Peter Kaiser: "Das würde die Büchse der Pandora öffnen"

Zwischen umstrittenen Maßnahmen gegen die Coronapandemie, Diskussionen um Afghanistan-Flüchtlinge und Bemühungen für ein Wiedererstarken der Sozialdemokratie: Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser über die innenpolitische Lage, Kanzler Kurz sowie die Frage, wer die SPÖ in allfällige Neuwahlen führen soll

von Interview - Peter Kaiser: "Das würde die Büchse der Pandora öffnen" © Bild: Ricardo Herrgott

Herr Kaiser, ein Thema, das die Öffentlichkeit derzeit besonders beschäftigt, ist Afghanistan. Von der Diskussion um Abschiebungen über den Disput mit der EU um sichere Fluchtrouten bis zur Aussage des Bundeskanzlers, keine Flüchtlinge von dort aufnehmen zu wollen. Wie stehen Sie dazu?
Die Aussagen von Innenminister Nehammer zu Abschiebungen nach Afghanistan sind reine Ablenkung und triefen vor Zynismus, das ist eine fiktive Diskussion zur Bedienung einer bestimmten Klientel. Dabei würde man sich dem Thema auch konzeptionell nähern können, ohne auf primitive Reflexe abzuzielen. In unserem erarbeiteten Doskozil-Kaiser-Papier haben wir schon vor zweieinhalb Jahren die Errichtung von Aufnahmezentren für Asylverfahren vorgeschlagen. Auch der jüngste Vorschlag von Parteichefin Pamela Rendi- Wagner orientiert sich daran. Entscheidend ist, wie im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention die Lage in Afghanistan bewertet wird. Daran werden sich weitere Entscheidungen zu orientieren haben. Letztlich wird man begreifen müssen, dass man hier nicht nationalstaatlich handeln kann. Die EU braucht endlich eine gemeinsame Außen-und Flüchtlingspolitik.

Wiens Bürgermeister Michael Ludwig hat erklärt, dass Wien bestimmte Flüchtlinge, die in Afghanistan bedroht sind, wie etwa Menschenrechtsaktivisten, aufnehmen würde. Würde das Kärnten auch machen?
Das sind Entscheidungen, die auf Unionsebene zu treffen sind und dann in Gemeinsamkeit in einer vernünftigen Aufteilung zu geschehen haben. Was Michael Ludwig meinte, ist, dass jene Menschen, die in Afghanistan für die EU tätig waren und für die wir quasi eine Verantwortung haben, innerhalb Europas in Hauptstädten Schutz finden sollten. Wenn das eine österreichweite Vorgehensweise wäre, natürlich auch in Klagenfurt. Bei den Kindern von Moria wären Ludwig und ich sowie viele andere Bürgermeister bereit gewesen, Kindern eine Heimat zu geben; die Bundesregierung hat das bekanntlich nicht zugelassen.

Ihr umstrittener Vorschlag zur rascheren Verleihung von Staatsbürgerschaften ist wieder in der Versenkung verschwunden. Sogar Ihr Tiroler Parteikollege Georg Dornauer hat jüngst erklärt, der sei derzeit kein Thema
Dabei ging es um einen Parteiantrag, der im Bundesparteivorstand angenommen wurde -und den ich im Team gelöst habe. Der Vorschlag wäre gewesen: Wenn ein Elternteil unter Einhaltung aller strengen Regeln zumindest fünf Jahre in Österreich lebt und arbeitet, ein Kind bekommt, dass dieses auch die österreichische Staatsbürgerschaft erhält. Dass damit das Abendland untergehen sollte, ist für mich sehr weit hergeholt. In einer Gesellschaft, in der wir nach Arbeitskräften rufen, wird dieses Thema relevant bleiben und längerfristig zu einem Wettbewerbsfaktor werden. Neben Bulgarien und Estland hat Österreich das rigoroseste Staatsbürgerschaftsgesetz.

»Die Aussagen von Innenminister Nehammer sind reine Ablenkung und triefen vor Zynismus«

Ein Dauerthema ist die Coronapandemie: die lässt uns nicht los -auch weil die Impfbereitschaft in der Bevölkerung nicht so hoch ist, wie sie sein sollte. In Kärnten ist sie im Vergleich besonders niedrig, warum?
Das hat auch mit den regionalen Besonderheiten des Landes wie einer großen Zersiedelung und mangelndem Vertrauen in die Aussagen der Regierung zu dem Thema zu tun. Außerdem müssen offene Fragen noch deutlicher ausgeräumt werden -etwa bei den Jungen Sorgen, die Fertilität oder Schwangerschaft betreffen. Bei Fragen zur Immunkraft könnte man auch überlegen, flankierend Antikörpertests miteinzubeziehen -um zu signalisieren, dass alle Möglichkeiten zusätzlich zur Impfung ausgelotet werden. Bei jenen, die geimpft werden dürfen - ab zwölf Jahren aufwärts -, kommen wir in Kärnten auf eine Impfquote von 59,8 Prozent Vollimmunisierten und 63,9 Prozent, die den ersten Stich haben. Wir werden also bald knapp zwei Drittel erreichen.

Das ist aber immer noch zu wenig...
Ich denke, wir werden in Richtung der 70 Prozent kommen. Und es gibt ja immer kreativere Möglichkeiten, damit die Menschen zum Impfen kommen. Seit Mitte Juli haben wir erfreulicherweise kein einziges Todesopfer mehr und 18 Coronapatienten im Krankenhaus, davon fünf auf der Intensivstation, der allergrößte Teil davon ungeimpfte. Auch ein Argument, das alle, sofern sie nicht völlig verblendet oder fehlgeleitet sind, überzeugen sollte.

© Ricardo Herrgott

Sind Sie für die angedachte Abschaffung kostenloser Coronatests?
Wenn sie Teil eines Gesamtkonzepts ist, kann man darüber reden. Dass man damit die Pandemie eindämmen will, erscheint mir nur nicht logisch - außer dass man damit vielleicht die Menschen zum Impfen drängen will. Das gehört aber mit Experten konsequent durchgedacht. Wenn man eine Impfpflicht will, gegen die ich in der jetzigen Situation, auch aus rechtlichen Überlegungen, bin, müssen auch alle Konsequenzen bedacht werden. Werden die Menschen dann von ihrer Arbeit ausgesperrt, in Handschellen zur Impfung geführt oder die Arbeitgeber in die Pflicht genommen? Wie geht man mit Kleinkindern um? Man redet sehr leicht über Maßnahmen, denkt sie aber nicht durch - weder hinsichtlich Praktikabilität oder möglicher Sanktionen.

Und wie stehen Sie zu einer möglichen flächendeckenden 1-G-Regel - wonach nur noch Geimpfte gewisse Veranstaltungen besuchen können?
Das ist wieder so ein Punkt: Wenn, dann muss eine solche zumindest für ganz Österreich gelten. Wir sprechen ja von eine Pandemie in einer globalisierten Welt. Die Zahlen steigen zwar wieder an, gleichzeitig sinkt aber die Intensität der Erkrankungen und sinken auch die Todeszahlen. Wenn ich von heute auf morgen 1 G verordne, was heißt das? Dann dürfen bei jedem Fußballspiel oder jeder größeren Veranstaltungen nur noch Geimpfte sein.

Ja, um die Menschen zum Impfen zu bewegen...
Wenn das die Strategie ist, muss man die auch offen so diskutieren und erklären, dass das die einzige Alternative ist. Es gibt auch Menschen, die sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen können, und alle bis zwölf Jahre ebenfalls. Deshalb braucht es auch für die klare Regelungen und die Beantwortung der Frage, welcher Prozentsatz für eine Herdenimmunität erreicht werden muss. Wenn das 80 Prozent sein sollen, dann halte ich die wahrscheinlich auch ohne Impfzwang für erreichbar. Wenn die 1-G-Regel Teil der Strategie sein sollte, muss abgewogen werden, ob die das Erreichen des Ziels beschleunigt, eher abschreckt, neuen Widerstand erzeugt oder die Spaltung der Gesellschaft vorantreibt.

Was also tun?
Ich bin in den meisten Fällen ein Anhänger der gelinderen Mittel, des Versuchs, solange es geht, mit Beispielen, Erfahrungsberichten oder Zahlen zu überzeugen. Ich denke, wir haben noch nicht das gesamte Repertoire durch. Wogegen ich aber eindeutig bin, sind monetäre oder sonstige Belohnungen für das Impfen. Das würde die Büchse der Pandora öffnen und künftig eine Politik ohne Benefits verunmöglichen.

Befürchten Sie, dass wieder ein Lockdown auf uns zukommen könnte?
Eine vierte Welle muss nicht unbedingt einen neuen Lockdown bedeuten. Ich denke, wir haben gute Chancen, einen solchen zu vermeiden. Die Zahlen sind im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zwar höher, die Krankheitsverläufe aber milder und die Impfquoten doch relativ hoch. Ein Lockdown, wie wir ihn dreimal erlebt haben, wäre weder für die Wirtschaft noch für die Menschen gut.

»Wogegen ich eindeutig bin, sind monetäre oder sonstige Belohnungen für das Impfen«

Soziale Themen stehen seit Corona im Fokus, die Parteivorsitzende hat einen medizinischen Background. Dennoch hat es die SPÖ nicht geschafft, mit ihren politischen Positionen bei den Menschen zu punkten...
Ich sehe das differenzierter. Der Sozialstaat hat sich in der Pandemie als ein Bollwerk manifestiert, und die SPÖ ist die einzige Partei, die das regelmäßig anspricht - vor allem seine Weiterentwicklung und finanzielle Absicherung als Themen der nahen Zukunft. Ohne die Transferleistungen des Sozialstaats würden fast 44 Prozent der Menschen unter die Armutsgrenze fallen. Gleichzeitig finanziert sich der Staat zu 80 Prozent aus Beiträgen von Arbeitnehmern und über Massensteuern wie die Umsatzsteuer. Dazu muss man wissen, dass der Anteil der von Menschen erbrachten Produktion, Stand 2018,72 Prozent und der aus automatisierten Prozessen 28 Prozent betragen hat. Schon 2025 werden aber 52 Prozent der Leistungen aus automatisierter Wertschöpfung kommen, beispielsweise von Robotern. Man wird um neue Formen der Beitragseinhebung nicht herumkommen.

Konkret heißt das?
Wenn wir wollen, dass wir, dass unsere Familienmitglieder bei Krankheit oder nach einem Unfall auch in Zukunft in öffentlichen Krankenhäusern umsorgt werden, wenn wir unseren Kindern auch in Zukunft freien Zugang zur Bildung gewährleisten und weiter individuell maßgeschneiderte Pflegeangebote für unsere Eltern und Großeltern wollen, dann braucht es gerechtere, fairere Beiträge auch von internationalen Konzernen wie Google oder Amazon, die bisher Gewinne verschieben, und auch die Besteuerung u. a. von Robotertätigkeiten.

In der SPÖ hat man oft den Eindruck, es fehlt die einheitliche Linie. Nicht nur, was Migration betrifft, auch beim Thema Mindestlohn zum Beispiel. Burgenlands SPÖ-Chef Doskozil führt den 1.700-Euro-Nettomindestlohn ein, Sie in Kärnten ab nächstem Jahr 1.500 Euro netto (plus Aufstiegsmöglichkeiten), und Parteichefin Rendi-Wagner fordert, dass das AMS nur noch Jobs mit zumindest 1.700 Euro brutto vermitteln soll...
Das ist kein Widerspruch. Wir sind die einzige Partei, die hier, gemeinsam mit den Gewerkschaften, eine klare Linie hat: nämlich, dass es eine Art Mindesteinkommen für einen entsprechenden Arbeitseinsatz geben soll. Dass es vielleicht 15 Prozent Unterschied bei den Beträgen gibt, hat mit unterschiedlichen Systemen zu tun, die aber auf dasselbe Ziel hinauslaufen. Und da wir uns in einem kompetitiven Umfeld befinden, geht es auch darum, auf europäischer Ebene gerechte, adäquate Mindestlöhne festzulegen.

Von einem bedingungslosen Grundeinkommen halten Sie aber nichts?
Ich bin kein Anhänger des Begriffs "bedingungslos", weil der eine sachliche Diskussion unmöglich macht. Jeder Mensch in unserer Gesellschaft soll ein existenzgesichertes Dasein führen können, nicht obdachlos sein und sich seine Minimalbedürfnisse erfüllen können. Eine Mindestsicherung unter der Armutsgrenze -ob die nun bedarfsorientiert oder Sozialhilfe heißt -ist ja gesellschaftlich akzeptiert. Dazu kommen noch Familienbeihilfe, Wohnbeihilfe oder die Ausgleichszulage für Pensionisten. Wir haben solche Grundsicherungselemente also schon. Angesichts kommender Entwicklungen würde ich die aber noch weiterentwickeln.

Unlängst sagten Sie in einem Interview mit dem "Falter", die SPÖ sei für viele Menschen nicht mehr cool. Ist cool zu sein Aufgabe einer Partei?
Nein, was ich meinte, war unser Erscheinungsbild, das im Vergleich zu Neos oder Grünen nicht so cool wirkt. Die SPÖ ist die strukturkonservativste Partei hinsichtlich Gremien und Entscheidungsprozessen. Ein bisschen frischer Wind würde uns guttun.

Und wofür steht die SPÖ?
Für eine gerechtere Gesellschaft, die sich ihrer Enkelverantwortung bewusst ist und schaut, dass man unter den gegebenen Umständen niemanden zurücklässt.

Wurde die Pandemie von der Regierung eigentlich gut gemanagt?
Ich würde das nie schwarz oder weiß sehen. Was mir aber aufgefallen ist: Wenn es in Richtung Erleichterungen oder besserer Infektionszahlen ging, war die Bundesregierung weitaus präsenter als in schwierigeren Situationen. Am besten hat es funktioniert, wenn es eine enge Abstimmung mit den Ländern gegeben hat. Ich glaube, dass die Kommunikation verbesserungswürdig war und ist - zum Beispiel jetzt, was den dritten Impfstich betrifft. Oder die angekündigte Abschaffung der kostenlosen Haustests. Bei entscheidenden Schritten wird oft zu viel in die Öffentlichkeit getragen, bevor gründlich darüber nachgedacht wird. So entstehen mehr Fragen als Antworten.

Vielleicht mit Absicht?
Ich will niemandem negative Intentionen unterstellen, mir kommt das in der momentanen Phase aber wie ein Fleckerlteppich vor: Hauptsache, ich sage etwas und komme in den Medien vor. Das ist aber der falsche Weg. Eine Pandemie ist so lange eine Pandemie, solange sie nicht auf eine Epidemie zurückgestuft wird. Und das ist derzeit nicht der Fall. Deshalb erwarte ich mir von jenen, die für die Pandemiebekämpfung zuständig sind - also federführend von Gesundheitsministerium und Bund -, schon einen adäquaten Austausch.

Und die Ankündigungen von Bundeskanzler Kurz, der der Bevölkerung einen normalen Sommer und ein Ende der Pandemie versprochen hat?
Ich wünsche mir, dass es einmal eine Best-of-Sammlung dieser Prophetien gibt, ich würde dem Bundeskanzler in dem Zusammenhang den Alleinvertretungsanspruch aber absprechen. Aber er ist top in der Kluft zwischen Ankündigungen, Prognose und Realität.

»Ein verurteilter Kanzler müsste natürlich zurücktreten«

Und wie beurteilen Sie die Performance der Regierung, das Zusammenspiel von Türkis und Grün insgesamt?
Manchmal bewundere ich, welche Ausweichmanöver die Grünen zu bringen im Stande sind. Ich habe nie gewusst, was man mit einer Scheinehe so wirklich meint. So wie es aussieht, das, was die Bundesregierung unter dem liebeserklärenden Titel "das Beste aus beiden Welten" darstellt.

Gesetzt den Fall, die Koalition scheitert und es kommt zu vorgezogenen Wahlen: Wird Pamela Rendi-Wagner dann die Spitzenkandidatin sein?
Wenn es eine allfällige Wahl gibt -aus welchen Gründen immer, was man nie ausschließen kann -, dann ist es sofort Zeit, dass die Gremien eine Entscheidung treffen. Wenn es so weit ist, bin ich der Erste, der sagt, diskutieren wir das intern -egal ob Rendi-Wagner oder wer immer. 2024 ist die nächste reguläre Wahl, davor haben wir spätestens im Frühjahr einen Parteitag. Das ist daher eine artifizielle Diskussion.

Sie selbst haben sich dazu auch nicht klar positioniert, außer dass Sie es selbst nicht machen werden. Wer könnte es dann sein - Michael Ludwig vielleicht?
Das Angenehme bei mir in dem Zusammenhang ist, dass ich von Tag zu Tag und Frage zu Frage immer älter werde. Ich denke, dass wir derzeit ein bestelltes Haus haben, grundsätzlich haben wir aber ein breites Reservoir an guten Leuten in der Partei für verschiedene wichtige Positionen. Eines gilt in der Politik natürlich: Bekanntheitsgrad erwirbt man sich vornehmlich in einer Funktion.

Wäre für Sie eine Regierungsbeteiligung mit der ÖVP unter Kurz als Juniorpartner denkbar?
Sebastian Kurz als Juniorpartner könnte ich mir vorstellen (lacht). Ich habe eine sehr gut funktionierende Koalition mit der ÖVP in Kärnten, bereits in der zweiten Periode. In der ersten waren noch die Grünen mit dabei, was auch sehr befruchtend war. In Kärnten können wir gut miteinander, und ich merke auch, dass die Menschen das schätzen. Vor einer Wahl schließe ich mit keiner sich innerhalb des Demokratiebogens befindlichen Partei eine Zusammenarbeit aus. Es gibt vieles, was man erst nach einer Wahl entscheiden sollte.

Gegen Bundeskanzler Kurz ermittelt ja die Staatsanwaltschaft. Er hat erklärt, bei einer Anklage bzw. bei einer Verurteilung nicht zurücktreten zu wollen...
Ich weiß noch, was man von mir verlangte, als ÖVP und FPÖ mich 2012 angezeigt haben (wegen der Top-Team-Affäre, Anm.). Ich habe damals gesagt, dass ich zurücktrete, wenn ich angeklagt werde -das ist nach wie vor mein Maßstab. Ein verurteilter Kanzler müsste natürlich zurücktreten.

Dieses Interview erschien ursprünglich in der News Ausgabe Nr. 34/21

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