Jung, arm, männlich

von Schüler macht Hausaufgaben. © Bild: iStockphoto.com/romrodinka

Jahrzehnte lang versuchten Verwaltung und Lehrpersonal das Ungleichgewicht zwischen Schüler und Schülerinnen in höheren Schulenund damit den Zugang zu Universitätenauszugleichen. Akademische Laufbahn war in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch ein Privileg der 'weißen Männer'.

Das hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten dramatisch verändert. Keine Gesellschaftsgruppe ist derzeit so vernachlässigt und benachteiligt wie männliche Kinder, vor allem aus ärmeren Familien. Der ewig wiederholte Vorwurf, die Gesellschaft würde dominiert von 'weißen Männern', die einflussreiche Positionen besetzen, beschreibt sicherlich nicht die heutigen Chancen junger 'weißer' Männer aus dem finanziell benachteiligten Segment. Im Gegenteil, Kinder aus Familien der Arbeiterklasse - wenn sie männlich sind - verlieren den Anschluss, schließen zu einem immer geringeren Prozentsatz mit Abitur/Matura ab und sind auf den Universitäten kaum mehr vertreten. Der einstige Stolz einer sozial gerechten Gesellschaft, auch den Ärmsten die Chance zu geben zu studieren, von einer Generation zur nächsten einen höheren Lebensstandard zu erreichen, stimmt zwar immer noch für Mädchen und Minderheiten, doch immer weniger für 'white boys'.

Arbeiterfamilien

Studien in Großbritannien, Deutschland und den USA untersuchten den Einfluss der ökonomischen Situation einer Familie auf die akademischen Chancen von Mädchen und Buben. Immer noch studieren Kinder aus wohlhabenden Familien zu einem höheren Prozentsatz als Kinder aus Arbeiterfamilien, doch es zeigt sich ein Unterschied zwischen Schüler und Schülerinnen. Eine Studie in England wies nach, dass selbst in den ärmsten Familien 50 Prozent mehr Mädchen studieren als Buben. Je besser die finanzielle Lage der Familie, desto eher gleicht sich das Verhältnis zwischen weiblichen und männlichen Kindern aus.

Wenig Erklärungen finden die Wissenschaftler, warum sich diese Situation durch die Covid-Einschränkungen weiter verschärfte. Die Leistungen der Schüler lagen weit unter denen der Schülerinnen, besonders wenn sie aus ärmeren Schichten kamen. Es könnte die unterschiedliche Konzentrationsfähigkeit der Knaben beim 'Zu-Hause-Lernen' verantwortlich sein, die mangelnde Bereitschaft, ohne Zwang des Lehrpersonals zu studieren, die schwierigen Bedingungen enger Wohnverhältnisse mit oft nur einem Computer, wo Mädchen von den Eltern entweder bevorzugt wurden oder sich besser durchsetzen konnten.

Bildungsversager

In Deutschland wird ein generelles, von der ökonomischen Situation der Familien nur zum Teil beeinflusstes Phänomen beobachtet -der immer größer werdende Erfolgsabstand zwischen Schülerinnen und Schülern. Der Germanist Arne Hoffmann schreibt in seinem Buch "Rettet unsere Söhne" von der Problematik, dass weibliche Lehrkräfte vom Kindergarten bis zum Abitur Schülerinnen gegenüber Schülern bevorzugen. Er nennt es die 'Feminisierung der Schule' als Folge eines 'überbordenden Feminismus', der mit seinem Ziel, die Rechte der Frauen zu stärken, die Anliegen der jungen Männern ignoriert hätte. Werde diese Entwicklung nicht gestoppt, wachse eine Generation von männlichen Bildungsversagern heran. Andere Fachleute warnen vor einer 'Verweiblichung junger Männer', die bei schlechten Noten zu weinen beginnen, im Kunstunterricht sich betont sensibel und emotional zeigen würden, unbewusst die Verhaltensweisen der Schülerinnen zu kopieren versuchen, in der Hoffnung, so den Lehrerinnen zu gefallen. Der Anteil der Lehrerinnen in der Grundschule liegt in Deutschland bei 90, im Kindergarten bei 98 Prozent. Den einzigen Mann, den die Schüler als 'Vorbild' zu Gesicht bekommen, ist meist der Hausmeister.

Die Erfolgschancen für den 'weißen Mann' haben sich nicht wesentlich verändert -solange er aus der oberen Mittelklasse oder der Oberschicht kommt. Immer noch dominieren 'weiße Männer' die Vorstandsetagen der großen Konzerne, die CEO-Posten und einflussreiche politische Positionen, wenn auch der Anteil der Frauen immer größer wird. Dennoch gibt es einen Unterschied zu den Entwicklungsmöglichkeiten der Nachkriegsgenerationen. Das Schlagwort vom 'Tellerwäscher zum Millionär' betraf nicht nur jene, die mit genialen Ideen reich wurden, sondern beschrieb die Aufstiegschancen dieser Generation, sich aus der Arbeiterklasse in die besser verdienenden, akademischen Gruppen hochzuarbeiten. Der Sohn des Taxifahrers wird heute kein Arzt mehr, höchstens seine Tochter.

Feindbild

Der 'weiße Mann' wurde zum Feindbild erklärt, tatsächlich leiden die männlichen Kinder und Jugendlichen darunter. In der Schweiz schlugen Pädagogen und Politiker Alarm, weil der Anteil der jungen Männer an den Hochschulen ständig zurückgehe. Während 16 Prozent der Knaben die Matura schaffen, sind es 26 Prozent der Mädchen. Die Schulbehörden diskutieren mit den Fachleuten, was die Ursache dafür sein könnte. Sind Lehrpläne zu sprachlastig, wird zu wenig Mathematik, Physik und Chemie unterrichtet, Fächer in denen Schüler traditionell besser sind als Schülerinnen? Schüler und Schülerinnen zeigen bei Eintritt in die Schule die gleiche 'Lernlust' - ein paar Jahren später sind Knaben wesentlich weniger motiviert als Mädchen.

Pädagogen beobachten ein geringeres Interesse für Lesen und Schreiben bei Knaben, das sich nicht nur auf Literatur und Sprachunterricht auswirke, sondern auf alle Fächer. Die fehlende Schreib-und Lesekompetenz beeinflusse den späteren Bildungsweg. Knaben wären über Inhalte erreichbar, die sie faszinieren, sie sind begeisterte Zuhörer, während Mädchen gerne lesen. Neue, verschiedenartige Unterrichtsmethoden müssten entwickelt werden, die nicht nur den Interessen der weiblichen Lehrkräfte entsprechen, die überwiegend im Lehrpersonal vertreten wären. Frauen im Lehrkörper müssten lernen, wie Knaben begeistert werden könnten. Während Mädchen mehr Eigeninitiative zeigen und einen schlechten Unterrichtsstil mit Interesse am Lernen oft ausgleichen, scheitern Knaben i n vergleichbaren Situationen. Schüler benötigen einen spezifischen, qualitativ hochwertigen Unterricht, dann sind auch sie bereit mitzumachen.

Bildungserfolge

Bei schwierigen Kindern flüchten Lehrer, Pädagogen und Ärzte oft in die medizinische Diagnostik, statt Unterrichtsmethoden infrage zu stellen. Bei Knaben wird viermal häufiger ADHS (Aufmerksamkeitsdefizitstörung) diagnostiziert als bei Mädchen und mit Medikamenten behandelt. Marcel Helbig, Professor für Bildung und Mitarbeiter am renommierten Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin, untersucht seit Jahren den Wandel der geschlechtsspezifischen Bildungserfolge. Er definierte als Erster eine Bildungsungerechtigkeit zwischen Jungen und Mädchen bei völlig identischer Intelligenz. Das drücke sich in den Noten aus, in dem unterschiedlichen Prozentsatz, wie viele eine Klasse wiederholen müssten, in der Anzahl der Maturanten und Studierenden an den Universitäten.

Die Schulleiterin Birgit Steiner in Rielasingen, einem kleinen Ort an der Schweizer Grenze, schockte mit ihrem Buch 'Artgerechte Haltung -Es ist Zeit für eine jungengerechte Erziehung' das pädagogische Establishment. Nach dem Ende der getrennten Mädchen-Knaben Schulen hätte sich in den 90er-Jahren der Begriff der 'reflexiven Koedukation' durchgesetzt, auf der Basis der Theorie, es gäbe keinen Unterschied zwischen Mädchen und Knaben und daher keine Notwendigkeit für unterschiedliche Methoden des Unterrichts und der Motivation. Schülerinnen und Schüler wurden gleich gefördert und hatten damit vordergründig die gleichen Chancen. Knaben jedoch blieben zurück als förderbedürftiges Geschlecht, überlagert von ökonomischen Problemen der Familien, die Schülern weitaus mehr zu schaffen machen als Schülerinnen. Wenn Mädchen aufgrund Selbstständigkeit und Eigeninitiative die 'angenehmeren' und 'einfacheren' Kinder im Unterricht sind, dürfe das nicht bedeuten, dass ein Schulsystem die männliche Jugend einfach vernachlässige, weil es zu aufwendig und zu anstrengend sei.