Erwin Pröll: "Ein Politiker muss wissen, dass er zu dienen hat und nicht zu verdienen"

Er war 25 Jahre lang Landeshauptmann von Niederösterreich und der mächtigste Mann in der ÖVP. Seit seinem Rückzug äußert sich Erwin Pröll nicht mehr zur Tagespolitik. In einem Gespräch über Moral und Gewissen in der Politik sind die Mahnungen an die aktuelle ÖVP-Riege dennoch deutlich

von Interview - Erwin Pröll: "Ein Politiker muss wissen, dass er zu dienen hat und nicht zu verdienen" © Bild: News/Ricardo Herrgott
Erwin Pröll, 74 Er stammt aus einer Weinbauernfamilie in Radlbrunn, absolvierte ein Studium der Agrarökonomie an der Universität für Bodenkultur und kam 1972 als wirtschaftspolitischer Referent in den ÖVP-Bauernbund. 1980 kam er in die niederösterreichische Landesregierung, ab 1981 war er Landeshauptmann-Stellvertreter unter Siegfried Ludwig. 1992 wurde Pröll Landeshauptmann und blieb 25 Jahre lang in diesem Amt.

News: Welche Charaktereigenschaften braucht man in der Politik, um langfristig prägend und erfolgreich zu sein?
Erwin Pröll:
Um langfristig in der Politik reüssieren zu können, braucht man drei Dinge: Charisma, Vertrauen und Disziplin. Wenn man das hat, kommt auch der Erfolg. Charismatisch zu sein, beginnt damit, dass man die Menschen mag und ein klares Zukunftsbild hat, was man überhaupt umsetzen will. Man muss ein Feuer in sich haben, nur so kann man es schaffen, dass diese Begeisterung auf die Menschen überspringt. Und es ist notwendig, mit Begeisterung Ideen von anderen Menschen aufzunehmen und sie einzubinden. Viele Menschen sehnen sich danach, Ideen Wirklichkeit werden zu lassen, und wer dabei im positiven Sinn führt, geht mit Visionen voran und nimmt die Menschen mit.

Heißt Führen auch, unpopuläre Entscheidungen zu treffen?
Da sind wir beim nächsten Punkt: Mut. Der Weg zum Ziel ist nicht immer nur von Rückenwind begleitet. Jemand, der glaubt, nur mit Rückenwind arbeiten zu können, driftet rasch in einen Populismus ab. Und Populismus ist auf Dauer nie populär. Populär ist derjenige, der aus Überzeugung auch einmal gegen den Wind argumentiert - und zwar so, dass er überzeugen und die Menschen mitnehmen kann. Jemand, der entscheidungsschwach ist, ist ungeeignet, voranzugehen. Jemand, der nicht mutig ist, wird letztendlich getrieben vom allgemeinen gesellschaftlichen Sog. Jemand, der nicht entscheidungsfreudig ist, der wird abhängig, und es gibt nichts Gefährlicheres für eine Führungspersönlichkeit als das. Bringen wir es auf den Punkt: Wer zu wenig Mut hat, das Notwendige zu tun, der ist entbehrlich. Den braucht man nicht in der Politik. Dazu kommt: Wenn man seine Entscheidungen auf die richtige Art kommuniziert, schafft das Vertrauen. Reinen Wein einschenken! Sage, was du denkst, und tue, was du sagst. Denn für einen Politiker, dessen Halbwertszeit lange ist, gilt: Alles, was er vorgegeben hat, ist überprüfbar. Natürlich kann man es dabei nicht jedem und jeder recht machen. Aber wenn man klar kommuniziert, warum bestimmte Dinge nicht möglich sind, verstehen das die Menschen.

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Weil sie froh sind, dass es zumindest eine Entscheidung gibt?
Das baut Vertrauen auf. Unlängst habe ich einen Mann wiedergetroffen, der einmal von mir Hilfe wollte, weil ihm sein Traktorführerschein entzogen wurde. Ich habe damals gesagt, das geht nicht. Heute sagt er: "Im Blick zurück versteh ich das. Sie haben mir damals ordentlich das G'sicht g'waschen und gemeint: 'Saufen S'halt nicht, wenn Sie fahren.'" Er hat sich das zu Herzen genommen.

»Wer glaubt, nur mit Rückenwind arbeiten zu können, driftet rasch in den Populismus ab«

Nehmen Politiker zu oft Rücksicht auf ihre Klientel oder auf Spender?
Das ist es, was ich mit Abhängigkeit gemeint habe. Ein Spitzenpolitiker darf sich nie in eine Situation begeben, in der er in Abhängigkeiten gerät. Er darf nicht von außen lenkbar sein. Damit kommen wir zum nächsten Punkt: Je exponierter man als Politiker ist, umso einsamer ist man auch, nämlich in dem Sinne, dass man von vielen nicht mehr die ehrliche Wahrheit erfährt. Daher ist es so wichtig, dass sich ein Spitzenpolitiker bewusst und gezielt seine Umgebung zusammenstellt. Mit Menschen, die nicht nur Jasager sind, sondern sich sehr kritisch damit auseinandersetzen, was ihr Chef tut. Aber die wesentlichste Beraterfunktion eines Politikers hat das Gewissen. Immer nach dem eigenen Gewissen zu handeln, ist entscheidend.

Und das sollte beim Politiker und seiner Umgebung ohne Fehl und Tadel sein?
Fehlerlos ist kein Mensch. Aber man sollte zwischen Dein und Mein unterscheiden können, einfach wissen, was sich gehört, korrekt sein und danach handeln. Und man muss Mitarbeiter haben, die nicht immer Ja sagen und applaudieren, sondern ihrem Chef in bestimmten Phasen sagen: "Sperr dich in dein Büro, geh in dich, überprüfe dein eigenes Gewissen, ob der nächste Schritt, den du vorhast, wirklich richtig ist." Das ist wichtig.

Im Moment ist das Bild doch eher so: In der Politik hat man Erfolg, wenn man schlitzohrig ist - über Leichen geht, wie es heißt.
Was mich oft schmerzt, ist das Bild, das man landläufig von Politikern zeichnet: eine dicke Haut, die gehen über Leichen. Um erfolgreich Politik machen zu können, ist es nicht notwendig, über Leichen zu gehen. Eine dicke Haut ist sogar abträglich. Denken Sie an ein Beispiel aus unserem Nachbarland: Herzhaft zu lachen, während gerade zig Existenzen von einer Hochwasserkatastrophe weggeschwemmt werden, zeugt von dicker Haut oder mangelnder Sensibilität. Beides befähigt nicht, an der Spitze eines Staates zu stehen. Ich habe genügend derartige Extremsituationen erlebt. Zu lachen gab es da nichts.

Das Wahlergebnis für Armin Laschet und die CDU ist ja entsprechend ausgefallen.
Gott sei Dank sind die Menschen sensibler und klüger, als manche es wahrhaben wollen. So unangenehm das jetzt auch für CDU und CSU ist, man muss schon vorher überlegen, ob jemand als Gesamtpersönlichkeit in der Lage ist, eine solche Verantwortung zu übernehmen. Und eines ist als Drittes wichtig: die Disziplin. Es scheint nicht jeden Tag die Sonne im politischen Leben. Auch wenn manche den Eindruck haben oder vermitteln, Politiker tun nichts anderes, als von einem Eröffnungsakt zum nächsten Weinfest zu gehen und so weiter. Auch wenn dem nicht so ist: Wenn man die Menschen gerne hat, dann geht man auch locker mit ihnen um. Natürlich erfordert Politik auch einen Schuss Humor. Wer Humor hat, findet den Zugang zu Menschen. Es gibt nichts Ärgeres als humorlose Politiker. Aber genauso wie Humor ist Disziplin nötig: Neben den schönen Seiten der Politik gibt es nämlich die schwierigen, in denen Disziplin unabdingbar ist -bei der Zeiteinteilung, beim Zuhören und Reden, beim Erfassen und Lösen von Problemen -kurzum beim ganzen Tagesprogramm. Wenn alle diese Dinge zusammenkommen -also Charisma, Vertrauen und Disziplin -, kommt der Erfolg. Aber -und auch da rede ich aus eigener Erfahrung -es ist gar nicht so schlecht, wenn man als Spitzenpolitiker auch einmal Misserfolge hat. Nur wer in der Lage ist, auch diese wegzustecken und die richtigen Konsequenzen zu ziehen, kann auch wieder Erfolge feiern.

Wie schwierig ist es, den eigenen Anteil am Misserfolg anzuerkennen und nicht sein Umfeld, die Umstände, die Opposition dafür verantwortlich zu machen?
Ich hab auf meinem zweiten Parteitag eine ordentliche Watschen gekriegt. Nur knapp über 80 Prozent haben mich gewählt. Das war ein Schock. Ich hab zu meiner Frau gesagt: "Ich trete noch heute zurück." Sie hat gesagt: "Schlaf einmal drüber und denk drüber nach." Wie recht hatte sie. Mein Umfeld und ich haben alles analysiert und die Konsequenzen daraus gezogen. Wahrscheinlich war dieser Parteitag die Grundlage dafür, dass ich drei Mal die absolute Mehrheit machen konnte. Wir sind dadurch selbstkritischer geworden und haben einfach gewusst, so, wie wir es bis jetzt gemacht haben, geht es nicht weiter.

Man hat als ÖVP-Chef die Leute auch im schwarzen Niederösterreich nicht automatisch in der Tasche?
So ist es. Zu glauben, man hat die Leute in der Tasche, ist gefährlich. Da hebt man ab und glaubt, über den Dingen zu stehen. Das ist die beste Garantie dafür, erfolglos zu werden.

Wir beobachten in Österreich, aber auch international, dass Spitzenpolitiker vor Gericht landen und verurteilt werden. Manche behaupten dann, sie würden wegen ihres Erfolgs "gejagt", aber dafür...
...muss es ja auch einen Anlass geben. Natürlich ist es eine Gefahr, wenn du plötzlich mit einer bestimmten Macht ausgestattet bist und glaubst, die hast du ad infinitum gepachtet. Macht ist nur geborgt. Ein Politiker darf nie den Beweggrund haben, er gehe in die Politik, um zu verdienen. Er muss wissen, dass er zu dienen hat und nicht zu verdienen. Wenn man dieses Bewusstsein verliert, wird es gefährlich. Dann drückt das eigene Gewissen nicht mehr die Stopptaste. Es ist auch wichtig, dass man nicht den Kontakt zu jenen verliert, für die man eigentlich da ist. Wenn ich einmal Zeit gehabt hab, in Radlbrunn ins Wirtshaus zu gehen, ist es oft passiert, dass einer gesagt hat: "Erwin, was hast denn da gestern für einen Blödsinn geredet?" Wenn man darüber dann nicht ehrlich nachdenkt, dann entflieht man, dann ist man abgehoben. Das wird dann beim nächsten Wahltag spürbar. Aber als Politiker sollte man wissen, dass die letzte Instanz nicht der Wahltag ist, sondern die Beurteilung durch die kommenden Generationen.

Spitzenpolitiker nützen ihr Amt oft auch, um Posten zu besetzen, eine Umfärbung von Ämtern und Institutionen vorzunehmen, für die eigene Partei möglichst viel herauszuholen. Wie viel davon ist legitim?
Sagen wir einmal so: Es ist legitim, Posten zu besetzen mit Menschen, die eine Ideologie haben und von denen man weiß, dass sie es können. Illegitim wird es, wenn nur auf die Ideologie und nicht auf die Qualifikation geachtet wird. Ich hab etwa in den Aufsichtsrat der Hypo Sozialdemokraten hineingenommen, weil ich überzeugt war, dass die das können. Man muss wissen, Ideologie alleine schafft noch keine Kompetenz. Wenn nur nach Parteizugehörigkeit besetzt wird, fällt das über kurz oder lang auf den Entscheidungsträger selbst zurück.

Wie bereit muss man in der Spitzenpolitik sein, intellektuell an sich zu arbeiten? Vor allem, wenn man lang im Amt ist, kann man da mit dem selben Mindset wie zu Beginn weiterarbeiten?
Das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Ich zitiere gerne einen Satz von Albert Einstein, der gesagt hat: "Fantasie ist wichtiger als Wissen." Ich habe das lange für falsch gehalten. Wir haben doch gelernt: "Wissen ist Macht." Aber je intensiver ich mich mit dieser Frage auseinandergesetzt habe, desto klarer ist mir geworden, wie recht er hat. Wissen können Sie heute per Knopfdruck am Handy abrufen. Aber Kreativität und Fantasie nicht. Die Frage ist: Wie bereit ist jemand, der in der Spitzenpolitik ist, seine Kreativität weiterzuentwickeln? Viele wundern sich, warum ich so einen guten Kontakt zu vielen Künstlern habe, und zwar über alle Parteigrenzen und Ideologien hinweg. Ich sage Ihnen, warum: weil mich jedes Gespräch mit einem Künstler oder einer Künstlerin unglaublich motiviert und animiert, ein nächstes Gespräch zu führen. Aus jedem dieser Gespräche habe ich eine neue Dimension im Denken, im Einschätzen erreicht. Damit ist Ihre Frage beantwortet: Ich glaube, es ist wichtig, dass sich ein Spitzenpolitiker ständig weiterentwickeln muss - durch Gespräche, in Diskussionsrunden oder beim Lesen. Da kommen wir wieder zu der alten Geschichte, dass ich nur ein Buch gelesen hätte...

Die hab ich Ihnen ohnehin nie geglaubt.
(Lacht.) Man muss einfach an sich arbeiten, den Horizont erweitern, immer am letzten Stand der Dinge sein. Aber ein Politiker muss kein Wissenschaftler sein. Soll er auch nicht, weil diese doch oft sehr auf ihren Fachbereich fokussiert sind und man als Politiker die ganzheitliche Sicht nicht aus dem Auge verlieren darf.

»Die oberflächliche Politik von heute führt in den Graben von morgen«

In der Politik zählen in den letzten Jahren weniger die Inhalte, sondern die einzelnen Personen. Es geht um schnelle, einfache Botschaften, die vor allem über soziale Medien abgesetzt werden, darum, möglichst viele Fans auf Facebook zu haben. Bleibt das so? Oder haben Sie die Hoffnung auf mehr Tiefgang?
Ich habe die Hoffnung und bin auch überzeugt davon, dass es wieder tiefgründiger wird in der Politik - trotz der neuen Kommunikationswelt. Und zwar aus einem einfachen Grund: Ich bin der Überzeugung, die oberflächliche Politik von heute führt in den Graben von morgen. Politiker haben nichts anderes zu tun, als die Zustände der Welt sensibel zu orten, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und die Konsequenzen zu ziehen, damit es positiv weitergeht. Jemand, der zu oberflächlich Politik macht, ist nicht in der Lage, nachhaltige Politik für Generationen zu machen. Ich bin überzeugt davon, je stärker all diese seltsamen Einrichtungen der weltweiten Kommunikation um sich greifen, desto wichtiger ist es, dass klar positionierte Politiker an den Entscheidungshebeln sind, die sich nicht von solchen Irrlichtern ablenken lassen, sondern klar ihren Weg gehen.

Wir haben in Österreich turbulente politische Tage hinter uns und haben jetzt auf einer Metaebene über Verantwortung in der Politik gesprochen - auch weil Sie sich ja zur Tagespolitik normalerweise nicht äußern. Aber Sebastian Kurz war jetzt schon der sprichwörtliche "Elefant im Raum", oder?
Um das auch wieder allgemein zu beantworten: Ich kann die Vorwürfe nicht nachprüfen. Aber die Situation insgesamt macht mir große Sorgen, weil das letztlich dazu führt, dass wieder einmal die Politik in ein schiefes Licht gerät. Das unterminiert das Vertrauen. Und sinkendes Vertrauen gefährdet auch die Demokratie im Allgemeinen. Wenn Sie die letzten Wahlergebnisse in Österreich ansehen, merken Sie ja, dass neue Zentrifugalkräfte in der Gesellschaft die Demokratie schwieriger machen. Daher hoffe ich, dass diese Turbulenzen so bewältigt werden, dass die Demokratie obsiegt und nicht irgendwelche Irrlichter, die sich im Schatten unserer Zeit natürlich auch gerne breitmachen würden.

© Ricardo Herrgott/News

Machen Sie sich Sorgen um die ÖVP?
Ich mach mir generell Sorgen. Um alle politischen Parteien. Was mir besondere Sorgen macht, ist die Art des Umgangs miteinander. Ich führe das auch darauf zurück, dass immer weniger Inhalte und immer mehr Befindlichkeiten im Mittelpunkt der Diskussion stehen.

Was erwarten Sie jetzt von der ÖVP?
Ich erwarte mir, sich selber immer wieder zu hinterfragen. Das Gewissen einzuschalten, vielleicht öfter, als das unter dem Druck der tagespolitischen Praxis geschieht. Und dann hoffe ich, dass auch das eine oder andere Mal die christlich-soziale Ideologie wieder stärker zum Tragen kommt.

Dieses Interview erschien ursprünglich in der News Ausgabe Nr. 41/21

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