"Mit dem Koran ist
kein Staat zu machen"

Der ehemalige Botschafter in Tunesien sieht im Koran die Ursache für die Krise des Islam und den größten Stolperstein im Bemühen um eine Modernisierung.

von Islam - "Mit dem Koran ist
kein Staat zu machen" © Bild: Haidar HAMDANI / AFP

"Mit dem Koran ist kein Staat zu machen." Der Titel signalisiert dem Leser, dass er es mit einem kritischen Buch zu tun hat. Der Verfasser Gerhard Weinberger war von 2012 bis 2017 österreichischer Botschafter in Tunesien, wo er Terroranschläge und Folgen des "Arabischen Frühlings" miterlebte. Im Koran sieht er die Ursache für die Krise des Islam und den größten Stolperstein im Bemühen islamischer Staaten um eine Modernisierung.

Der Autor räumt mit der Legende auf, Tunesien sei ein moderat-islamisches Land gewesen. In dem als modern eingestuften Staat machte er die Erfahrung, dass die "nicht hinterfragten" Koran-Inhalte vom Großteil der Bevölkerung als Lebensrahmen akzeptiert werden. Die Koran-Lektüre löste bei ihm Beklemmung aus - sie schilderte das Gegenteil von dem, was er aus der christlichen Lehre heraus mit Religion verband, wie Liebe, Demut, Verständnis, Hilfe für andere - einschließlich des Gebots "Du sollst nicht töten". Der Islam zeige ein ganz anderes Antlitz, so Weinberger, und dies nicht erst seit dem Terrortag 11. September 2001.

Kurz nach seiner Ankunft in Tunis im Herbst 2012 atmete er "islamistische Luft", erinnert sich der Diplomat, als Salafisten die US-Botschaft attackierten, die amerikanische Schule stürmten. Es gab Umtriebe wahhabitischer Prediger im ganzen Land. Die Ermordung zweier Oppositionspolitiker folgte, Massenproteste gegen die Regierung, deren Rücktritt, Wahlen. Hautnah erlebte Weinberger dann die Terrorserie von 2015. Kernpunkt war immer "die religiöse Frage", die Kluft zwischen religiösen und laizistischen Kräften wuchs.

"Allah ist der Größte" wird zum in Stein gemeißelten Credo der Islamisten

Der Diplomat wandte sich intensiven Islamstudien zu. Widersprüche taten sich auf. "Der wahre Islam" sei gegen Gewalt und für Toleranz, hieß es, doch der Koran lieferte dafür keinen Beleg. Im Gegenteil, Aufrufe zu Gewalt und Bestrafung, Drohung gegen alle, die sich nicht unterwerfen. Von einer Religion des Friedens könne keine Rede sein, so Weinberger. Der Spruch "Allah ist der Größte" wird zum in Stein gemeißelten Credo der Islamisten. Den nicht begründbaren "Wahrheitsanspruch" des Koran vergleicht er mit dem des "wahren Marxismus-Leninismus" der Sowjetunion.

Im ersten Teil des Buchs, "Erzählungen", beschreibt Weinberger seine persönliche Wahrnehmung der terroristischen Aktionen. Als Ausgangspunkt der späteren Protestbewegung 2013 sieht er die Flucht von Präsident Ben Ali, den er als brutalen Laizisten beschreibt, nach Saudi-Arabien. Islamisten nützen das Vakuum zur Kampfansage des politischen Islam. Präsident Habib Bourguiba hatte vor Ben Ali den liberalen Diskurs gefördert.

Der Diplomat schildert den Aufstieg der Islamisten-Partei Ennahda, die ab Juli 2013 eine Regierungstroika führte. Nach ihrem Wahlsieg wurde die Scharia propagiert. Ein Aufschrei ging durch Zivilgesellschaft und Medien. Abu Iyadh, Chef der islamistischen Ansar al-Sharia, wurde freigelassen. Im Mai 2012 wurde in Kairouan eine Salafisten-Konferenz organisiert. Ein massiver Export tunesischer Jihadisten nach Syrien zur Unterstützung von ISIS und Al-Nusra setzte ein.

2013 wird zum Jahr politischer Morde

2013 wird zum Jahr politischer Morde. Der Autor fragt sich: Warum spricht man von "friedlicher Yasmin-Revolution"? Im Jänner 2014 führte der nationale Dialog von Gewerkschafts- und Unternehmerverband zu einer neuen Verfassung. Doch die Rekrutierung von Tunesiern für den Daesh in Syrien, im Irak und in Libyen ging weiter. Ansar al-Sharia verbündete sich mit Al-Kaida, wurde verboten. 2014 zeigt das "neue Tunesien" auf. Die Ennahda wurde abgewählt. Doch das Annus Horribilis stand noch bevor. 2015 erschossen Salafisten im Bardo-Museum von Tunis 20 Menschen. Am Strand von Sousse wurden 38 Touristen getötet.

Der zweite Teil des Buchs, "Analysen", beschäftigt sich mit den Versuchen des Autors und von Islamologen, diese Entwicklungen zu interpretieren. Der politische Aufruhr rund um die arabische Revolution wird als Suche nach Identität geortet. Philosophen fordern die Befreiung von den Fesseln der Tradition. Der Experte Fethi Benslama sieht die islamische Welt im Übergang "von der Gemeinschaft zur Gesellschaft". Es herrsche Angst vor Aufklärung und Modernität. 2016 kämpften 5.000 Tunesier im Daesh, davon zehn Prozent Frauen.

Zur Krise des Islam zitiert Weinberger arabische Fachleute. Abdelwahab Meddeb sieht unangebrachte Selbstüberschätzung als "Geburtsfehler" des Islam. Hamadi Redissi spricht von Verlust der eigenen Identität. Gegen eine Modernisierung spreche viel: Der Prophet war ein militärischer Führer, Dogmatik behindere soziale und wirtschaftliche Entwicklung, die beanspruchte Sonderstellung sei hinderlich. Im Koran präsentiere sich Gott als grausam und rachsüchtig. Der Autor dazu: Radikalisierung und Terrorismus sind Ausdruck dieser Krise.

Forderung nach klarer Absage Europas an den politischen Islam

Denn die physische Gewalt von Islamisten habe sehr wohl mit dem "wahren Islam" zu tun. Laut dem Experten Mohamed Haddad spielen radikale Strömungen geschickt auf dem Klavier der Religionsfreiheit in Europa; das Fehlen einer übergeordneten religiösen Autorität trage zur Krise bei, führe zu Streit um Deutungshoheit. Moslem-Brüder wollen zurück zu den Wurzeln. Die Nicht-Neu-Interpretierfähigkeit des Koran verhindere Modernisierung und Demokratie. Zweifeln wird bestraft. Ein Schritt in die richtige Richtung wäre ein Verzicht auf obsolete Textstellen.

Der Autor fordert eine klare Absage Europas an den politischen Islam. Die Islamisten in Europa seien wie Wirtschaftskonzerne organisiert, siehe Moslem-Brüder. Ziel sei die Abschaffung des säkularen Europa. Dazu gehören: Networking, Pochen auf schlechtes Gewissen der europäischen Gesellschaft (inklusive Kolonialismus), Spiel mit dem Thema (gescheiterte) Integration, Besetzung des Flüchtlingsthemas und Unterwanderung von Hilfsorganisationen. Berufung auf den Koran bedeute Rückschritt. Im Christentum sei es anders gelaufen; dort pochten protestantische Reformer gegenüber den Katholiken auf die Bibel.