Holodomor - der vergessene Genozid

Stalin ließ die Ukrainer einfach verhungern

von Holodomor-Gedenkstätte © Bild: imago images/imagebroker

Gareth Jones, einer der wichtigsten Journalisten der 1930er-Jahre, berichtete im Januar und Februar 1933 über die NSDAP-Regierungsübernahme in Deutschland. Am 23. Februar konnte er als erster ausländischer Reporter Hitler interviewen und ihn in einer Junkers, dem damals schnellsten und modernsten Flugzeug, von Berlin nach Frankfurt begleiten. Beeindruckt von diesem Erlebnis soll er nach der Landung gesagt haben: "Wenn das Flugzeug abstürzt wäre, würde sich die ganze Geschichte Europas anders entwickeln."

Ein paar Tage später fuhr Jones in die Sowjetunion für eine Reportage über die Ukraine und nahm am 7. März 1933 in Moskau einen Zug nach Charkow, der zweitgrößten Stadt der Ukraine. Ohne seine Betreuer zu informieren, stieg er heimlich an einem kleinen Bahnhof aus und setzte seine Reise zu Fuß fort.

Charkow

Seine Erlebnisse und Berichte informierten die Welt zum ersten Mal über die fürchterlichen Zustände in der Ukraine: "Ich sah eine Hungersnot gewaltigen Ausmaßes. Viele Menschen waren aufgequollen vor Hunger. Überall hörte ich Sätze wie 'Wir warten auf den Tod'. Ich schlief neben verhungernden Kindern auf dem Lehmboden. In Charkow sah ich Menschen, die sich um zwei Uhr früh vor Geschäften anstellten, die nicht vor sieben öffneten. An einem Durchschnittstag standen 40.000 Menschen nach Brot an. Die in der Schlange Wartenden versuchten so verzweifelt, ihre Plätze zu halten, dass sie sich an die Gürtel der vor ihnen Stehenden klammerten. Manche waren so schwach vor Hunger, dass sie nicht ohne Hilfe anderer stehen konnten."

Nach seiner Rückkehr nach Deutschland berichtete Jones auf einer Pressekonferenz in Berlin über die Ausmaße der sowjetischen Hungerkatastrophe. Einige Zeitungen brachten seine Reportagen, doch gleichzeitig widersprachen ihm andere Journalisten, verharmlosten die Lage und versuchten, jede negative Berichterstattung über die Sowjetunion zu verhindern. Ideologische Verblendung und politische Vorurteile der "moskautreuen" Kollegen verhinderten eine wahrheitsgetreue Beschreibung der realen Verhältnisse und der millionenfache Hungertod der ukrainischen Bevölkerung blieb viele Jahre weitgehend unbeachtet oder verleugnet.

Sozialistische Sowjetrepublik

Vor hundert Jahren, im Dezember 1922, übernahm die Sowjetunion die Ukraine und sie bekam den Namen Ukrainische SSR (Sozialistische Sowjetrepublik). Ausgerechnet Trotzki, den Stalin später zu seinem Todfeind erklärte und ermorden ließ, besiegte mit der Roten Armee die Partisanentruppe des Anarchisten Nestor Machno. Erst 1991 löste sich das Land aus dem sowjetischen Staatenbund und erklärte seine Unabhängigkeit. Als drittgrößtes Getreideexportland der Welt hat die Ukraine für die Lebensmittelversorgung eine ähnlich wichtige Bedeutung wie die Öl und Gas produzierenden Länder für die Energieversorgung. Neunzig Jahre später erinnern die Narben des Terrors der sowjetischen Besatzungsmacht unter der Herrschaft Stalins immer noch die ukrainische Bevölkerung an eine der dunkelsten Epochen ihrer Geschichte.

Nach dem wirtschaftlichen Chaos und den Hungersnöten in den Jahren nach der Machtübernahme der Kommunisten versuchte die KP-Führung, durch forcierte Industrialisierung die Lage zu verbessern. Mit Getreideexporten aus der Ukraine sollte der Aufbau der Schwerindustrie finanziert werden. Moskau plante zu Beginn, die Bewohner der traditionellen Dorfgemeinschaften der Ukraine zu überzeugen, sich zusammenzuschließen, zur besseren Nutzung der Anbauflächen und zum Einsatz moderner landwirtschaftlicher Geräte. Doch die Bauern wehrten sich. Jahrhundertelang funktionierte diese "Kornkammer" Europas mit der fruchtbaren, schwarzen Erde, über die schon im 19. Jahrhundert berichtet wurde, dass dort keinerlei Dünger notwendig sei und alles, was angebaut werde, hervorragend wachse und gedeihe.

Es kam zur Zwangskollektivierung mit katastrophalen Folgen, einer Verringerung der Anbauflächen und des Viehbestandes. Das Erntevolumen sank um 20 Prozent. Kolchosen und Sowchosen erwirtschafteten einen niedrigeren Hektarertrag als Einzelbauern, die Enteignung und Zusammenlegung ihrer Dörfer boykottierten.

Stalin reagierte mit Wut, Hass und Terror und dem politischen Ziel, den ukrainischen Freiheitswillen zu unterdrücken und die sowjetische Herrschaft in der Ukraine zu festigen. Es ging nicht mehr um die Bauern, er wollte das ganze Volk demütigen. Im Jahr 1931 wurden mehr als 50.000 Intellektuelle nach Sibirien deportiert, darunter die wichtigsten Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler. Im Sinne einer Russifizierung sollte die ukrainische Kultur komplett ausgemerzt werden, so dass nur noch eine sowjetische Kultur übrig bliebe.

Abgabenquote

Der Holodomor begann mit einer schweren Dürre im Frühjahr 1932. Trotz des Hungers der Landbevölkerung erhöhten die Parteikader die Abgabenquote der Bauern. Im Herbst 1932 beschloss Stalin, die Hungerkrise gezielt gegen die Ukraine zu nutzen. Die Grenzen wurden geschlossen, so dass hungernde Flüchtlinge nicht ausreisen konnten. Zweitausend Kolchosevorsitzende wurden verhaftet, großteils ermordet. Als im Januar 1933 das Getreidesoll nicht erreicht war, löste Stalin die lokale KP-Führung ab und setzte Molotov, den späteren Außenminister, als persönlichen Bevollmächtigten ein.

Die Forderungen an die Bauern wurden drastisch erhöht, in den Dörfern Haushaltsgegenstände wie Seifen, Textilien oder Petroleum konfisziert. Bolschewistische Brigaden suchten überall nach versteckten Lebensmitteln und plünderten die Dörfer. Bauernfamilien verloren oft ihren gesamten Besitz und lebten bettelnd in den Städten. In der Bevölkerung kam es zu Kannibalismus. Bei Nichteinhaltung der Abgabenquoten wurden in den Dörfern sämtliche Nahrungsmittel konfisziert und alle Waren aus den Geschäften fortgeschafft.

Die Folge war eine der größten humanitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Sechs bis zehn Millionen Menschen starben an der Hungersnot, über die damals nur wenig nach außen drang. Statt die bäuerliche Bevölkerung mit einem Minimum an Nahrungsmitteln zu versorgen, wurden im Hungerwinter 1933 1,7 Millionen Tonnen Getreide exportiert, um dem Ausland zu beweisen, dass es keinen Hunger gäbe und die Gerüchte antisowjetische Propaganda wären.

"In fast jedem Dorf war der Brotvorrat zwei Monate zuvor erschöpft, die Kartoffeln nahezu verbraucht, es gab nicht genug Rüben, die früher an das Vieh verfüttert wurden, jetzt aber zu einem Grundnahrungsmittel der Bevölkerung geworden sind, um bis zur nächsten Ernte durchzuhalten. Eine Phrase wurde wiederholt, bis ich sie als traurige Eintönigkeit im Kopf hatte, es war:'vse opukhli' (alle sind vom Hunger geschwollen). Bei jedem Gespräch prägte sich mir ein Wort ins Gedächtnis. Dieses Wort war 'holod', das Hunger oder Hungersnot bedeutet. Ich werde auch nicht die geschwollenen Mägen der Kinder in den Hütten vergessen, in denen ich schlief", schrieb Gareth Jones.

Verschweigen

Der letzte Akt des Verbrechens war das Verschweigen. Niemand sprach darüber, niemand schrieb darüber. Erst 1985 bis 1988 erforschte eine Kommission des US-Kongresses den Hunger-Terror in der Ukraine. In ihren Schlussfolgerungen betonte sie, dass "Joseph Stalin 1932-1933 einen Genozid am ukrainischen Volk verübt hatte". In den darauffolgenden Jahren verurteilten zahlreiche Regierungen und internationale Organisationen wie Europarat, Europaparlament und UNO den Völkermord.

Nach seinen Reportagen über die Ukraine fuhr Gareth Jones im März 1935 über Japan nach China und wollte weiter die Mongolische Volksrepublik, wo durch Stalins Zwangskollektivierung ähnliche Zustände herrschten wie in der Ukraine. In China angekommen, lernte Jones den deutschen Ingenieur Herbert Müller kennen, einen russischen Geheimagenten, der versprach, ihn in die Krisengebiete mitzunehmen. Jones wurde in der Mongolei gefangen genommen und kurz vor seinem 30. Geburtstag mit Schüssen in den Hinterkopf ermordet.