Gesellschaft der Greise

Japan nähert sich der Epoche der Kinderlosigkeit

von Älteres Ehepaar aus Japan © Bild: iStockphoto.com/Milatas

In Japan leben nicht nur weltweit die meisten Hundertjährigen. Es ist die älteste Gesellschaft der Welt, mit einem Drittel über 65 Jahren, und ein Fünftel von ihnen lebt alleine. In keinem Land der Welt leiden mehr Menschen an Demenz und Alzheimer. Eine alternde Bevölkerung mit geringer Geburtenrate und einem Pensionssystem, das zum größten ökonomischen Problem werden könnte.

Die 45-jährige Regisseurin Chie Hayakawa erzählte in einem Interview, dass sie in den vielen Stunden, die sie mit ihrer Mutter und den Bekannten und Freundinnen der Mutter verbrachte, auf die Idee kam, ein Drehbuch mit der Handlung zu schreiben, dass in der Zukunft der älteren Generation die Möglichkeit geboten werde, das Leben selbstbestimmt zu einem gewissen Zeitpunkt zu beenden. Sie testete die Idee im Kreis ihrer Mutter. Die positiven Reaktionen überraschten und schockierten sie. Besonders die alleine Lebenden, oft krank und nicht mehr so beweglich, belastet von den täglichen Mühen, hatten oft keine Lust, dieses Leben fortzusetzen, bis sie vielleicht noch kränker werden und mit Schmerzen und Qualen in einem Krankenhausenden würden. Dazu komme eine Mentalität in Japan, erklärte Hayakawa, einerseits Entscheidungen von Autoritäten zu respektieren, und anderseits ein gewisser Stolz, der jüngeren Generation nicht ewig zur Last zu fallen.

Zukunftsvisionen

Aus der Drehbuch-Idee entstand der Film „Plan 75“, der bei den Filmfestspielen in Cannes heuer einen Sonderpreis bekam und vor einigen Tagen in Japan seine Premiere hatte. Die Handlung zeigt ein fröhliches Verkaufsteam, das im Auftrag der Regierung einsame, ältere Frauen und Männer besucht und versucht, sie zu überzeugen, in speziellen Instituten gemeinsam mit anderen ihr Leben zu beenden und auch gemeinsam begraben zu werden. Eine Zukunftsvision, die für das Publikum und die Kritiker nicht erschreckend wirkte – das war das eigentlich Erschreckende.

Die Realität ist derzeit noch eine andere. Politiker versuchen, alternde Wähler mit einer Fantasiewelt des glücklichen Alters anzusprechen, kämpfen um deren Stimmen mit der rosaroten Stimmung ewig lächelnder und aktiver Pensionisten, die scheinbar tanzend auf ihren Tod warten. Die Welt des Konsums orientiert sich nach den Bedürfnissen dieses Gesellschaftssegments mit entsprechender Kleidung, Freizeitvergnügen und Urlauben. In Japan dominiert zusätzlich ein gewisser Gruppendruck. Man möchte nicht anders sein, nicht herausragen durch Unterschiede, die Individualität richtet sich nach Bedürfnissen und Verhalten einer Gemeinschaft. Sollte es tatsächlich zu einem ähnlichen Beschluss der Behörden kommen, würde sich in Japan kaum jemand dagegen wehren.

Euthanasie

1950 lag der Anteil der über 65-Jährigen in Japan bei 4,9 Prozent. Mit steigender Zahl von Pensionisten ging gleichzeitig die der Kinder zurück. Zwischen 1990 und 2014 verringerte sich der Anteil der unter 14-Jährigen von 25 auf 13 Prozent. Beginnend mit dem Jahr 1997 lebten in Japan mehr ältere Menschen als Kinder. 2060 könnte die Bevölkerung Japans von 128 auf 87 Millionen geschrumpft sein mit einem Anteil der über 65-Jährigen von 40 Prozent. Wissenschaftler der Universität Tohoku errechneten ein theoretisches Modell, dass es im Jahr 4205 nur mehr ein Kind in Japan geben könnte. In anderen Ländern wie Italien zum Beispiel gibt es vergleichbare Entwicklungen.

Euthanasie ist in Japan verboten. Als 2016 ein Pfleger 16 ältere Patienten in einem Altersheim im Schlaf tötete, weil „sie ihm leid taten“ und kein lebenswertes Dasein hätten, ging die Nachricht wie eine Schockwelle durchs Land. Derzeit ist Euthanasie in Europa nur in Holland, Belgien, Spanien und Luxemburg legal. Durch die unterschiedliche gesetzliche Regelung kommt es zu einem „Sterbetourismus“ in die Benelux-Länder, da sie auch für Ausländermöglich ist.

Kinderlose Gesellschaft

Während über Alterung intensiv diskutiert wird, ignoriert die Gesellschaft in Japan die schwierigen Bedingungen für junge Mütter. Überarbeitung, Verzicht auf Urlaub und Freizeit, Verlust an Lebensqualität durch enge und teure Wohnungen schafften ein Klima für Familien, das wenig attraktiv ist. Immer mehr alleinstehende Frauen und auch Paare entschließen sich, kinderlos zu leben. Doch es hat auch biologische Gründe. Bei Männern ist die Spermienzahl seit den 1970er-Jahren stark gesunken, Frauen erleiden immer häufiger Fehlgeburten, Fruchtbarkeitsstörungen haben weltweit zugenommen. Für die einen sind es Umweltbelastungen, für die anderen Stress und Arbeitsüberlastung, eine überzeugende Ursache wurde noch nicht gefunden. Kindergeld und andere Geschenke zeigen wenig Erfolg. Selbst Länder wie China, wo die Regierung jahrzehntelang auf den Kinderwunsch mit Verboten und Strafen reagierte, leiden jetzt an schrumpfenden Gesellschaften und immer größeren Prozentsätzen älterer Menschen.

Altentötung

Unter dem Begriff Senizid (Altentötung)versteht man die Tradition der Tötung älterer und kranker Menschen. Die Anthropologie dokumentiert zahlreiche Beispiele verschiedener Völker. Bei den sibirischen Tschuktschen wurden die „Auserwählten“ mit einem großen Fest gefeiert, dem Kamitok,und gegen Ende der Feierlichkeiten mit einem Knochen erdrosselt. Im germanischen Stamm der Heuler, drittes bis sechstes Jahrhundert n. Chr., wurden ältere Menschen, die krank und gebrechlich waren, getötet und am Scheiterhaufen verbrannt. Unter dem Begriff „Thalaikoothal“ wurde in Südindien älteren Menschen der Kopf mit kaltem Sesamöl eingerieben, dann kaltes Kokoswasser von noch grünen Früchten verabreicht. Dysfunktion des Stoffwechsel, Nierenversagen und der Tod waren die Folgen. Die Inuit legten die Älteren bei Hungersnöten in den Schnee bis sie erfroren. In Sardinien wurden Senile und Kranke einfach von den Klippen ins Meer gestoßen oder von ausgesuchten Frauen, den Accabbadoras („Frauen des Todes“) durch einen Stich in den Nacken getötet. In Skandinavien existiert die Legende der Ättestupa, bestimmter Felsen und Abgründe, wo ältere Menschen sich in den Tod stürzten oder gestoßen wurden. Der Historiker Christoph Hartknoch (1644–1687) schrieb: „Sie haben ihre eigenen Eltern, wenn sie alt geworden oder in harte Krankheit gefallen waren, ersticket, damit keine unnötigen Kosten auf sie wenden dörften“.

Im Film „Little Big Man“ begleitet Jack (Dustin Hoffman) seinen Stiefvater, den Häuptling der Cheyenne, zum Sterben auf einen Berg. Als nach Stunden der Tod nicht eintritt, sagt der Häuptling: „Manchmal funktioniert die Magie, manchmal nicht.“ Und sie kehren ins Tal zurück.

Sensation in Cannes

Zurück zur Filmregisseurin Hayakawa, die schon als Kind mit Krankheit und Tod ihrer Eltern konfrontiert wurde. Sie studierte Fotografie in New York, bis sie, zurück in Japan, in einer Abendschule als Mutter zweier Kinder eine Filmschule besuchte. Ihre Abschlussarbeit war 2014 die Sensation bei den Filmfestspielen in Cannes. Unter dem Titel „Niagara“ drehte sie einen Film über ein Mädchen, das aus einem Waisenhaus entlassen wurde, in dem sie aufwuchs, und herausfand, dass ihre Eltern nicht bei einem Autounfall gestorben waren, sondern ihr Großvater sie ermordet hatte. Obwohl der Film nur unter der Kategorie „Filmstudenten“ eingereicht worden war, übernahm ihn die Jury in die allgemeine Konkurrenz. Nach diesem Erfolg bekam Hayakawa zahlreiche Aufträge, arbeitete aber weiter an der Idee „Plan 75“.

Dann kam Covid. Die hohe Sterberate älterer Menschen schockierte die Regisseurin. „Die Realität hatte mich eingeholt“, sagte Hayakawa. „Die erschreckenden Formen des Todes hilfloser alter Menschen und die Gleichgültigkeit der Gesellschaft bewiesen mir, dass mein Film vielleicht eine gar nicht so ferne Zukunft beschreibt.“ Hayakawa möchte nicht, dass ihr Film als eine Horrorvision der Zukunft verstanden und moralisch bewertet wird. „Das Ende des Lebens, das Wenn und Wie, müsste eine sehr persönliche Entscheidung sein“, sagte sie. Das Thema sei zu komplex, als dass es nur um schwarz oder weiß, um richtig oder falsch gehe.