Das Sterben der Dörfer

Italien versucht, seine Geschichte zu retten

von Peter Sichrovsky © Bild: News/Ricardo Herrgott

Jeden Tag um acht Uhr öffnet der 57-jährige Marino Zanolini die Jalousien seines Arbeitszimmers in dem einstöckigen Rathaus von Livemmo, einem Dorf mit 150 Einwohnern zwischen dem Lago d'Iseo und Lago di Garda in Norditalien. Er ist eben zurückgekommen in einem alten, klapprigen, gelben Bus, mit dem er früh am Morgen, als der Nebel von den umliegenden Bergen noch bis ins Tal reichte, die Kinder aus den alten Steinhäusern der Umgebung abholte und sie auf den engen Straßen, langsam in den Kurven, immer wieder hupend, ins nächste Dorf zur Schule brachte. In Livemmo gibt es schon lange keine Schule mehr. Zanolini ist der einzige Beamte in Livemmo, hat weder eine Sekretärin noch einen Mitarbeiter. Er sortiert die Rechnungen auf seinem Schreibtisch, beantwortet E-Mails, öffnet die Post, die unregelmäßig das Dorf erreicht, und hört den Anrufbeantworter ab, ob während der Nachtstunden jemand versuchte, ihn zu erreichen. Das Mobilnetz ist lückenhaft und funktioniert oft nicht.

Alternde Bevölkerung

Wenn das alles erledigt ist, widmet er sich der eigentlich wichtigen Aufgabe: Wie könnte er bis Sommer 2026 die Summe von 20 Millionen Euro ausgeben? In einem Interview mit der "New York Times" sagte Zanolini: "Es ist ein wirklich schwieriges Projekt, so viel Geld auszugeben, wenn da irgendetwas schiefgeht, bin ich der Einzige, der dafür verantwortlich ist."

Von 200 Milliarden Euro, die Italien von der EU für die Post-Covid-Zeit zur Verfügung gestellt werden, hat die italienische Regierung 420 Millionen Euro für das Programm der "sterbenden Dörfer mit einer alternden Bevölkerung" reserviert. 21 Ortschaften wurden in den verschiedenen Regionen ausgewählt, wo mit finanzieller Unterstützung eine Entvölkerung verhindert werden sollte - Livemmo ist eines dieser Dörfer.

Das bekannteste wahrscheinlich Civita di Bagnoregio in der Provinz Latium. Ein paar Häuser stehen eng nebeneinander auf einem Hügel wie von einem Flugzeug abgeworfen, mit dem Auto nicht erreichbar. 1990 lebten dort noch 17 ältere Frauen und Männer, bis ein pensionierter Manager aus Rom durch Zufall den Ort entdeckte und seither Sommerseminare und Konzerte veranstaltet, einzelne Häuser renovieren ließ und sie vermietet, so dass der Ort vor dem kompletten Aussterben der Bevölkerung gerettet wurde. Jetzt leben zwar nur mehr zehn Menschen das ganze Jahr hier, doch in den Sommermonaten kommen bis zu 50.000 Touristen. Craco, ein Dorf bei Matera, bereits völlig entvölkert, diente zahlreichen Filmen als Kulisse, darunter dem James-Bond-Film "Quantum of Solace". Der deutsche Reiseveranstalter Tui kaufte das verlassene Dorf Castelfalfi und verwandelte es in ein Luxusresort.

Investitionen

Inzwischen ist es zwölf Uhr in Livemmo und Zanolini geht wie jeden Tag zu Fuß zum Haus seiner Eltern, wo er das Mittagessen gemeinsam mit ihnen einnimmt. Für den Nachmittag hat er sich vorgenommen, einen Teil der Anträge auszufüllen, die für jede Investition in Rom vorgelegt, geprüft und bewilligt werden müssen. Er arbeitet nun seit 30 Jahren als Verwalter in Livemmo, erzählt er, der bürokratische Aufwand für die EU-Gelder sei jedoch mühsamer und komplizierter als alles, was er je erlebt habe. "Ich bin völlig alleine hier, alles muss ich selbst begründen, erklären und einreichen, ich habe niemanden, der mir helfen könnte. Durch die alternde Gesellschaft würden wir auch niemand finden, hier gibt es keine Arbeitslosigkeit, die wenigen arbeitsfähigen Menschen haben alle gute Jobs", erzählt er, "andere haben keine Lust, 20 oder 30 Kilometer von der nächsten Stadt täglich anzureisen."

Zanolini hat für Livemmo bereits die ersten Investitionsanträge den zuständigen Behörden vorgelegt. Ein stabiles Internet soll für das gesamte Dorf eingerichtet werden. Bisher konnten nur wenige Häuser rund um das Rathaus das Internet benutzen. Ein leer stehendes Bauernhaus aus dem 17. Jahrhundert, das Dach teilweise eingefallen, wurde von den Erben erworben, die das Dorf längst verlassen hatten. Hier entsteht vielleicht eine kleine Pension mit wenigen Zimmern, das erste Hotel in Livemmo. Im Ort und in der Umgebung sind Fahrradwege geplant.

Hauptplatz

Auf dem Hauptplatz, wo Plastiksessel in mehreren Reihen auf Holzplatten genagelt seit Jahren unbenutzt stehen, seit noch während der Sommermonate Konzerte angeboten wurden, ist ein Sportzentrum geplant, mit Basketball, einem Turnsaal für Gymnastik und Tanz, einer Schwimmhalle, Garderoben und Duschanlagen. Ein altes Kellergewölbe, in dem Bettgestelle, Fahrräder und Autoreifen liegen, soll in eine Werkstadt für Holzarbeiten umgebaut und neben den Kunstgegenständen auch lokale Spezialitäten wie Käse, Wurst und Honig angeboten werden.

Der letzte Arzt verließ das Dorf vor einigen Jahren. Trotz der Bemühungen der Verwaltung war es nicht gelungen, einen jungen Mediziner zu überreden, sich hier niederzulassen. Zanolini bestellte elektronische Armreifen, die Gesundheitsdaten der älteren Bewohner und Bewohnerinnen an eine Ambulanz im nächsten Dorf melden könnten, wo Giovanmaria Flocchini, der Bürgermeister für mehrere Ortschaften, sein Büro hat. Er ist auch für Livemmo verantwortlich. "Die Gelder aus Brüssel sind eine einmalige Gelegenheit, unsere jahrhundertealten Dörfer zu retten", sagte Flocchini in einem Interview, "ganz Italien leidet unter einer älter werdenden Gesellschaft mit immer weniger Geburten. Wenn es uns nicht gelingt, die Ortschaften zu modernisieren, wird es in ein oder zwei Generationen noch mehr Geisterstädte geben. Wenn wir hier scheitern, könnte das ein negatives Signal für ganz Europa sein, wo es in vielen Ländern ähnliche Probleme gibt."

Lebensmittel

Die 27-jährige Daniela Guffi ist die Ausnahme. Sie nahm ein Angebot der Dorfverwaltung an, ein Lebensmittelgeschäft in Livemmo zu übernehmen, das die alten Besitzer schließen wollten. Ihre Mutter sei hier geboren, erzählt sie, sie schätze die Berge in der Umgebung und die alten Häuser des Dorfes. Doch sei es besonders schwierig für Menschen in ihrem Alter, nur wenige würden hier leben, und im letzten Jahr sei ein einziges Kind geboren worden. Sie wolle versuchen, durchzuhalten, es würden immer mehr Touristen im Sommer aus den Städten in die Berge kommen, um vor der Hitze zu flüchten.

Die ältere Generation ist dennoch skeptisch. Während einer Versammlung meldete sich ein älterer Bauer und fragte, warum der Bürgermeister glaube, dass Touristen kommen würden, um seine Ziegen zu beobachten. "Ich bin mit Ziegen aufgewachsen, so wie wir alle hier, was soll da schon so besonders sein? Warum wird jetzt so viel Geld ausgegeben, damit die Menschen aus den Städten meine Ziegen sehen können?", fragte er. Andere stimmten ihm zu, sie fürchten, ihr Dorf würde sich verändern mit all den Touristen, und wollen mit den Geldern lieber ihre Häuser renovieren, moderne Bäder und Heizungen einbauen, statt Sportzentren und Fahrradwege zu bauen.

Startkapital

Borghi fantasma nennen die Italiener ihre Geisterdörfer. Etwa 1.500 Orte sind menschenleer und in weiteren 4.500 leben nur mehr wenige ältere Frauen und Männer.

Es waren nicht nur ökonomische Gründe, welche die jüngere Generation Arbeit in den Städten suchen ließen. Manchmal zerstörte ein Erdrutsch das Dorf oder ein Erdbeben und es fehlten die finanziellen Mittel, es wieder aufzubauen. In Süditalien bieten die Behörden jungen Familien, die in die verlassenen Dörfer ziehen, bis zu 30.000 Euro Startkapital. Andere Ortschaften verkaufen die verfallenen Gebäude für einen Euro mit der Auflage, dass sie renoviert werden müssten.

Die 40-jährige Erica Scuri, die in Livemmo nachmittags vor ihrem Haus auf den Bus wartet, der ihre fünfjährige Tochter Anita von der Schule zurückbringt, ist skeptisch. "Es ist reine Verschwendung, das viele Geld, schauen Sie sich doch um, es fehlt einfach alles", sagte sie zu einem Reporter. Sie zweifle, dass ihre Tochter hier bleiben werde, wenn sie älter ist. Was sollte sie hier tun? Zehn Kinder leben noch in Livemmo. Wie könnte sie hier einen Mann finden?