Irmgard Griss: "Kurz
bringt die Justiz in Misskredit"

Mehr als 30 Jahre lang war Irmgard Griss Richterin. Sie erklärt, warum Sebastian Kurz mit seiner Justiz- Schelte falsch liegt, was sie von den Grünen erwartet und welche Strafe die ÖVP bezahlen sollte.

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Politik - Irmgard Griss: "Kurz
bringt die Justiz in Misskredit"

In der türkis-blauen Regierungszeit wurde - auch von Ihnen -oft Sorge um Grund-und Menschenrechte in Österreich geäußert. Ist es unter Türkis-Grün besser geworden oder doch nicht?
Ankündigungen wie die Sicherungshaft lassen schon schließen, dass bestimmte beängstigende Projekte weiter verfolgt werden. Aber man muss abwarten, was unterm Strich herauskommt. Die Regierung behauptet ja, sie will die Sicherungshaft "verfassungskonform" machen, das geht aber nur durch eine Änderung der Verfassung. Dabei stimmt es gar nicht, dass wir diesbezüglich eine Gesetzeslücke haben.

Grünen-Chef Werner Kogler sagt, eine solche Haft sei nur für spezielle Fälle gedacht. Das komme vielleicht einmal in fünf Jahren vor. Wäre der Anlassfall in Dornbirn so zu verhindern gewesen?
Dieser Mann war ausgewiesen, ist trotzdem eingereist, seinen Asylantrag hätte man sofort erledigen und ihn in Schubhaft nehmen können. Diese Meinung vertreten namhafte Juristen, sie hat viel für sich. Das Problem ist ja nicht, dass wir keine Gesetzesbestimmungen haben, nach denen man gefährliche Leute präventiv unterbringen kann. Das Problem ist, dass schwer vorherzusagen ist, ob von jemandem Gefahr ausgeht oder nicht. Wir hatten in Graz den Fall, dass ein Mann eine ihm unbekannte Frau auf der Straße niedersticht, der am Tag zuvor aus dem Krankenhaus entlassen wurde.

Weil man ihn für nicht gefährlich hielt.
Offenbar. Das zeigt, wie schwierig es ist, das zu beurteilen. Was aber typisch ist: In diesem Fall hat es keine Diskussion gegeben, ob man ihn nicht hätte einsperren können. Er war ein Österreicher, der andere war Asylwerber.

Hat es Sie überrascht, dass die Grünen die Sicherungshaft im Koalitionspakt mittragen?
Gewundert hat es mich schon. Andererseits muss man sagen: Sie sind in der schwächeren Position, sie wollten in die Regierung, was legitim ist, und die ÖVP hat dieses Thema aufgewärmt und keine Zugeständnisse gemacht. Ich finde es traurig, dass man den Leuten damit suggeriert, es gibt Gefahren, wir wollen euch schützen, aber es geht derzeit nicht. Das verängstigt Menschen - eigentlich für nichts.

»Um wirklich etwas zu erreichen, müssen sich die Grünen mehr auf die Hinterfüße stellen«

Die Sicherungshaft ist nicht das einzige Thema, das grünen Werten entgegensteht: Werden sie die Kraft haben, dagegenzuhalten?
Die Grünen werden sich entscheiden müssen: Wollen wir in der Regierung bleiben und sind wir bereit den Preis zu zahlen, dass wir Glaubwürdigkeit verlieren, oder tun wir da nicht mit? Die Hoffnungen, die man in die Grünen in Sachen Klima gesetzt hat -da ist ja noch offen, was wirklich geschieht. Wenn man schon die Abschaffung von Tempo 140 als große Leistung verkauft, ist das eigentlich traurig. Um wirklich etwas zu erreichen, müssen sich die Grünen mehr auf die Hinterfüße stellen.

Wäre das den Neos auch passiert?
Ich hoffe sehr, dass die Neos nicht nachgegeben hätten. Aber man muss realistisch sein und sagen: Das ist für eine kleine Partei schon sehr schwierig.

Reicht es als Rechtfertigung, die FPÖ in der Regierung verhindern zu wollen?
Die wirklich wichtige Frage ist doch: Was geschieht mit den echten großen Herausforderungen? Im Bildungssystem, im Gesundheitssystem, in der Klimakrise? Das große Problem ist, dass wir vor Herausforderungen stehen, bei denen das bisherige Rezept nicht mehr taugt: das große Problem in viele kleine aufzuteilen, davon einmal eines zu lösen und den Rest einfach zu verschieben. Unsere jetzigen Probleme werden so nur größer und unbeherrschbar.

Die große langfristige Lösung ist allerdings das Gegenteil von dem, was populistische Politik bieten kann und will.
Das Traurige ist ja, dass die Menschen Versprechungen und einfachen Lösungen glauben. Da gibt es einen schönen Spruch: Wer wenig weiß, muss alles glauben. Der stimmt hier.

Hat Sie das in Ihrer aktiven politischen Zeit enttäuscht?
Das hat mich sehr gestört. Die andere Seite war, dass man ständig zeigen muss, dass man etwas tut. Wirkliche Lösungen brauchen aber Zeit. Doch die Politik ist so kurzatmig geworden und schaut nur auf die nächste Umfrage.

»Ich kann als Spitzenpolitiker nicht irgendwelche Behauptungen aufstellen, für die ich keine Belege habe«

Bundeskanzler Kurz hat in den letzten Wochen die Justiz attackiert - Ihre berufliche Heimat.
Das erinnert mich an den Fall, wo jemand ein Haus anzündet und dann zeigt, wie gut er löschen kann. Er bringt die Justiz in Misskredit, stellt unbewiesene Behauptungen in den Raum, und dann verspricht er mehr Geld und Reformen. Das hat mich extrem gestört. Das Vertrauen in die Justiz ist ein wertvolles Gut, ausschlaggebend für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Wenn die Menschen den Gerichten nicht vertrauen, was heißt das dann? Dass jeder sein Recht selbst in die Hand nimmt? Ich kann als Spitzenpolitiker nicht irgendwelche Behauptungen aufstellen, für die ich keine Belege habe. Und das auch noch zu einem Zeitpunkt, zu dem die WKStA gegen führende ehemalige ÖVP-Politiker ermittelt. Was bezweckt Kurz?

Es wird versucht, Druck auszuüben. Denkt vielleicht ein paar Mal nach, bevor ihr ermittelt, ihr habt eh einen schlechten Ruf, seid vorsichtig. Gibt es irgendetwas an Kurz' Kritik, dem Sie zustimmen können?
Es ist überhaupt nichts Neues dabei. Ich war mehr als 30 Jahre Richterin. Die Dauer der Verfahren war immer ein Thema, und wir haben uns immer bemüht, diese zu beschleunigen. Österreich ist im Spitzenfeld, was die Verfahrensdauer betrifft. Es aber richtig, dass manche Ermittlungsverfahren sehr lange dauern.

Warum ist das so?
Ein Grund ist der Personalmangel bei der Staatsanwaltschaft. Der zweite Grund ist: Wir haben Kriminalfälle mit internationalen Verquickungen und Beschuldigten, die jede Möglichkeit nützen, um etwa Zahlungsströme zu verschleiern. Und das Letzte sind die Berichtspflichten. Da kommt es vor, dass ein Akt mit einem Vorhabensbericht im Justizministerium ein Jahr liegt, bis entschieden wird. Dass nun eine bessere Ausstattung versprochen wird, das ist ja wohl selbstverständlich. Wenn ich immer den Rechtsstaat beschwöre, ist es ja das Mindeste, dass ich die Justiz entsprechend ausstatte.

Übergangsminister Clemens Jabloner hat gesagt, die Justiz stirbt einen stillen Tod. Wessen Schuld ist das?
Die Justiz hatte immer schlechte Karten. Justizminister waren nie die Schwergewichte ihrer Partei. Einerseits wünscht man sich eine unabhängige Persönlichkeit, andererseits hat man aber nur das entsprechende Gewicht, wenn man in der Partei stark verankert ist. Ein unabhängiger Minister hat einmal zu mir gesagt: Ich hab nichts zum Abtauschen.

Haben Sie in der Justiz politische Netzwerke miterlebt?
Mir sind keine untergekommen. Ich bin auch überzeugt, dass es die nicht gibt. Jeder Richter ist ab dem ersten Tag allein für seine Arbeit verantwortlich. Das gibt es nicht, dass da jemand dreinredet.

Kurz' Kritik war, dass die Staatsanwaltschaft Akten rausspielt, wenn z. B. ÖVP- Politiker betroffen sind.
Solange ich dafür nicht Schwarz auf Weiß einen Beweis sehen, glaub ich das nicht. Warum sollten die das machen? Das wäre völlig verrückt, denn das erschwert ihnen die Arbeit. Zudem üben Staatsanwälte ihre Funktion aus, weil sie etwas bewirken wollen, und nicht weil sie jemanden schützen wollen. Die sind sehr von ihrer Aufgabe und von ihrer Unabhängigkeit überzeugt.

Sektionschef Pilnacek hat Ex-ÖVP-Chef Pröll und Raiffeisen-Manager Rothensteiner zum Gespräch über ein laufendes Verfahren getroffen. War das gescheit?
Ich finde es jedenfalls unsensibel, und das zeigt auch, dass unser System, das die Weisungsspitze im Justizministerium ansiedelt, nicht gut ist. Bei Pilnacek haben wir noch dazu eine besondere Konstellation: Er steht der Straflegistik vor und gleichzeitig der Weisungsabteilung für Einzelstrafsachen. In seiner ersten Funktion muss er Kontakt zur Politik halten, in seiner zweiten diesen unbedingt vermeiden. Denn sonst ist die Befürchtung rasch bei der Hand, dass es sich jemand gerichtet hat, weil er Politiker ist oder einen kennt.

Sie würden die Weisungsspitze lieber nicht im Justizministerium ansiedeln?
Ja. Und Herr Kurz lehnt das mit dem Argument ab, im Ministerium gäbe es die politische Verantwortung, und bei einem Generalstaatsanwalt nicht. Das ist völlig daneben. Den Generalstaatsanwalt würde genauso wie etwa die Präsidentin des Rechnungshofs (RH) das Parlament bestellen, er wäre diesem gegenüber verantwortlich. Viele europäische Staaten haben dieses System, und zwar nicht aus Jux und Tollerei. Ein Regierungsmitglied als Weisungsspitze ist die Ausnahme.

Die SPÖ hält den RH ja nicht für unparteiisch.
Ein Fauxpas von Rendi-Wagner - das hat mich sehr enttäuscht. Ich war Vorsitzende des RH-Ausschusses, Frau Kraker ist unparteiisch, nicht auf einem Auge blind. Das ist böswillige Unterstellung. Eine schwache Ausrede, warum der RH Rechenschaftsberichte der Parteien bekommt, aber nicht nachschauen darf, ob das wirklich stimmt.

Die neue Regierung hat Reformen zu Transparenz und Parteienfinanzierung angekündigt. Was muss da drinstehen?
Zum Beispiel, dass der RH die Parteien auf Herz und Nieren prüfen darf, und zwar zeitnah zu einem Wahlkampf. Die Strafen für Wahlkampfkostenüberschreitungen müssen empfindlich sein. Die ÖVP überschreitet die Grenze um sieben Millionen Euro und zahlt 800.000, das ist eine Farce.

Was wäre angemessen?
Das Eineinhalbfache der Überschreitung.

»Der Bundeskanzler beklagt parteipolitische Besetzungen. Da muss er vor der eigenen Türe kehren«

Das wären elf Millionen.
Da würde man es sich überlegen. Genau. Was auch noch kommen muss, ist das Ende des Amtsgeheimnisses. Das wirksamste Mittel gegen Korruption und Schlampereien in Verwaltung ist Transparenz. Wie laufen Entscheidungen ab? Auch bei Postenbesetzungen. Der Bundeskanzler beklagt, dass es parteipolitische Besetzungen bei bestimmten Posten gibt. Da muss er vor der eigenen Türe kehren. Ich hab mir seinerzeit gedacht, als ich Richterin geworden bin, das ist der einzige Bereich, wo man etwas erreichen kann, ohne bei einer Partei zu sein. Parteimitgliedschaft ist bei Richtern verpönt. Aber wenn Herr Kurz nun meint, es sollte alles anders sein, ist er herzlich eingeladen, wie in anderen europäischen Ländern einen Rat der Gerichtsbarkeit einzuführen, der aus Richtern und Staatsanwälten besteht und die neuen Richter auswählt. Aber in Österreich konnten wir bisher nicht einmal durchsetzen, dass sich der Justizminister bei der Richterernennung an die Reihung im Dreiervorschlag des Personalsenats halten muss.

ZUR PERSON: Irmgard Griss, 73 Die Steirerin studierte Jus und legte die Anwaltsprüfung ab. Danach entschloss sie sich, Richterin zu werden. Sie war zunächst am Handelsgericht und Oberlandesgericht Wien tätig, 1993 wurde sie Richterin am Obersten Gerichtshof, 2007 OGH-Präsidentin. 2016 trat sie als unabhängige Kandidatin bei der Bundespräsidentschaftswahl an und erreichte 18,9 Prozent der Stimmen. Von 2017 bis 2019 war Griss Neos-Abgeordnete im Nationalrat.

Das Interview ist ursprünglich in der Printausgabe von News (Nr. 8/2020) erschienen!