Im Laufschritt durch die Premierenwoche

Die Theater spielen wieder, den Kritiker jagt es von Termin zu Termin. Sogar im Fall des Misslingens ist man froh, wieder unter halbwegs gleichgesinnten Menschen zu sein.

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Ich selbst habe ja im theaterlosen Jahr nicht viel vermisst, wenn man von einem Minimum an politischem Bekenntnis zur Kultur absieht. Aber wer es nicht darauf anlegte, musste nicht verstummen. Darüber hat uns mit rundum ermutigendem Resultat die Staatsoper belehrt. In der sehr glücklichen Konstellation zwischen Bogdan Roscic, Alexander Wrabetz und dem ORF-III-Direktor Peter Schöber war das Haus nämlich in Höchstbetrieb, und ein paar Kritiker durften im sonst leeren Saal den Aufzeichnungen zusehen. Deshalb habe ich, nur in der Zeit der Schließungen, sieben Opernpremieren (zwei von ihnen im gleichfalls vor Widerstandslust vibrierenden Theater an der Wien) und fünf Repertoirevorstellungen gesehen.

Am 19. Mai war ich nicht bei der Wiedereröffnung mit Castorfs furiosem "Faust", weil ich die Premiere schon ohne Publikum gesehen hatte. Schade, denn was sich da erfüllte, ist die Oper, der ich seit meinem 14. Lebensjahr verfallen bin. Vor der Vorstellung wurde Roscic minutenlang dafür gefeiert, dass er, statt sudernd zu privatisieren, sein Haus in Rotation gehalten hat. Nachher tobte die Galerie vor Wut über die Regie, indes den Sängern die Bravos um die Ohren flogen. So kenne und liebe ich es, seit ich denken kann. Nur der Direktor wurde früher maximal akklamiert, wenn er Karajan hieß und am Pult stand.

Über die zauberhafte Unbelehrbarkeit meiner musiksinnigen, aber szenisch im Stadium des abgebrochenen Förderkurses verbliebenen Freunde aus dem Publikum muss ich ein anderes Mal mutmaßen. Denn jetzt bin ich Ihnen etwas zu den vier Vorstellungen schuldig, die ich zuletzt an sechs Tagen abgedient habe.

Am 19. Mai ließ die "Josefstadt" zur Voraufführung des "Bockerer" keine Kritiker zu (die Premiere findet im Herbst statt). Das Burgtheater wiederum verleiht seinem Jubel durch Erneuerung der Bestuhlung Ausdruck. So konnte sich die Aufmerksamkeit auf das kleine Haus, das Akademietheater, konzentrieren. Dort sah man Strindbergs "Fräulin Julie", inszeniert von Mateja Koleznik: eine knappe Stunde atemlos verdichteten Geschlechterkampfs im klaustrophobischen Nassraum des Herrenhauses. Klassenkampf zwischen dem sexuell emanzipierten Fräulein und ihrem Diener, den sie sich in der ausschweifenden Mittsommernacht vergönnen will? Keine Spur, belehren uns fabulös Maresi Riegner, Sarah Viktoria Frick und (mit etwas Abstand) Itay Tiran: Hier geht es einzig um Gier und ihr gigantisches Zerstörungspotenzial.

Dann wieder die Oper, Jan Lauwers’ schon in Salzburg beifällig aufgenommene Monteverdi-Regie "L’incoronazione di Poppea". Weit von Strindberg ist das nicht entfernt. Es geht um Machtpolitik mit sexuellen Mitteln, und Lauwers übersetzt die tänzerisch vibrierende Partitur zwei Mal: mit den intensiv agierenden Sängern und mit einer tollen, bilderstarken Tanztruppe. Das ist so weit konsumierbar, dass es kaum Widerstand erzeugt. Gesungen wird bis in die kleinen Rollen exzellent. Und dass der Concentus Musicus die von seinem unsterblichen Erfinder erschlossen Abgründe nicht mehr ganz bewältigt, ändert nichts an der gediegenen Leistung unter Pablo Heras-Casado: Immer noch ist man von der an Kaufhausmusik orientierten Wohlfühl-Ästhetik heutiger Originalklangformationen ein Stück Harnoncourt entfernt.

Tags darauf saß ich wieder im Akademietheater, diesfalls ein niederschmetterndes Erlebnis. Die rasierklingenscharfe, einst von Elfriede Jelinek übersetzte Sprachpartitur des Wilde’schen "Bunbury" wird bis zur Unkenntlichkeit zu provinziellem EU-Quotenerfüllungstheater verwurstet.

Dem Italiener Antonio Latella war es offenbar erfolglos um die Apotheose der Theaterkunst zu tun. Die Bühne ist leer, und zum Teil glänzende Schauspieler beteuern lärmend, alle Register zu ziehen. Das Resultat ist aber bloß penetrante, sprachdefizitäre, plump grimassierende und folgerichtig fast drei Stunden lang unbelachte Selbstdarstellungsmühsal.

Am nächsten Abend war im winzigen, tapferen, vom Subventionsgeber ausgehungerten Theater Arche zu studieren, auf welche Höhe intelligenter Kurzweil man einen komplizierten Text heben kann. Der Russe Daniil Charms, dem hier eine Collage unter dem Titel "Die Schamlosen" zugedacht ist, war ein Anarchist der Sprache, der von Stalins Terror-Maschine zerstört wurde, weil er in ihr die Diktatoren-Urangst vor der Lächerlichkeit freigesetzt hat. Das Ensemble glänzt mit einem Muster an Textarbeit und pantomimischer Präsenz. Die alte Bestuhlung reicht da bei weitem.