Juden verlassen Europa

Nur ein sicherer Alltag kann Heimat sein

von Schlaglichter - Juden verlassen Europa © Bild: Getty Images

Ein Schicksal kann mit Zahlen und Erlebnissen erklärt werden. Zuerst ein paar Zahlen, dann die Erlebnisse.

Laut einer Studie der Agentur der EU für Grundrechte (FRA) aus dem Jahr 2018 in den zwölf Ländern der EU, in denen 96 Prozent der 1,4 Millionen europäischen Juden leben, meinen 89 Prozent, der Antisemitismus habe seit der letzten EU-Umfrage im Jahre 2013 massiv zugenommen. 28 Prozent erlebten antijüdische Äußerungen und Übergriffe. Drei Prozent wurden Opfer physischer Gewalt. Etwa die Hälfte der europäischen Juden denken an Auswanderung. Vor allem französische, deutsche und britische Juden. In Frankreich haben wegen gewaltsamer Übergriffe, Terroranschläge und des Alltags-Antisemitismus von rechts, links und islamistischer Seite 150.000 Juden das Land verlassen. In Tel Aviv ist das nicht zu übersehen. Französische Bäckereien und Restaurants haben das kulinarische Angebot entscheidend verbessert.

Vor dem Holocaust lebten 9,5 Millionen Juden in Europa. 1950 waren es 3,5 und heute sind es noch 1,4 Millionen. Die meisten in Frankreich, 300.000 in Großbritannien, in Deutschland etwas mehr als 100.000 und 10.000 in Österreich - vor 1938 waren es alleine in Wien 200.000.

Nach relativ ruhigen Jahren nach dem Holocaust beschäftigen sich mehr und mehr mit Plänen, Europa zu verlassen. Doch die Zeiten von Flucht und Panik sind vorbei. Das Verlassen hat seine Ordnung, wird lange vorbereitet und sorgfältig geplant. Jene, die es sich leisten können, kaufen Wohnungen in Israel, Kanada oder den USA und fühlen sich dadurch befreit, von der jeweiligen Situation des Landes, in dem sie jetzt leben, abhängig zu sein. Sie gehen, wann sie gehen wollen, es ist kein Fliehen mehr, eher ein wohlüberlegter Beginn in einem anderen Land, in dem sie einen Alltag leben könnten, wie sie ihn sich vorstellen und wünschen.

In vielen Familien überträgt sich die Absicht, von Europa wegzugehen, von einer Generation zur nächsten. Während die Nachkriegs-Generation versuchte, eine sichere Existenz aufzubauen, oft Berufe hatte, die sich nicht so leicht auf andere Länder übertragen ließen, schickten sie ihre Kinder zum Studium ins Ausland, kauften Immobilien und bereiteten den Absprung vor. Als wollten sie verhindern, dass ihre Kinder ihre Fehler wiederholen.

Von London nach Wien

Meine Eltern flohen 1938 nach England, kamen 1946 zurück nach Wien und beschrieben diesen Entschluss ihr Leben lang als Fehler. Die innere Unruhe und Zerrissenheit übertrug sich auf mich und meine Brüder. In Wien geboren, wuchs ich mit der Botschaft auf, diese Stadt nicht als Heimat zu akzeptieren, sondern jede Möglichkeit zu nutzen, sie zu verlassen. Das Misstrauen überträgt sich weiter, auch auf meine Kinder. Das Leben mit aggressiven Vorurteilen gegenüber Juden währen der letzten Jahre bestätigt die Vorurteile der Juden, dass sie hier nicht willkommen seien.

Mit etwa Zehntausend Juden in Wien existiert zwar ein jüdisches Leben in Kleinformat, das jedoch ohne staatliche Förderungen nicht überleben würde. Subventionierte Kulturtage, Film- und Musikfestivals und ein eindrucksvolles Museum bieten jüdische Kultur und Geschichte, doch die Show täuscht. Synagogen sind leer, es finden mehr Begräbnisse als Hochzeiten statt, und Gemeinden außerhalb von Wien, etwa in Graz, haben zwar neu renovierte Synagogen und einen Präsidenten, jedoch keine jüdische Bevölkerung.

Ein großer Teil des jüdischen Lebens in Österreich beschränkt sich auf Erinnerung und Gedenken, auf Veranstaltungen im Zusammenhang mit Holocaust, Antisemitismus oder anderen Formen von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung. Jüdische Intellektuelle sind gefragte Redner, und da es nur eine Handvoll von ihnen im deutschen Sprachraum gibt, existiert eine Art Gedenk- und Mahntourismus mit immer denselben Rednern und Rednerinnen, die meist überall das Gleiche vortragen. Manche schaffen es bis zu Talkshows in TV und Radio, werden auch dort als Juden eingeladen mit der Erwartungshaltung der Veranstalter, dass sie authentisch den Schmerz der verfolgten Minderheit beschreiben könnten. Ein Wanderzirkus weniger Auserwählter, der ein Ankommen in der Normalität von einer Generation zur nächsten verzögert.

Das Wiener Judentum

Das traditionelle Wiener Judentum existiert nicht mehr. Nur wenige Familien aus der Zeit vor 1938 leben heute in Wien. Eine Tradition, aus der Nobelpreisträger und weltbekannte Künstler hervorgegangen sind, ist verloren. Die wenigen jüdischen Kulturschaffenden, die in Wien leben, retten sich meist über das Thema "Verfolgung". Komponisten wie Mahler, Schönberg und Korngold, Schriftsteller wie Schnitzler, Kafka, Roth, Werfel, Zweig und Canetti schufen einst eine moderne jüdisch-kulturelle Identität, ohne sich an ihre Herkunft zu klammern. Das ist vorbei.

Juden erleben heute eine doppelte Ausgrenzung. Vom Nachkommen der Holocaust-Überlebenden bis zur absurden Logik, dass Juden auch für das Verhalten Israels gegenüber den Palästinensern verantwortlich seien, reduziert man sie zu Opfern oder Tätern, dazwischen bleibt wenig Spielraum. Der Wunsch, einfach vergessen und ignoriert zu werden, in der Masse unterzutauchen, unerkannt und allen anderen völlig gleichgültig zu sein, wird nicht erfüllt. Handlungen und Aussagen werden mit dem Judentum gekoppelt und bewertet. Als ich für das EU Parlament kandidierte, konfrontierten mich Kritiker, wie ich das als "Jude" tun könnte. Andere machen politische Fehler, haben unterschiedliche politische Ansichten, der Jude wird als Verräter denunziert.

Nach meinem jüdisch-politischen "Fehltritt" lebte und arbeitete ich in Chicago und Singapur, wo plötzlich das Judentum keine Rolle mehr spielte. Ich war weder Opfer noch Täter. Meine Ansichten und mein Verhalten wurde unbelastet und vorurteilsfrei bewertet oder ignoriert. Niemand schenkte mir Biografien von Holocaust-Überlebenden zum Geburtstag, fragte mich, warum die israelische Armee so brutal gegen Palästinenser vorgehe, erzählte mir, wie sehr sie der Film "Schindlers List" bewegt habe oder berichtete mir begeistert, dass er Achteljude sein müsse, weil die Urgroßmutter angeblich Tochter eines Rabbiner gewesen sei. Ich war plötzlich uninteressant wie alle anderen und erlebte die Gleichgültigkeit meiner Umgebung als wohltuende Befreiung.

Palästinenser und Impfgegner

Seit der Flüchtlingswelle 2015 hat sich die Lage für die jüdische Bevölkerung in vielen europäischen Ländern dramatisch verschlechtert. In manchen Teilen der Städte Paris, Brüssel, London, Berlin und Wien ist das Leben als "erkennbarer" Jude mit Kippa oder Kleidung der Orthodoxen nicht mehr sicher. Die Ablehnung wurde öffentlich und akzeptiert. Als Demonstranten während der Auseinandersetzung zwischen Israel und Hamas durch europäische Städte marschierten und "Juden ab ins Gas" und "Wir werden eure Töchter vergewaltigen" brüllten, Zionismus mit NS-Ideologie gleichsetzten, schwieg die Mehrheit, und keine Polizei griff ein. Ebenso wenig, als Impfgegner mit Judensternen auftraten und sich mit Holocaust-Opfern verglichen. Die Übernahme von Afghanistan durch die Taliban wird die Situation noch verschlimmern. Radikale islamistische Gruppen werden mehr Unterstützung bekommen, über den Flüchtlingsstrom könnten wie bereits 2015 Attentäter eingeschleust werden. Im Antisemitismus finden Rechts- und Linksextreme, Islamisten, Impfgegner, Antizionisten und Klimaleugner zueinander.

Es hat schon bessere Zeiten für Juden in Europa gegeben, sicherlich auch schlechtere. Der Unterschied zu früheren Zeiten ist die moderne Mobilität und der Staat Israel. Der Begriff "Heimat" wird ersetzt durch die Sehnsucht nach der Banalität eines unbekümmerten Alltags. Engländer ziehen in die EU, Deutsche nach Thailand, Polen nach Österreich, Südamerikaner in die USA und Chinesen nach Kanada. Nicht nur Juden suchen nach neuen Orten. Sie haben nur andere Motive, und die sind so alt, wie lange es Juden gibt.