident des Europaparlaments Othmar Karas über das Versagen der Politik in der Klimakrise und seinen Optimismus, dass die EU dennoch ihren CO2-Ausstoß reduzieren wird. Und: Was die ÖVP aus dem Ibiza-Untersuchungsausschuss lernen sollte.

von Klimakrise - "Vielleicht öffnet uns die Flut die Augen für die Klimakrise" © Bild: Ricardo Herrgott
Othmar Karas begann seine politische Karriere bei der Jungen ÖVP, deren Obmann er 1981 bis 1990 war. Karas war Nationalratsabgeordneter und Generalsekretär der ÖVP, seit 1999 ist er in der EU-Politik. Er war Delegationsleiter der ÖVP und ist Vizepräsident des Europaparlaments. Karas war 1984 Aktivist gegen das Kraftwerk Hainburg. In Grundsatzfragen wie der Aufnahme von Flüchtlingen scheut der 63-jährige Niederösterreicher den Konflikt mit seiner Partei nicht.

In den Tagen der Hochwasserkatastrophen hat die EU-Kommission ihr Klimaschutzpaket präsentiert. Schon melden sich Kritiker, denen alles zu weit geht. Wie optimistisch sind Sie, dass die Klimakrise gestoppt werden kann?
Sehr! Wir sehen ganz deutlich, dass die großen Herausforderungen, vor denen wir stehen, keine lokalen und nationalen Grenzen haben. Das gilt für die Klimakrise ebenso wie für Flucht und Migration. Wir müssen grenzüberschreitend, parteiübergreifend, gemeinsam diese Herausforderungen angehen. Es liegt an uns allen. Die EU ist ja in ihrer Geschichte eine erfolgreiche Antwort der Gemeinsamkeit. Bei der Gründung waren die Herausforderungen Krieg, Nationalismus und Antisemitismus. Die Antwort war: "Setzen wir uns zusammen, statt aufeinander zu schießen."

Und die Antwort heute ist?
Ebenfalls solidarisch zusammenzuarbeiten, aufeinander Rücksicht zu nehmen und füreinander Verantwortung zu tragen. In der Politik ist es leider oft so, dass sie reagiert, anstatt zu agieren. Wir haben beim Klimawandel zu spät agiert, obwohl es jeder gewusst hat, und auch bei den Flüchtlingen.

Warum sind Sie dann so optimistisch?
Ich habe Vertrauen in die Menschen. Wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass die EU am Kapitalmarkt 800 Milliarden Euro aufnehmen wird und wir uns gemeinsam ein Klimaziel und einen konkreten Weg zu minus 55 Prozent bei den CO2-Emissionen bis 2030 setzen werden? Hätte sich vor einem Jahr jemand gedacht, dass wir bis 2050 klimaneutral werden wollen und als Kontinent der Autobauer mit den Unternehmen ein Auslaufen der Verbrennungsmotoren vereinbaren? Es ist etwas in Bewegung. Ich bin felsenfest überzeugt, wenn Politik Verantwortung für die Menschen und die Zukunft übernimmt, wenn sie miteinander agiert, statt mit Schuldzuweisungen zu arbeiten, wenn sie der Realität in die Augen schaut und dafür für nötige Veränderungen wirbt - dann hat man die Mehrheit der Leute Menschen hinter sich und kann sich die Zukunft wieder zum Freund machen.

»Wem da nicht eine andere Geisteshaltung einschießt, der versündigt sich«

Bei Klimaneutralität bis 2050 reden wir von 30 Jahren. Die Auswirkungen der Klimakrise spüren wir jetzt schon. Ist das nicht viel zu langsam?
Ich glaube, dass wir spätestens 2027 darüber reden werden, die Ziele, die wir uns gegeben haben, zu verschärfen. Heute bin ich ja schon froh, dass wir die Politiker immer mehr dazu bekommen, nicht nur an die Zeitung von morgen, an den kurzfristigen Vorteil für sich selbst und den nächsten Wahltag zu denken, sondern Perspektiven zu eröffnen. Wenn wir einmal die Ziele außer Streit stellen, können wir den Weg diskutieren. Diese Entwicklung wird durch die aktuellen Bilder ja verstärkt. Bei aller Brutalität - vor einem Jahr haben wir deshalb so schnell Maßnahmen gegen Corona gesetzt, weil es die Bilder aus Norditalien gab. Und vielleicht ist die Flut etwas, das uns die Augen für die Klimakrise weiter öffnet -so tragisch das ist. Diese Bilder sagen ja mehr als tausend Worte. Wem da nicht eine andere Geisteshaltung einschießt, der versündigt sich.

Was erwarten Sie also von Ihren Kollegen in der Politik?
Das Verhalten muss sich ändern. Die Politik ist viel zu sehr Selbstzweck geworden. Gemessen wird man nur an Wahlresultaten und nicht an dem, was man macht. Gute Wahlresultate hat der Herr Orbán auch, und trotzdem ist falsch, was er tut. In der Vergangenheit haben wir zwar gewusst, was geschehen muss, aber dennoch auf die nächste Krise gewartet. Wir haben bei der Euro-Einführung keine Wirtschafts- und Bankenunion geschaffen und bei Schengen nicht die gemeinsame Außengrenze. Wir haben beim Klima über Ziele geredet und gesagt, Energiepolitik ist eine nationale Angelegenheit. Wir müssen unsere Verantwortung den Herausforderungen der Zukunft anpassen. Keine Zeitung von morgen und kein Wahltermin von übermorgen darf unseren Horizont dabei einschränken.

Wirtschafts- und Industrielobbys stellen sich gegen die Klimaziele und sagen, sie würden den Wohlstand gefährdet. Wenn wir in die Flutgebiete schauen - muss man Wohlstandsverlust da nicht anders definieren?
Da bin ich ganz bei Ihnen. Leider gibt es manche, die ihre eigene Verantwortung damit rechtfertigen, dass sie den Status quo gegenüber der Zukunft verteidigen. Das dürfte so ein Reflex sein. Man wartet, bis einem das Wasser bis zum Hals steht, dann erst handelt man - wenn es eigentlich gar nicht mehr geht. Wir brauchen jetzt ein Bild von Zukunft und müssen die notwendigen Veränderungen sozial verträglich gestalten. Je später man handelt, desto größer wird die Krise und umso teurer und folgenschwerer werden die Maßnahmen. Ich bin überzeugt davon, dass unser sozialer Zusammenhalt und unser Wohlstand nur haltbar sind, wenn wir die Zeichen der Zeit erkennen und Verantwortung für die Zukunft übernehmen. Und keine Angst vor Veränderung machen, nicht die nationale Karte und den Egoismus gegen die Mitverantwortung und das größere Ganze ausspielen.

Wer könnte da vorangehen?
Europa. Das Pariser Klimaabkommen hat es nur gegeben, weil die EU im Namen ihrer Mitgliedstaaten für ein ehrgeizigeres Ziel gesorgt hat. Es muss immer welche geben, die schneller sind und mehr wollen. Schauen wir uns an, was seither passiert ist. Die USA sind wieder zum Abkommen zurückgekehrt. Sie wollen die EU sogar überholen. Die Chinesen wollen die Klimaziele ebenfalls erreichen. Und bei uns gibt es den Green Deal zur Klimaneutralität und jetzt das Minus-55-Prozent-Paket.

Das Killerargument ist, dass Klimamaßnahmen nichts bringen, solange China und Afrika nicht dabei sind.
Es hat in der EU heftige Auseinandersetzungen gegeben, was das Klimapaket für die Autoindustrie bedeutet. Schreiben wir das Ende des Verbrennungsmotors hinein oder nicht? Während der politischen Debatte ist ein Autokonzern nach dem anderen gekommen und hat gesagt: "Wir machen das eh." Wir reden über jene, die die Klimaziele kritisieren, aber nicht über jene, die dazu beitragen, politische Absichten sogar zu überholen. Die EU sagt, nicht jeder Mitgliedstaat muss gleich viel leisten. Deutschland oder Österreich haben andere Möglichkeiten als etwa Polen. Die EU nimmt zum ersten Mal Geld auf, nicht um die Schulden der Vergangenheit zu begleichen, sondern um gemeinsam in die Zukunft zu investieren. Dieses Geld bekommt nur jemand, der in den Green Deal, die Erreichung der Klimaziele, die Digitalisierung und den sozialen Zusammenhalt investiert. Dadurch wird ein Wettbewerb zwischen uns, China und den USA entstehen. Das schafft Arbeitsplätze. Aber die große Frage wird auch sein: Was passiert in Afrika, in Russland oder vor unserer Haustür am Westbalkan?

© Ricardo Herrgott Nach den Ereignissen rund um die ÖVP im Ibiza-Untersuchungsausschuss könne wohl niemand sagen, es solle alles so bleiben, wie es ist, sagt Karas

Die Asfinag prüft Straßenbauprojekte bezüglich ihrer Klimawirkung. ÖVP und SPÖ laufen Sturm dagegen. Sie waren gegen das Kraftwerk Hainburg aktiv. Wie sehen Sie den Lobautunnel?
Überall gibt es Reibereien zwischen Bewährtem und Erneuerung. Es wird in dieser Frage kurzfristig kein Entweder-oder geben. So wie beim Verbrennungsmotor Strom nicht die alleinige Antwort sein wird, sondern höchstens eine Zwischenstation. Aber zumindest ist die heilige Kuh Verbrennungsmotor relativiert. E-Autos sind eine schnell verfügbare Zwischenlösung, aber man muss sofort mit der Weiterentwicklung des Wasserstoffs beginnen. Ich hoffe, dass alle Gehirnganglien dafür benützt werden, nicht nur gegen etwas zu sein. Sondern vielleicht aus etwas, was man im Moment nicht verhindern kann, einen Teil der Lösung für die Zukunft zu machen. Wir brauchen Infrastruktur und wir werden Übergangslösungen brauchen. Ich bin sehr dafür, Dinge zu evaluieren. Die Frage ist, in welchem Stadium der Planung man ist. Wie viel Geld wurde in Vorverträge und Hoffnungen investiert? Welche Alternativen gibt es - und wann? Aber dass man in der Politik den Mut haben muss, nicht alles, was schon da ist, fortzusetzen, sondern auch nachzudenken, ob es eine bessere Lösung gibt - das muss erlaubt sein. Das ist sogar zwingend.

Das ist eigentlich der Job der Klimaministerin.
Man tut ja so, als ob die Evaluierung schon ein Baustopp wäre. Ich bin gegen Denkverbote. Ich bin gegen die Ideologisierung aller Themen. Es muss wieder gedacht, gesponnen werden dürfen. Bei uns wird polarisiert und parteipolitisiert. Das ist ein Hemmschuh für mehr Vernunft. Aber Frau Gewessler muss auch offen sein. Manche haben das Gefühl, nicht eingebunden zu sein. Ignoranz gegenüber dem anderen, der nicht meiner Meinung ist, ist die Ursache, warum Dinge nicht passieren.

Rund um die Ermittlungen der WKStA gegen Sebastian Kurz haben Sie einen Ethikkodex angekündigt. Was wurde daraus?
Ich wollte damit eine Debatte auslösen, die breiter angelegt ist als die Auseinandersetzungen um die Justiz. Aber kein Kodex kann das eigene Gewissen, die Selbstreflexion und die Eigenverantwortung ersetzen. Mir geht es schon mein ganzes politisches Leben lang um die Zukunft unserer Demokratie. Für mich ist Politik mehr als die Einhaltung von Recht. Für mich ist auch völlig klar, dass sich politische Verantwortung nicht auf das Strafrecht reduzieren lässt. Sie beginnt nicht mit einer Anklage und endet nicht mit einer Verurteilung. Deshalb ist auch ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss kein Gericht.

»Es wird polarisiert und parteipolitisiert. Das ist ein Hemmschuh für mehr Vernunft«

Und wird nicht von einem Richter geleitet - wie es sich die ÖVP gewünscht hätte.
Da wäre ich auch dagegen. Ein U-Ausschuss fällt keine Urteile und er sollte auch nicht verurteilen. Das Parlament kontrolliert die Regierung, ein U-Ausschuss untersucht politische Zusammenhänge, den Umgang mit dem Amt und die öffentliche Verwaltung. Die Rückschlüsse daraus können strafrechtlich relevant sein, aber sie müssen es nicht. Ein U-Ausschuss ist nicht dann erfolgreich, wenn es zu gerichtlichen Folgen kommt, sondern wenn er politische Verantwortung klärt. Die Frage ist: Wie gehe ich mit meiner Verantwortung um? Politik hat eine ethische, moralische Verantwortung. Das ist mir wichtig, gerade auch im Hinblick darauf, was in anderen Ländern passiert. Am meisten leidet die Demokratie, wenn Parlamente geschwächt, der parlamentarische Diskurs lächerlich gemacht wird und wenn die Gewaltentrennung nicht funktioniert.

Passiert das in Österreich?
Alles, was unsere Sinne für die notwendigen Instrumente der Demokratie schärft, ist wichtig. Darum unterstütze ich ja auch das Antikorruptionsvolksbegehren. Ich bin froh, dass sich seither einiges getan hat. Es hat Erklärungen des Bundespräsidenten und Wortmeldungen von Heinz Fischer und Irmgard Griss gegeben. Es gibt das Volksbegehren. Die Reduzierung von politischer Verantwortung auf das Strafrecht und die Parteipolitisierung von Entscheidungen von unabhängigen Richtern widerstreben mir.

Die ÖVP hat sich auf die Justiz eingeschossen.
Ich nehme da eine Verschiebung wahr, von der generellen Kritik zur jener an individuellen Fehlern. Das ist ja schon ein Fortschritt, denn jeder kann Fehler machen, und deswegen ist das System noch nicht schlecht. Aber das Zweite ist: Wir haben in den U-Ausschüssen die Rechte des Materialerhalts stark gesteigert, sie sind geradezu ident mit jenen von Gerichten. Wir haben aber das Verfahren nicht im gleichen Ausmaß verändert. Wie gesagt, U-Ausschüsse dürfen nicht den Anschein machen, dass sie zu Gerichten würden. Jetzt muss man schauen, wo Verbesserungen notwendig sind und wie die Glaubwürdigkeit erhöht werden kann. Ich war überrascht von der Konfliktbeladenheit des U-Ausschusses, aber auch vom Verhalten einiger gegenüber dem Ausschuss und gegenüber der WKStA. Wir haben eine Verantwortung, was die öffentliche Bewusstseinsbildung betrifft, und immer für die Gewaltentrennung, die Unabhängigkeit von Justiz und Medien einzutreten. Schauen wir uns an, wie viele jetzt sagen: "Ich möchte mit der Politik nichts mehr zu tun haben."

Die Antwort darauf könnte es bei der nächsten Wahl geben.
Jeder Bürger muss sich seine Meinung bilden. Das ist Teil der politischen Auseinandersetzung. Aber jetzt muss man einmal schauen, was im Abschlussbericht des U-Ausschusses steht und welche Lehren man daraus zieht. Es ist ja niemand unfehlbar.

Der Fraktionsführer der ÖVP, Andreas Hanger, hat schon erklärt, für die ÖVP gebe es keine Erkenntnisse aus dem Ibiza-Ausschuss.
...

Nobles Schweigen?
Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich glaube, dass aus dem, was sich in den letzten Monaten abgespielt hat, wohl jeder seine Erkenntnisse gezogen hat und niemand sagen kann, es soll so bleiben, wie es ist.

Was wird sich nach diesem U-Ausschuss als Erstes ändern?
Das SMS-Schreiben.

Das Interview erschien ursprünglich im News 30/2021.