Nichts ist, wie es war

Der Ukraine-Krieg erschüttert auch die Innenpolitik. Bisherige Standpunkte und Strategien sind überholt, enorme Herausforderungen warten. Zum Beispiel: Wie können soziale Verwerfungen infolge eines Energiepreisschocks verhindert werden?

von Nichts ist, wie es war © Bild: Privat

Im Parlament startete ein Untersuchungsausschuss, eine ehemalige Familienministerin befindet sich in U-Haft, ein Gesundheitsminister trat zurück: Innenpolitisch waren die vergangenen Wochen ereignisreich. In gewöhnlichen Zeiten hätte man von türkisen Schwierigkeiten ebenso gesprochen wie von grünen. Und die Sozialdemokraten hätten sich ihrem Ziel ein Stück näher gewähnt: eine baldige Neuwahl, bei der die ÖVP so stark verliert, dass sie selbst ohne größere Anstrengungen auf Platz eins kommen und mit Pamela Rendi-Wagner an der Spitze beste Chancen aufs Kanzleramt vorfinden.

All das hätte der ganz und gar nicht bedeutungslosen, aber relativ kleinen österreichischen Welt von gestern entsprochen. Am 24. Februar brach jedoch der Krieg in der Ukraine aus, und das erschütterte auch die Innenpolitik. Sozialdemokraten müssen sich erst überlegen, wie sie damit umgehen sollen. An eine Wahl in absehbarer Zeit ist nicht zu denken. Die Grünen stellen mit Johannes Rauch den dritten Gesundheitsminister nach Rudolf Anschober und Wolfgang Mückstein, doch das beschäftigt kaum jemanden. Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) hatte einen unangenehmen Auftritt vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu absolvieren, aber auch das ging unter in der Flut dramatischer Nachrichten, genauso wie die U-Haft für Ex-Familienministerin Sophie Karmasin.

Nichts ist heute, wie es war. Als Kanzler ist Nehammer in Bezug auf eine Weltkrise gefordert. Das hat er angenommen und nach Einschätzung der meisten Kommentatoren bisher auch ordentlich gemacht. Als ehemaliger Berufssoldat könne er seine Qualitäten zeigen, heißt es über seine klaren Botschaften zu Kriegshandlungen und humanitären Katastrophen.

Kriseneffekt stärkt Regierende

Schwierige Zeiten bringen es mit sich, dass unterschiedliche Rollen eine neue Bedeutung erlangen. Regierende erfahren hier zunächst oft größeren Zuspruch. In der Politikwissenschaft ist diesbezüglich von einem "Rally round the Flag"-Effekt die Rede. Erhebliche Teile der Bevölkerung scharen sich demnach um die, die das Sagen haben. Allerdings nur vorübergehend.

Zuletzt hat sich dies zu Beginn der Pandemie gezeigt. Die Kanzlerpartei ÖVP, die damals von Sebastian Kurz geführt wurde, kam im Frühjahr 2020 auf bis zu 44 Prozent. Auch in Deutschland wuchs die Unterstützung für CDU/CSU von Angela Merkel beträchtlich. Nach und nach gingen die Werte aber wieder zurück. Mit anhaltenden Beschränkungen und sonstigen Ab normalitäten wuchsen Unmut und Enttäuschungen bei den Menschen. Das richtete sich nunmehr gegen die Regierenden.

Krisen bringen es für Parteien vor allem auch mit sich, sich neuen Realitäten stellen und durchaus radikal verändern zu müssen. Die Grünen etwa stehen in erster Linie für Klimaschutz. Wie schon bei Corona ist das aber wieder nur das zweitwichtigste Thema. Wenn überhaupt.

"Unnötiger Luxus"

Außerdem ist die Partei von Vizekanzler Werner Kogler einst auch aus der Friedensbewegung hervorgegangen. Entfernt zeugen Programme noch immer davon. Zur Nationalratswahl 2019 hieß es etwa: "Landesverteidigung im klassischen, territorialen Sinne ist heute unnötiger Luxus." Immerhin: Kogler beweist Anpassungsfähigkeit und spricht sich für eine Erhöhung des Wehrbudgets aus. Erledigt ist die Sache damit jedoch nicht. Parteiintern wird, sobald es die Umstände erlauben, eine Grundsatzdiskussion darüber erwartet, was wirklich notwendig erscheint.

Türkise haben sich schon in der Vergangenheit für ein starkes Bundesheer ausgesprochen. Sie wurden jedoch wortbrüchig, wenn es um die Budgetierung ging. Dann spielte der eigene Finanzminister nicht mit. Doch das soll sich ändern, wie Amtsinhaber Magnus Brunner signalisiert. Künftig soll es genug Geld geben. Die jahrelange Zurückhaltung rächt sich. Zumal nicht zuletzt auch die Investitionsrückstände bei der Truppe erheblich sind, geht es um Milliardenbeträge, die erst aufgetrieben werden müssen.

Viel wird jedoch von der zukünftigen Ausrichtung abhängen: Ein NATO-Beitritt ist für die Grünen undenkbar, in der ÖVP gab es diese Woche eine kurze Debatte darüber. Anlass: Russland hatte Zweifel daran erkennen lassen, die Neutralität noch zu respektieren. Begründet wurde dies von Moskau mit Äußerungen von Nehammer und Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP). Diese Irritationen haben gerade noch gefehlt. Nehammer trat ihnen schließlich entgegen, indem er versuchte, die Sache einzufangen: Österreich sei neutral, Österreich bleibe neutral, und Punkt.

Wirtschaftsministerin keine Hilfe

Zu tun bleibt dem Kanzler und designierten ÖVP-Chef so oder so mehr als genug: Wirtschaftliche und soziale Verwerfungen drohen. Die Sanktionen gegen Russland und Ausfälle im Handel mit der Ukraine machen auch heimischen Unternehmen zu schaffen. Für eine Wirtschaftsministerin ist es nicht einfach, gegenzusteuern. Margarete Schramböck (ÖVP) wird das jedoch am wenigsten zugetraut. Das "Kaufhaus Österreich", das sie zu verantworten hat, endete mit einem Fiasko. Und nach ihren jüngsten Ausführungen zu Geldtransfers, die durch einen Video-Mitschnitt die Runde machten, schlugen auch Parteifreunde die Hände über dem Kopf zusammen: Die 51-Jährige hatte behauptet, dass der SWIFT-Ausschluss Russlands durch "händische" Erlagschein-Überweisungen umgangen werden könne. In Wirklichkeit ist das bei internationalen Transfers jedoch unmöglich, ist der zugehörige Code namens BIC unerlässlich.

Mit solchen Dingen sollte man sich nicht aufhalten müssen, bestätigt ein Regierungsmitglied. Die To-do-Liste ist riesig: Zu den offenkundigen Fehlern der Vergangenheit zählt, sich bei Gaslieferungen zu sehr von Russland abhängig gemacht zu haben. Das belastet die Koalition. Kogler macht "die Herrschaften" aus der ÖVP-geführten Wirtschaftskammer verantwortlich dafür. Das wird zu klären sein. Dinglich ist die Frage, wie die Abhängigkeit überwunden und allfällige Engpässe im kommenden Winter verhindert werden können.

Da geht es um extrem viel: Schon länger herrscht eine ungewöhnlich starke Inflation. Vor allem Sprit-und Heizkosten, aber auch Immobilienpreise steigen und steigen. Ein 150-Euro-Gutschein, der nach dem Gießkannenprinzip per Post bis Ende April allen Haushalten zugesendet wird, wird nicht ausreichen. Das weiß man schon heute. Eine weitere, noch größere Teuerungswelle rollt an. Sie droht, all jene zu überfordern, die jeden Cent zweimal umdrehen müssen.

ÖVP und Grüne werden nicht daran vorbeikommen, substanziell nachzulegen: Während beim obersten Zehntel der Haushalte allein die Aufwendungen für Wohnen und Energieverbrauch nicht einmal ein Sechstel der Gesamtausgaben ausmachen und damit kaum ins Gewicht fallen, taten sie es beim untersten Zehntel schon 2019/2020 massiv; laut einer Statistik-Austria-Erhebung machten sie bei ihnen fast die Hälfte aus. Tendenz: zunehmend. Hier droht nicht weniger als eine Verarmung von wachsenden Teilen der Gesellschaft.

Kommt Umverteilungsdebatte?

Weitere Gutscheine würden zu keiner nachhaltigen Lösung führen. Naheliegend wäre es, Nehammer und Kogler würden sich gewissermaßen zurück an den Start begeben. Was bisher in die Wege geleitet wurde, ging nie und nimmer von einer solchen Teuerung aus. Allein: Eine CO2-Bepreisung würde Kogler gemeinsam mit Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) kaum noch durchbringen. Sie ist ihnen jedoch wichtig. Abgesehen davon müsste es zusätzlich zu einer generellen Steuersenkung einen wesentlich stärkeren, sozial treffsicheren Ausgleich für die steigenden Energiepreise geben. Er ist ausständig.

Hier wittern Grüne und Sozialdemokraten eine Chance, die eine Umverteilung wollen, zumal die budgetären Möglichkeiten nicht unerschöpflich sind. Über eine Erbschafts-und Schenkungssteuer würden demnach Gelder von Vermögenden abgezweigt werden. Die ÖVP lehnt solche Ideen als noch immer dominierende Regierungspartei ab. Ihr Dogma lautet seit Jahren: keine neuen Steuern.

Johannes Huber, Journalist und Blogger zur österreichischen Politik www.diesubstanz.at