Altabt und Rocker: Warum er
keine Angst vor Corona hat

Benediktiner Notker Wolf ist nicht nur Geistlicher, sondern auch Musiker, Philosoph, Sprachtalent und vor allem Freigeist. In der Rockband "Feedback" spielt der 80-Jährige die E-Gittare, privat genießt er auch die Klänge von Mozart. Im Interview mit News.at verrät er, warum man keine Angst vor Corona haben sollte und woran es der heutigen Gesellschaft mangelt.

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Notker Wolf © Bild: imago/epd
Notker Wolf vom Orden des Heiligen Benedikt (OSB) wurde als Werner Wolf am 21. Juni 1940 in Bad Grönenbach im Allgäu geboren. Nach seinem Abitur trat er 1961 im Alter von 21 Jahren in das Benediktinerkloster Sankt Ottilien ein und nahm den Ordensnamen "Notker" an. Von 1962 bis 1974 studierte er in Rom und München Theologie, Philosophie, Zoologie, Anorganische Chemie und Astronomiegeschichte. 1971 ging er als Professor für Naturphilosophie und Wissenschaftstheorie an die Päpstliche Hochschule Sant’Anselmo in Rom. 1977 wurde er zum fünften Erzabt der Erzabtei St. Ottilien gewählt. Von 2000 bis 2016 war Notker Wolf Abtprimas des Benediktinerordens und damit oberster Repräsentanten der Benediktiner weltweit. Nach seiner Emeritierung kehrte er in die Erzabtei Sankt Ottilien zurück, wo er heute lebt. Notker Wolf hat zahlreiche geistliche Publikationen veröffentlicht. Er ist außerdem Mitglied der Rockband "Feedback" und spielt Geige, Querflöte und E-Gitarre.

Sie sind 1961 im Alter von 21 Jahren in das Benediktinerkloster Sankt Ottilien eingetreten. Wie ist es dazu gekommen?
Ich bin auf dem Land in einer gut katholischen Familie aufgewachsen. Sie war keinesfalls bigott. Es war die übliche Frömmigkeit, man ist am Sonntag in die Kirche gegangen und hat in der Früh und am Abend und bei Tisch gebetet. Ich war ein eifriger Ministrant, wollte aber nie Priester werden. Die Leute haben mich gefragt, ob ich nicht Pfarrer werden möchte, und ich habe gesagt: "Nein, ich möchte eine Familie haben und einen Beruf lernen".

Notker Wolf
© imago stock&people Benediktiner Notker Wolf

Mit vierzehneinhalb Jahren habe ich auf dem Dachboden ein Buch gefunden von Pierre Chanel. Das war ein Südsee-Missionar im 19. Jahrhundert, der auf einer Insel umgebracht wurde, als der Häuptlingssohn sich taufen lassen wollte. Als später Mitbrüder von ihm an der Insel vorbeikamen, haben die Einwohner gesagt, dass sie in dem Moment, in dem sie den Pater umgebracht haben, erkannt haben, was er ihnen eigentlich bringen wollten. Und die Inselbewohner wollten sich alle taufen lassen. Das hat mich so gepackt, dass ich mir gesagt habe: "Du machst Ähnliches und setzt dein Leben für das Evangelium ein, für Jesus Christus. Das macht Sinn." Als Kind war ich oft krank und ich habe mich schon gefragt, was aus meinem Leben einmal werden soll. Der Pfarrer hat mich dann nach Sankt Ottilien an die Schule gebracht. Die ganze Schule und das, was wir dort kulturell getan haben, hat mir so gefallen, dass ich nach dem Abitur eingetreten bin.

»Ich wollte ein angstfreies Kloster«

Man kann sagen, dass Sie ein Freigeist sind ...
Ich musste mich schon damals gegen meine Lehrer an der Oberrealschule durchsetzen, die mich unbedingt behalten wollten. Ich habe gesagt: "Nein, ich mache das. Einmal entschieden, bleibe ich dabei". So war es auch später. Die 68er-Bewegung, die Studentenrevolte, hat mir zunächst sehr getaugt, weil ich gegen jede Bevormundung war. Und diese Bevormundung habe ich auch in der Kirche und im Kloster verspürt und dagegen habe ich mich eingesetzt. Ich habe, als ich zum Abt gewählt worden bin, gesagt: "Ich möchte ein angstfreies Kloster".

Welche Ängste waren im Kloster vorhanden?
Man wurde immer wieder beäugt und gegängelt und das war nicht meine Sache. Es gab zum Beispiel damals noch die Briefzensur. Ich sage, dass die Freiheit der Kern des Christentums ist.

In Ihrem neuen Buch betonen Sie wie wichtig Freiheit in Verbindung mit einer Eigen- und Mitverantwortung in der Gesellschaft sind.
Gerade bei den 68ern habe ich bemerkt, dass sie Freiheit als Willkür verstanden haben. Sie haben getan, was sie wollten, Vorlesungen und dergleichen gestört und ich wollte Vorlesungen hören. Das geht nicht. Deshalb gehört bei mir die Verantwortung dazu, das ist die Rückseite der Medaille der Freiheit.

Inwieweit mangelt es sowohl an Freiheit als auch an Mitverantwortung in der heutigen Gesellschaft?
Das ist im Moment in unserer Gesellschaft das große Problem, dass die Regierungen unsere Freiheiten enorm beschneiden. Ich frage mich immer, wenn es wie jetzt um eine etwaige Verlängerung des Lockdowns geht, auf welcher Basis der Lockdown für zwei, drei Wochen oder einen Monat verlängert wird? Und es wird rein auf die körperliche Gesundheit geachtet. Wie es mit der psychischen Gesundheit aussieht, das ist noch gar nicht absehbar. Wir haben so viele Widersprüche. Bei uns möchte Herr Scholz (Deutschlands Finanzminister, Anm. d. Red.) den Leuten das Rauchen abgewöhnen, er ist aber froh um die hohe Tabaksteuer, weil er mit über 14 Milliarden Euro einiges erledigen kann. Ich möchte eine Freiheit, die verantwortet ist. Zum Beispiel möchte ich noch rauchen dürfen - mit Verantwortung. Ich rauche im Moment Pfeife, das kann ich im Zimmer machen, aber nicht im Haus oder in öffentlichen Räumen. Die Verantwortung wird bei uns auf die Regierung abgeschoben, die neue Gesetze machen soll. Am Schluss sitzen wir in einem Gesetzeskäfig.

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Greift der Staat mit seinen Regeln und Gesetzen schon zu sehr in die Eigenverantwortung der Menschen ein?
Ja, aber die Menschen wollen für alles Gesetze. Wenn irgendwo jemand zu schnell fährt, muss schon ein Schild mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung her. Kann man nicht auf ein Stück Eigenverantwortung vertrauen? Es wird immer wieder auch die Schwachen und die Sünder geben. Und dafür haben wir in der katholischen Kirche die Beichte und die Lossprechung. Die Vergebung und Versöhnung müsste mehr gepredigt werden, es ist wichtig, sich gegenseitig auszusöhnen. Es geht vieles daneben im Leben und das kann man nicht mit Gesetzen regeln. Deshalb hat der Heilige Benedikt gesagt: "Das rechte Maß ist die Mutter aller Tugenden". Und dann werde ich natürlich gefragt: "Was ist das rechte Maß?" Man hat ja die Freiheit. Das muss man anhand der konkreten Situation abwägen, das lässt sich nicht allgemein festlegen. Es braucht einen Gesetzesrahmen, aber der darf nicht zu eng gezogen sein.

» Die Freiheit hört da auf, wo ich die Freiheit des anderen vernichte«

Wo spielen da Demos gegen Corona-Maßnahmen hinein?
Ich habe auch öffentlich die Meinung geäußert, dass das rechte Maß überschritten wurde. Und ich war sehr froh, dass Schäuble, der Präsident des Deutschen Bundestages, einmal gesagt hat: "Wir sollten noch das rechte Maß bewahren". Das kann man nicht haargenau festlegen. Insofern sind die Regierenden in keiner leichten Situation, aber sie sind auch nicht für die Bequemlichkeit gewählt worden. Sie sollen Probleme lösen. So lange die Demonstrationen friedlich sind und die entsprechenden Hygieneregeln eingehalten werden, sehe ich das recht positiv. Es muss noch die Stimme des Volkes geben, die sagen kann: "Das ist zu viel". Aber Beschädigungen vorzunehmen oder auszurasten, das ist unmöglich. Das hat nichts mit Freiheit zu tun. Die Freiheit hört da auf, wo ich die Freiheit des anderen vernichte.

Lesen Sie hier: Die aktuellen Corona-Maßnahmen im Überblick

Sie schreiben "Der Mensch ist nicht zum Alleinsein geboren". Ist diese nicht selbst gewählte Einsamkeit in Zeiten von Corona und "Social Distancing" ein Problem?
Das halte ich für sehr problematisch. Wir Menschen sind auf Gemeinschaft angewiesen. Wir sind nicht zum Alleinsein geboren, sonst werden wir zu Egoisten oder wir vereinsamen. Das ist jetzt das Problem mit den Schulen. Es ist die Zeit, in der die Kinder sich sozialisieren und ein Gespür für Rücksichtnahme und Gerechtigkeit lernen müssen. All das fällt weg. Und mit dem Homeschooling werden letzten Endes noch die Familien belastet. Ich würde von den Regierenden, wenn sie schon Lockdown-Maßnahmen verordnen, wenigstens einmal ein Wort des Bedauerns erwarten. Dass sie sagen würden: "Das ist keineswegs ideal für den Menschen. Der Mensch besteht aus Gemeinschaft und hat auch eine Psyche". Viele Leute verzweifeln einfach. Es gibt die schlimmsten Beispiele, wie Menschen, die allein sterben müssen, weil der Mann die Frau nicht mehr besuchen darf oder umgekehrt. Das sind menschliche Grausamkeiten, die nicht gerechtfertigt sind. Da müssten Wege geschaffen werden.

»Die Leute werden dann mit sich selbst konfrontiert und es gibt viele, die sich nicht aushalten können«

Kann ein Alleinsein auch etwas Positives bewirken beziehungsweise kontemplativ wirken?
Ja und darüber bin ich froh. Aber die Leute werden dann mit sich selbst konfrontiert und es gibt viele, die sich nicht aushalten können. Eigentlich müsste man das lernen. Einsamkeit ist nicht wie eine Glasglocke, die über einem sitzt und aus der man nicht mehr herauskommt. Man braucht Einsamkeit auf der einen Seite und die Gemeinschaft auf der anderen Seite. Das ist auch bei uns im Benediktinerkloster so. Das schwierigste im Noviziat ist das Alleinsein. Gleichzeitig lebe ich in Gemeinschaft. Als alternder Mensch merke ich, dass ich eingebunden bin in eine Gemeinschaft. Ich habe einen festen Tagesablauf, der hilft. Während ein Alleinstehender sich jeden Tag selbst die Struktur zurechtlegen muss.

Wie hat die Pandemie Ihren Alltag in der Abtei Sankt Ottilien verändert?
Ich habe sonst sehr viele Vorträge gehalten, die jetzt alle abgesagt sind. Der eine oder andere Vortrag kommt noch per Zoom, aber das ist bei weitem nicht das selbe. Ich brauche das Publikum, das muss ich sehen. Eine Rede ist ein imaginärer Dialog mit dem Publikum und nicht mit der Mattscheibe. Ansonsten sind wir im Kloster auch festgesetzt. Ich habe jetzt die Zeit nachmittags einmal eine halbe Stunde spazieren zu gehen. Ich beobachte die Fische im Teich, rede mit denen, aber die antworten so schlecht. Ich blicke von meinem Zimmer aus auf einen Teich und ich bin sehr happy, dass seit ein paar Tagen die ersten Enten wieder angeflogen gekommen sind. Es ist etwas Wunderbares, ihnen einfach einmal zuzuschauen. Das beruhigt und erfreut das Herz. Und dann gehe ich zu unseren Kälbchen in den Stall und singe denen den Gefangenenchor aus Nabucco vor, weil sie sind gefangen und ich auch (lacht) .

Sind Sie eigentlich schon gegen das Coronavirus geimpft?
Einmal bin ich schon geimpft und ich werde demnächst die zweite bekommen, schon aus Rücksicht auf meine Gemeinschaft. Damit sie keine Angst haben muss vor mir oder auch um mich.

Notker Wolf
© imago/Stefan Schmidbauer

Sie schreiben kritisch über Datenschutz und Digitalisierung. Sind die Menschen in dieser Beziehung zu leicht zu manipulieren oder zu unachtsam?
Ich glaube, es gibt noch eine gewisse Intimsphäre, die der Mensch braucht. Das ist ein Stück Selbstachtung. Es ist nicht notwendig, dass ich ein Selfie von mir mache, wie ich auf meinem Zimmer sitze, und es ins Internet stelle. Die Leute nehmen sich selbst viel zu wichtig. Man kann natürlich publizieren, was man will. Ich selbst, leiste dem keinen Vorschub.

In Ihrem neuen Buch heißt es, Sätze wie "Wer nichts zu verbergen hat, kann doch ohne Befürchtung alles zeigen", kennt man auch aus Diktaturen.
Ja. Ich meine zum Beispiel in einem System wie in der Volksrepublik China. Dort ist man total unter Kontrolle, es werden fast noch die Gedanken kontrolliert. Es gibt diese Stirnbänder, die durch Gehirnströme messen, ob man auf Regierungsanweisungen positiv oder negativ reagiert. Also man möchte mit Gewalt zur Moral erzogen werden, aber das ist nicht die Moral überhaupt, sondern die Moral der Regierung. Und da habe ich meine Bedenken. Es ist ein Erbstück westlichen Denkens - das geht auf die griechische Philosophie zurück -, dass man alles kritisch hinterfragt und das bedeutet, dass man Freiheit hat. Dass man sich nicht immer sagen lassen muss, was gut ist.

Klima und Umwelt sind Ihnen ebenfalls ein Anliegen. "Respice finem" ("Denke an das Ende") zitieren Sie ein römisches Sprichwort. Was würden Sie sich von Regierungsverantwortlichen in dieser Hinsicht für die Zukunft wünschen?
Das sind Maßnahmen im großen Maßstab, die der Einzelne nicht tun kann. Deshalb brauchen die Regierungsverantwortlichen ein Gespür für die Umwelt und die Nachhaltigkeit. Es müssen Gesamtmaßnahmen gefunden werden, die auf einem Konsens in einem Volk bestehen. Wenn man zum Beispiel von den Afrikanern erwartet, dass sie vegetarisch essen, um den angeblich ungesunden Fleischkonsum zu reduzieren, werden sie sagen, dass sie froh sind, wenn sie überhaupt etwas auf dem Teller haben. Man muss weltweit kooperieren, wie man das in einem Staat und innerhalb einer Gesellschaft aufmachen muss. Es gibt allerdings ein Grundprinzip für jeden Menschen: keine Verschwendung bitte. Man soll nichts wegwerfen, was nicht unbedingt nötig ist.

Sie haben auch einmal geschrieben "Alt werden beginnt im Kopf, Jung bleiben auch". Was hält Sie jung?
Ich mache Musik, ich lerne Arabisch. Sich immer neue Ziele zu setzen, das hält jung - statt ewig über die Vergangenheit nachzudenken. Man muss die Verantwortung auch loslassen können. Ich war 23 Jahre lang der Erzabt von Sankt Ottilien. Ich hatte damals auch noch die Verantwortung für die ganze Kongregation. Das ist passé. Ich schaue in die Zukunft. Für mich liegt mein Leben noch vor mir.

Sie machen Frühsport. Hält Sie das so fit?
Das mache ich jeden Tag. Es sind zum großen Teil Streck- und Dehnübungen. Sie dürfen nicht zu anstrengend sein, sonst bin ich hinterher wieder müde. Ich habe mir das bei John Travolta abgeschaut. In Italien habe ich ein Buch mit seinen Übungen gefunden und die habe ich mir zurechtgestutzt. Ich habe mir gesagt: "Der Mann muss beweglich bleiben und ich muss es auch". Das mache in der Früh und anschließend geht es unter die Dusche, dreimal heiß-kalt à la Pfarrer Kneipp. Das lockert auch die Psyche auf. Hinterher bin ich gut gelaunt. Nebenbei mache ich mir noch meinen Kaffee mit einem Löffel Honig drinnen, damit ich ein bisschen wacher werde. Damit habe ich alles für meine Gesundheit getan und der Tag kann beginnen.

Die geistige Gesundheit ist ebenfalls wichtig. Wie halten Sie sich seelisch fit?
Dazu gehört das Gebet, die Geborgenheit in Gott. Bei uns ist es so, dass der ganze Tagesablauf immer wieder vom Gebet unterbrochen wird: in der Früh, mittags, abends zweimal und auch bei Tisch. Das ist so, als wenn ich beim Computer wieder auf online gehe. Ich brauche nur die entsprechende Taste zu drücken. Mit der Zeit ist man in der positiven Routine drinnen. Routine kann langweilig werden, aber sie kann auch wie ein Bohrer immer tiefer gehen. Da erfährt man die Gegenwart Gottes doch ganz anders. Das ist für mich das Entscheidende, das trägt mich in meinem Leben. Und deshalb habe ich auch keine Angst, vor Corona sowieso nicht. Mir hat ein Chefarzt, der mir bei einer Tagung gegenüber gesessen ist, kurz vor dem ersten Lockdown gesagt: "Abt Notker sie brauchen keine Angst zu haben, sie können nicht angesteckt werden. Sie haben eine viel zu hohe Immunität aufgrund Ihrer Gelassenheit und inneren Ruhe".

Welchen Rat können Sie den vielleicht verunsicherten, frustrierten oder ängstlichen Menschen in Zeiten von Corona mitgeben?
Die Hinwendung und Öffnung zu Gott sind sicher eine gute Möglichkeit. Und dann sollte man versuchen, sobald es geht, mit anderen Menschen wieder zusammen zu sein, Gemeinschaft zu pflegen. Das ist ganz wichtig für unser Leben. Ich würde den Rat geben, nicht nur fromm zu sein, sondern auch die Freuden, die wir haben, zu genießen.