Sigrid Pilz: „Telefonieren die mit dem lieben Gott?“

Die Fast-Gesundheitsministerin über die Corona-Pandemie & den (fast) unmöglichen Ministerjob

Sie wäre fast neue Gesundheitsministerin geworden. Die Wiener Patientenanwältin Sigrid Pilz war unter den Favoriten für den Job des zurückgetretenen Rudolf Anschober, sagte aber ab. Warum die Verhältnisse dieses Postens ihres Erachtens die Quadratur des Kreises sind und was sie Neo-Minister Wolfgang Mückstein mit auf den Weg gibt.

von
Interview - Sigrid Pilz: „Telefonieren die mit dem lieben Gott?“

Was sagen Sie zum Rücktritt von Gesundheitsminister Anschober?
Es zeigt, wie herausfordernd dieses Amt ist und Bundesminister Anschober hat sehr anschaulich und eindrücklich erklärt, warum er zurückgetreten ist. Es spiegelt die Belastung und die Zentrifugalkräfte wider, die am Gesundheitsminister zerren.

Auch Ihr Name fiel beim Thema NachfolgerIn. Wurde mit Ihnen gesprochen?
Selbstverständlich.

Warum ist es nichts geworden?
Weil ich sehr gerne Patientenanwältin bin. Es war eine sehr ehrenvolle Anfrage, aber ich mache gerne was ich mache.

Was sagen Sie zu Wolfgang Mückstein, der es schlussendlich geworden ist?
Wolfgang Mückstein kenne ich seit sehr vielen Jahren. Ich schätze ihn sehr, bin über seine Tätigkeit im Primärversorgungszentrum und seine Aufbauleistung informiert und weiß auch, dass er als Grüner Kammerfunktionär in der Ärztekammer versucht hat, die Dinge in die richtige Richtung zu entwickeln, was das Bohren harter Bretter ist.

»Die Verhältnisse, in denen er arbeiten muss, sind die Quadratur des Kreises. «

Trauen ihm den Gesundheitsminister zu?
Ich finde, die Frage ist falsch gestellt, ob man es ihm zutraut. Er ist ein absolut reflektierter, durchsetzungsstarker Mensch. Nur die Verhältnisse, in denen er arbeiten muss, sind die Quadratur des Kreises.

Inwiefern?
Er hat weitreichende Kompetenzen, er kann Verordnungen erlassen, kann auf den Tisch hauen, aber offensichtlich können die Länder und der Koalitionspartner sagen: „Aber nicht mit uns!“ Und das ist für jeden, der in diesem Amt ist, eine Herausforderung.

Denken Sie, wird er sich da durchsetzen können?
Er spricht davon, dass er unpopuläre Entscheidungen treffen wird. Da kommt das Wort unpopulär und Entscheidung vor und beides nehme ich an, ist nötig.

»Ich erwarte, dass er unterstützt wird! «

Was würden Sie dem neuen Minister mit auf den Weg geben, was würden Sie ihm raten?
Ganz klar: Transparent zu agieren, faktenbasiert zu agieren und die eigene Verantwortung und die Durchgriffsrechte für sich zu beanspruchen. Und ich erwarte, dass er unterstützt wird! Weil weder die Länder, noch die Wirtschaft, noch der Koalitionspartner können ein Interesse daran haben, dass er sich nicht bewährt. Wesentlich wichtiger als die Frage, ob das ein grüner Gesundheitsminister ist, ist die Frage, ob das ein Gesundheitsminister ist, der die Möglichkeit hat, durch die Pandemie zu steuern.

Mückstein sagte bereits, dass er die Lockdowns derzeit für sinnvoll hält. Das Burgenland wird ihn dennoch am Montag beenden. Wie sehen Sie das?
Ich verlasse mich da auf die Wissenschaft und halte die Argumente, die es jetzt für den Lockdown gibt, für absolut plausibel, gepaart mit wirklich klarem Contact Tracing, damit man auf einem Niveau in den Sommer starten kann, wo man die Möglichkeit hat, die Pandemie unter Kontrolle zu halten. Insofern kann ich die Entscheidung des Burgenlands überhaupt nicht nachvollziehen, denn welche Konsequenzen hat das? Kommen dann alle aus den angrenzenden Bundesländern nach Parndorf zum Einkaufen? Diese Fragen sind mitzubehandeln. Das Burgenland ist ja nicht Neuseeland.

Sie haben Erziehungswissenschaften studiert und sich auch beruflich mit Familien und Jugendlichen beschäftigt. Gerade diese Gruppe leidet vor allem psychisch sehr unter den Umständen der Pandemie. Was wäre das wichtigste für Kinder, Jugendliche und Familien derzeit?
Neben vielen anderen Baustellen rund um Corona ist das Ausblenden der Risikosituation der Familien sowie Jugendlichen und Kinder eine der besorgniserregendsten Situationen. Einerseits die soziale Isolation, das Herausfallen aus dem Bildungsprozess und so weiter. Andererseits muss man die Frage stellen: Wenn jetzt die Inzidenzen sinken - Zu welchen Lasten?

Die Älteren sind geimpft, ein paar haben die Pandemie durchgemacht und die Kinder sind einerseits das Nadelöhr, durch das die Erkrankung in die jungen Familien hineinkommt und andererseits hat man sich noch viel zu wenig mit Long Covid bei dieser Gruppe beschäftigt. Und ein relativ besorgniserregender Prozentsatz an Kindern erkrankt an Long Covid! Es sollte uns interessieren wie lang da „long“ ist. Einen Zweijährigen, der vielleicht ein Leben lang Gefäßschäden hat, das wollen wir uns nicht vorstellen.

Außerdem muss man die Rechnung neu machen und aus der Inzidenz jene herausrechnen, die geimpft sind oder Antikörper entwickelt haben. Irgendwann gibt es sonst zwar eine moderate Tagesinzidenz, aber die ist verfälscht, weil sie in Wahrheit viel höher ist und insbesondere Kinder und Jugendliche betroffen sind. Weil es so viele gibt, die eh schon aus dem Spiel sind, aber nicht aus dem Spiel genommen werden.

»Es ist nicht einzusehen, warum junge Familien so eine große Last tragen müssen.«

Was würde das für die Schulen bedeuten?
Da müsste viel mehr Geld und Hirnschmalz hinein! Was man sich alles ausgedacht hat, damit eine Gondel fährt…
Warum gibt es in Kindergärten und Schulen nicht diese Luftreinigungssysteme? Warum sorgt man nicht dafür, dass man jetzt draußen sein kann und dass mehr Personal da ist? Das würde eine nationale Anstrengung bedürfen, die eine Entscheidung zur Voraussetzung hätte. Man müsste sagen: Es war gut und wichtig, dass wir die Pflegeheime geschützt haben, aber vergessen wir nicht ganz die Kleinen. Es ist nicht einzusehen, warum junge Familien so eine große Last tragen müssen.

Seit über einem Jahr beschäftigt uns die Corona-Krise nun schon. Wie geht es Ihnen damit, wie gehen Sie damit um?
Mein Aufgabengebiet hat sich schon erweitert und verändert. Wir reden in der Patientenanwaltschaft über Dinge, über die wir uns vor zwei Jahren nicht einmal zu denken gewagt hätten, wie etwa Freiheitseinschränkungen in Pflegeheimen. Da hat die Pandemie die Schwächen unseres Systems gezeigt. Man muss sich fragen, ob Pflegeheime mit 300 Leuten in pandemischen Zeiten eine Zukunft haben.

Und es hat sich auch verändert, dass wir jetzt über Priorisierung nachdenken müssen. Diese neue Diskussion, auf die waren wir nicht vorbereitet, sowie auch nicht darauf, mit Ungerechtigkeiten und unsolidarischem Verhalten umzugehen. Und die Zuschriften der Menschen, die hier objektiv benachteiligt werden, sind zahllos und zum Niederbrechen.

»Das Licht am Ende des Tunnels kann auch die Taschenlampe vom Rettungsdienst sein. «

Wie meistern Sie Herausforderungen?
Man muss mit Respekt vor dem eigenen Nicht-Wissen damit umgehen. Das kritisiere ich an vielen Politikern und hätte es, hätte ich den Job angenommen, niemals so gemacht: Denn alle die, die sagen „Im Sommer ist es eh vorbei“, da frage ich mich: Telefonieren die mit dem lieben Gott? Das wissen wir nicht! Das Licht am Ende des Tunnels kann auch die Taschenlampe vom Rettungsdienst sein.