"'Das geht nicht' ist für mich nicht akzeptabel"

Der grüne Gesundheits- und Sozialminister Johannes Rauch hat die erste Etappe einer Pflegereform vorgelegt. Im Interview erklärt er, was da noch kommen muss, warum wir nächste Krisen nicht bewältigen werden, wenn "die Hysterie" in der Diskussionskultur bleibt, und welchen Vorteil er in seinem "fortgeschrittenen Alter" sieht.

von Politik - "'Das geht nicht' ist für mich nicht akzeptabel" © Bild: imago images/SEPA.Media

Nach rund zwei Monaten im Amt legen Sie eine Pflegereform vor. Warum auf einmal so schnell, was war zuvor das Problem?
Ich habe massiv aufs Tempo gedrückt, weil mir klar war: Es geht einfach nicht, als dritter grüner Minister nicht zu liefern - oder sogar länger, wenn man die Vorgängerregierungen dazunimmt. Ich habe zu meinem Amtsantritt gesagt: Neben der Pandemiebekämpfung wird das die Nummer eins auf meiner Agenda sein. Es waren Vorarbeiten da, aber es war weder das Volumen der Reform klar noch die Breite des Pakets. Ich habe sehr darauf gedrängt, dass es in dieser Dimension zustande kommt. Das war bitter notwendig.

Wie verhandelt es sich mit der ÖVP? Merkt man, dass sie "liefern" muss, um Skandale zu überdecken?
Alle Ressorts haben unterschiedliche Herausforderungen, die Begehrlichkeiten sind naturgemäß groß. Am Ende muss man sich mit den eigenen Anliegen durchsetzen. Ich habe immer zu verstehen gegeben, ich will nicht nur Pandemiebekämpfungsminister sein, sondern Sozialminister. Da gehören die Pflege, die Bekämpfung der Teuerung, der Einsatz für Menschen am unteren Ende der Einkommensskala dazu. Ich habe dabei mit August Wöginger von der ÖVP einen guten Verhandlungspartner gehabt.

Es gibt Lob für die Reform, doch auch ein Aber: Eine Milliarde Euro für zwei Jahre kann nur der Anfang sein. Was soll am Ende da sein?
Die eine Milliarde, die jetzt kommt, bringt Verbesserungen in der Ausbildung, der Bezahlung, für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen. Die strukturellen Probleme, die sich aus den Zuständigkeiten für die Pflege ergeben, werden wir nicht von heute auf morgen lösen. Ich kann nicht die Bundesstaatsreform, die es eigentlich brauchen würde, über die Pflegereform herbeizaubern. Es gibt neun Bundesländer mit unterschiedlich ausgestalteten Heimgesetzen, es gibt die Gemeindeautonomie. Daher wird es nötig sein, im Zuge des Finanzausgleichs strukturelle Reformen anzugehen.

Strukturelle Reform - was genau soll das sein?
Mehr Einheitlichkeit. Wir haben ein sehr komplexes System und in vielen Fragen der Pflege keine einheitliche Vorgangsweise. Wir müssen wie im Gesundheitssystem mit den Ländern eine Zielsteuerung aufsetzen: damit die Pflegeschlüssel einheitlicher werden, die Abgeltungen, die jetzt sehr unterschiedlich sind, in ein Ganzes kommen. Im Prinzip geht es um ein Angebot in hoher Qualität und die Finanzierungsverantwortung.

Also was Pflegekräfte bezahlt bekommen, soll in ganz Österreich gleich sein.
Genau das ist der Zugang. Es ist nicht einzusehen, dass da Unterschiede bestehen. Es gibt ein Konkurrenzverhältnis der Länder. Es kann nicht sein, dass sich die Länder über unterschiedliche Gestaltung der Entlohnung oder der Förderungen in der Ausbildung gegenseitig die Menschen abwerben. Der Finanzausgleich, der ab Herbst verhandelt wird, ist der Hebel für ein durchgängiges System.

»Es geht einfach nicht, als dritter grüner Minister nicht zu liefern«

Für zwei Jahre gibt es mehr Geld für Pflegekräfte und für jene, die eine Ausbildung machen. Und dann?
Ich gehe davon aus, dass das bleiben wird. Keine Regierung wird es sich leisten können, diese Verbesserungen zurückzunehmen. Wir hatten ja eine ähnliche Situation beim Ausbau der Kinderbetreuung, wo der Bund die Anschubfinanzierung gemacht hat und die Länder dann einsteigen mussten. Das haben sie getan. Schon jetzt tragen die Länder einen wesentlichen Anteil der Pflegekosten. Mein Zugang ist, mit Bundes- und Landesgeld gemeinsam eine größere Wirkung zu erzielen.

Kann man das Pflegeproblem überhaupt letztgültig lösen?
Egal, welche Lösung man in den Familien findet, glücklich sind die wenigsten dabei. Ich würde es einmal positiv formulieren: Es ist jetzt über zehn Jahre diskutiert worden, dass es für die Pflege Maßnahmen braucht. Die Unzufriedenheit war enorm. Die Milliarde, die wir jetzt vereinbart haben, ist auf durchwegs positives Echo gestoßen. Die Ausbildung wird attraktiver. Es wird das Bild vermittelt, Gepflegte und Pflegende sind uns etwas wert. Es ist ein attraktiver Beruf, man sollte nicht immer nur das Schwierige transportieren. Mir haben bei Gesprächen in Pflegeheimen und Krankenhäusern alle bestätigt: "Ja, wir machen diesen Job gern." Das ist die Motivation für die nächsten Schritte.

Die meisten Menschen wünschen sich, von Angehörigen gepflegt zu werden. Aber der demografische Wandel bewirkt, dass der Automatismus, dass Frauen und Töchter die Pflege übernehmen, nicht mehr gilt. Wie geht es weiter?
Die Lebensverhältnisse haben sich geändert. Man kann nicht mehr an beiden Enden des Lebens, bei der Früherziehung und später bei der Pflege, ungefragt den Frauen die Betreuung umhängen. Das geht sich gesellschaftspolitisch und frauenpolitisch nicht mehr aus. Und das ist gut so. Es gibt andere Lebensentwürfe und das Ziel einer gleichberechtigten Teilhabe. Daher brauchen wir eine Reihe von Modellen von mehr mobilen Dienste über die 24-Stunden-Betreuung bis hin zum neuen Community Nursing mit einem präventiven Ansatz. Das Ziel ist: so viel Unterstützung wie möglich zuhause, und wenn es nicht mehr geht, abgestufte Modelle von Tagesbetreuungszentren bis hin zur stationären Pflege.

Würde es überhaupt noch ohne 24-Stunden-Pflegekräfte gehen?
In manchen Bereichen nicht mehr. Wir haben 16 Millionen Euro für die Erhöhung der Förderung reserviert. Mit den Ländern werden wir über die gemeinsam Finanzierung reden und mit den Sozialpartnern darüber, wie diese Arbeitsplätze gestaltet werden. Es darf nicht sein, dass dort Frauen unter schwierigen, um nicht zu sagen prekären Verhältnissen arbeiten. Da geht es auch um einheitliche Qualitätsstandards bei den Vermittlungsagenturen.

In diesem Bereich gibt es Ausbeutung, und laut Umfragen erleben die Pflegekräfte auch sexuelle Übergriffe. Wie wollen Sie den Schutz dieser Menschen gewährleisten?
Ich möchte eine Lanze brechen für viele Agenturen, die hier tätig sind, die haben das Problem erkannt. Die haben das Interesse, die schwarzen Schafe in der Branche zu eliminieren. Das unterstütze ich vorbehaltlos. Es kann nicht sein, dass Ausbeutungsverhältnisse bestehen oder gar Übergriffe stattfinden.

Um das zu verhindern, müsste man aber auch in die Familien hineinschauen.
Ja, das ist Teil der Qualitätssicherungsmaßnahmen. Wir haben auch in anderen Bereichen Mitarbeiterinnen zu schützen, etwa auf Demenzstationen, wo es zum Krankheitsbild gehört, dass diese Menschen manchmal die Impulskontrolle verlieren. Auch hier muss das Personal gut geschützt werden. Da wird von Betreibern sehr genau hingeschaut. Das wird man auch im Privaten tun müssen - besonders bei Gewalt.

© imago images/SEPA.Media TEMPO. Gesundheits- und Sozialminister Johannes Rauch drückt aufs Tempo. "Ich will nicht nur Pandemiebekämpfungsminister sein"

Springen wir ein paar Lebensjahre zurück: Bei der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zeigen sich alarmierende Auswirkungen der Pandemie. Was planen Sie für diese Altersgruppe?
Wir fördern bereits mit zwölf Millionen Euro ein Projekt der Zusammenarbeit von Psychologen und Psychotherapeuten, wo sehr niederschwellig ein Angebot für junge Menschen geschaffen wurde, die an den Coronafolgen leiden. Das funktioniert hervorragend. Das werden wir fortsetzen. Aber es gibt auch im gesamten Bereich der Kinder-und Jugendpsychiatrie einen enormen Bedarf. Das war schon vor Corona so und hat sich noch verstärkt.

Wie rasch können Sie da neue Plätze schaffen?
Ich will da schnell alle Akteure an einen Tisch bekommen: Bund, Länder und Sozialversicherungen, weil ohne die wird es nicht gehen. Ebenso wenig ohne den niedergelassenen Bereich, die Psychologinnen und Psychologen und die Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter. Es gibt auch hier unterschiedliche Zuständigkeiten und Finanzierungen. Aber mir ist klar: Den Betroffenen ist völlig wurscht, wer das bezahlt, Hauptsache, es kommt an. Daher will ich alle an einen Tisch holen. Lasst uns auch in Modellversuchen denken und neue Finanzierungsformen zustande bringen. Das wird möglich sein. Die Antwort "Das geht nicht, weil ich kann das nicht finanzieren" ist für mich nicht akzeptabel. Die Debatte muss sein: "Wie kann es gehen?" Und: Es muss einfach gehen. Ich kann Ihnen aber keinen Zeitplan sagen, weil ich nicht alleine entscheiden kann.

Zu Corona: Die Debatte darüber ist oft hoch emotional und irrational. Der Ton hat sich verschärft. Bleibt das so? Was heißt das für die aktuellen Krisen?
Das ist ein sehr wichtiges Thema. Wenn wir es nicht schaffen, aus diesen Gräben, die sich rund um Corona aufgetan haben, herauszukommen, diese permanente Dauererregtheit und diese Schwarz-weiß-Debatten zu beenden, dann werden wir es nicht schaffen, die anderen Krisen, die jetzt kommen - Energiekrise, Teuerung, Ukraine-Krieg - und die großen Veränderungen, die deshalb auf uns zukommen, zu bewältigen. Das wird ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess, an dem sich alle beteiligen müssen, bei dem es nicht sein darf, dass man sich auf Justamentstandpunkte zurückzieht. Ja, wir brauchen eine neue Diskussionskultur, die von dieser Hysterie wegkommt, die zum Teil auch durch Social Media getrieben ist. Streiten ja, aber auf einem Niveau, das an einem gemeinsamen Ergebnis orientiert ist.

Können Politikerinnen und Politiker noch Vorbild sein?
Ich versuche es auf meine Weise, indem ich Dinge beim Namen nenne.

Politiker scheuen sich doch meist, den Leuten reinen Wein einzuschenken. Derzeit etwa, wenn es darum geht, zu sagen: Die Krise wird uns alle Wohlstand kosten.
Es hat sich eingebürgert, dass der Überbringer der schlechten Nachricht oft abgestraft wird. Aber es nutzt ja nix. Ich kann in einer Situation wie jetzt, wie wir sie seit 1945 jedenfalls in Europa nicht mehr hatten, nicht so tun, als wäre Österreich eine Insel der Seligen, und es wird eh wieder alles so, wie es früher war. Das wird es nicht.

»Marktversagen hinzunehmen, ist die unsozialste aller Formen von Nichtstun«

Die Krisen verstärken die Armut jener, die schon bisher kämpfen mussten. Die durchschnittliche Frauenpension liegt unter jenem Betrag, ab dem man als armutsgefährdet gilt. Was tun Sie für diese Menschen?
Wir diskutieren seit Jahren über den Ausbau der Kinderbetreuung. Da sind wir nicht die Weltbesten. Wenn sie fehlt, ist es Frauen nicht möglich, in den Arbeitsmarkt einzusteigen. Dann fehlen viele Beitragsjahre für die Pension. Das Zweite sind die nach wie vor skandalösen Gehaltsunterschiede zwischen Frauen und Männern. Beide sind nur langfristig zu beheben. Was nicht sein kann, ist, dass Frauen bei der jetzigen Teuerung ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten können. Da wird es Maßnahmen brauchen, um das abzufedern. Es kann nicht sein, dass man in diesem Land mit einer Mindestpension seinen Wocheneinkauf und seine Miete nicht mehr bestreiten kann. Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Menschen ein menschenwürdiges Leben führen können.

Mit welchen Maßnahmen? Mindestpensionen anheben?
Die Bundesregierung hat seit Dezember 2021 Maßnahmen mit einem Volumen von vier Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Das wird immer wieder vergessen. Deutschland schnürt gerade eine vier Milliarden Steuerreform. Das ist lächerlich, wenn man den Größenvergleich eins zu zehn hernimmt. Aber es wird auch in Österreich mehr brauchen. Die gesamten Transferleistungen von Familienbeihilfe bis Sozialhilfe sind zum Teil länger nicht valorisiert worden. Bei Inflationsraten wie derzeit wird man sich was überlegen müssen.

Sollen Transferleistungen automatisch inflationsangepasst werden?
Da muss man sich anschauen, wie sich die Inflation weiter entwickelt und wie das budgetär darstellbar ist. Aber eine Valorisierung muss auf jeden Fall diskutiert werden.

Soll man Leistungen wie die Kinderbeihilfe sozial staffeln?
Ich bin grundsätzlich ein Freund sozialer Treffsicherheit von Sozialleistungen und staatlichen Förderungen, weil es je nach Einkommen einen Unterschied macht, ob man das braucht oder nicht. Aber da greift man sehr rasch in die grundsätzliche Systematik ein. Da ist Sorgfalt angebracht, und nicht Schnellschüsse.

Wo soll die Politik gegen die Teuerung steuernd eingreifen? Stichwort: Gewinnabschöpfung wegen steigender Strompreise.
Wenn der Markt versagt, und das tut er - Stichwort: Strompreiseskalation und Wohnungskosten -, dann bin ich der Auffassung, die Politik hat steuernd einzugreifen. Weil Marktversagen hinzunehmen und das die ausbaden zu lassen, die es sich am allerwenigsten leisten können, das ist die unsozialste aller Formen von Nichtstun. Warten wir auf das Ergebnis der Teuerungskommission, in der auch die Sozialpartner vertreten sind. Dann wird die Bundesregierung Maßnahmen beschließen.

Sie waren im Clinch mit der Ärztekammer, weil sie von jungen Medizinern verlangen wollen, dass sie auch in Kassenordinationen arbeiten. Wie gerne streiten Sie?
Immer, wenn es im Sinne der Menschen notwendig ist. Ansonsten bin ich ein kooperativer und friedliebender Mensch.

Ihre beiden Vorgänger sind wegen der hohen Belastung zurückgetreten. Haben Sie ein Rezept dagegen?
Das fortgeschrittene Alter hat einen Vorteil: Man hat ein großes Ausmaß an Ruhe und Gelassenheit. Das hilft.

Das Interview erschien ursprünglich im News 20/2022.