Hermann Nitsch im Bayreuther Farbenrausch

Für den Gesamtkunstwerker Hermann Nitsch erfüllt sich ein Lebenstraum: Weil Wagners "Ring"-Zyklus pandemiebedingt in Bayreuth ausfällt, begleitet Nitsch die "Walküre" szenisch mit einer hoch komplizierten Mal-Aktion.

von Hermann Nitsch © Bild: News/Matt Observe

Zehn Helfer verwandeln die Partitur in Farben und Emotionen. Am "Rheingold" zaubert Puppenmagier Habjan. Beide Premieren am 29.7.

Als der alte Meister, Pult an Pult mit dem jungen Dirigenten Petari Inkinen, das Wagner 'sche Universum in Gang setzte: Da glich schon die erste Probe der Erfüllung eines Lebenstraums. Wagner in Bayreuth! Hier wurde das Gesamtkunstwerk erfunden: das Zusammenspiel aller Künste, mit dessen lebenslanger Fortentwicklung sich der Aktionskünstler Hermann Nitsch in die Kulturgeschichte eingetragen hat. Jetzt wird hier das Gesamtkunstwerk um ein Kapitel weitergeschrieben. Der szenische "Ring"-Zyklus muss aus pandemischen Gründen auf den nächsten Sommer verschoben werden und soll im Festspielsommer dennoch gegenwärtig bleiben.

Drei Teile der Tetralogie leuchten dabei bloß in Fragmenten und Assoziationen auf, wohingegen die "Walküre" in ihrer gesamten Riesendimension aufgeführt wird. Und zwar konzertant und szenisch zugleich, wie News schon im Jänner exklusiv melden konnte. Die in schwarze Kutten gekleideten Sänger agieren nicht auf der Szene. Und doch blüht dort Wagners Universum bühnenfüllend in aller Schönheit und Bedrohlichkeit und in einer Intensität, die szenische Aufführungen erst einmal erreichen müssen.

Immer vorausgesetzt, das Beabsichtigte geht auf: Mit Nitsch am Regiepult wird die Partitur Szene für Szene in Farben übersetzt. Zehn Akteure beschütten vertikal und horizontal die komplette Bühnendimension. Jedem der drei Akte ist eine abgeschlossene Mal-Aktion zugedacht. Auf den bühnenhohen Wänden werden einander Ozeane aus Farben überspülen und auslöschen -spätere Kunsthistoriker können das Schicht für Schicht ablösen, um das Stattgefundene im Detail zu rekonstruieren. Was post festum mit dem volumi nösen Material geschieht, ist ungewiss. Ein gewichtiger Teil wird wohl im Bayreuther Wagner-Museum seinen Platz finden.

Hermann Nitsch
© News/Matt Observe DER KÖNIG DAHEIM. Hermann Nitsch beim Mittagessen in Schloss Prinzendorf

Einfach wird das Bevorstehende für den 82-Jährigen nicht: Fast vier Stunden Aufführungslänge netto müssen vom Regiepult aus minutengenau koordiniert werden, das Ganze drei Mal in drei Wochen. Dabei wird, weil eine Opernaufführung ja nicht wie eine Maschine läuft, auch Improvisation nötig sein.

Die Farben der "Walküre"

Anfangs, sagt Nitsch, hatte er es einfacher beabsichtigt. Da wollte er auf der Bühne eine bloße, von der Musik unabhängige Mal-Aktion umsetzen. Dann wurde ihm die hohe Farbenpracht der Partitur bewusst, und die Anforderungen multiplizierten sich .

Das einleitende Gewitter, durch das der rebellische Außenseiter Siegmund seinem Schicksal entgegentaumelt, wird sich in dunkelblauen, grünen und violetten Tönen materialisieren. Wenn Siegmund das Haus erreicht hat, in dem ohne beider Wissen seine eigene Zwillingschwester die Erlösung aus einer elenden Ehe ersehnt, werden die Farben immer lichter bis zum intensiven Grün. Nach der Entdeckung der familiären Verhältnisse tritt unheilvoll das Motiv der Blutschande in den Vordergrund: Grelles Rot überschüttet das Grün. Geht es um das zentrale Motiv des Schwertes Notung, dominiert ein stählernes Blau. Wenn im zweiten Akt der in sein eigenes korruptes Unvermögen verstrickte Göttervater Wotan das Ende ersehnt, versinkt alles in Todesschwarz. Und wenn Wotan im dritten Akt seine Tochter Brünnhilde in Wände aus Feuer einschließt, treten nach der Struktur einer Fuge alle Schattierungen von Rot in ihre Rechte -kein brutales Blutrot diesmal, sondern leuchtende, blumenhell irisierende Feuerfarben, denn in dieser Szene ist auch Erlösung angelegt.

Hermann Nitsch Museum
© imago images/viennaslide Nitsch-Museum in Mistelbach

Der österreichische Weltstar Günther Groissböck, heuer auch anderweitig im Zentrum der reduzierten Bayreuther Ereignisse, sprengt für den Wotan kühn das Bass-Fach. Das sei schon zu machen, obwohl der "Walküren"-Wotan zum Herausforderndsten überhaupt zähle, versichert er. "Es gibt da eine Explosion von Gefühlen, das macht es auch für die Stimme gefährlich, weil man sich von dieser Welle gern mitreißen lässt."

Und dann erst die Überwältigung im Nitsch'schen Farbenrausch! Die beiden trafen und mochten einander schon, als Nitsch 2007 in Zürich Schumanns "Faust-Szenen" inszenierte. "Ich fand seine Arbeiten über Religion und Mythen interessant", erinnert sich Groissböck. "Es hat mich beeindruckt, dass jemand so einen universalen Zugang zur Kunst hat. Wir haben auch einen ähnlichen Zugang zu Wagner", kommt er auf die ersten Bayreuther Proben. "Ich stand dort mit Gänsehaut. Katharina Wagner und ich blickten uns an, wir waren uns einig, diese Klangwucht ist nicht zu toppen. Mit diesem Gefühlsrausch diszipliniert umzugehen, wird eine große Herausforderung für einen emotionalen Sänger wie mich."

Bayreuth als Geschenk

Der Entfessler solcher Gefühlsstürme thront derweil wie ein Zentralmassiv inmitten seiner Bilder im Speisesaal des barocken Schlosses Prinzendorf.

»Wagner war für mich immer der große Lehrmeister«

Die Pandemie habe ihn nicht nur die Angst gelehrt, sie habe ihm auch den ersehnten, aber nicht mehr erhofften Bayreuther Auftritt geschenkt. Und der bedeute ihm mehr als fast alles, holt er aus. "Wagner war für mich immer der große Lehrmeister. Als ich begann, als einer der Väter von Happening und Performance reale Geschehnisse zu inszenieren, ging es mir immer darum, sie über alle fünf Sinne zu erfahren. Bei allen meinen Aktionen habe ich in diesem Sinn operiert. Es gibt Geruchs- und Geschmacksmotive, Farbprojektionen, die mit meinen Aktionen mitlaufen. Wagner war für mich der entscheidende Anreger, er hat die Kunstgattungen addiert, und mir als Performancekünstler ist es gelungen, das Gesamtkunstwerk noch direkter zu erreichen. Das ist keine Abwertung Wagners, im Gegenteil eine unglaubliche Aufwertung, weil ich diesen Weg weiterzulaufen versuche." Bei Wagner, fügt er hinzu, sei sogar schon die Performance moderner Ausprägung angelegt: habe man ihm doch vorgeworfen, im "Parsifal" die Heilige Messe zu profanisieren, die für Gläubige alles andere als Theater, sondern ein reales Geschehen sei.

Seit er denken kann, durchmisst der Gesamtkunstwerker Nitsch dieses Universum. Der frühe Wagner -die späten, rätselvollen Meisterwerke waren der Mutter unheimlich -begleitete in der Wiener Kleinstwohnung per Radio-Wunschkonzert die ersten Malversuche. Und auf dem Stehplatz der Staatsoper wurde der junge Mann im Alter von 17 Jahren mit dem ersten "Tannhäuser" vollends abhängig.

Der minderjährige Nitsch verdingte sich damals als Claqueur, für 20 Schilling und ein Paar Würstel akklamierte er den umstrittenen Direktor Karl Böhm und den unumstrittenen Tenor Julius Patzak. Seither hat er allein den geliebten "Tristan" gut 30 Mal gesehen und befreundete sich in Bayreuth mit dem großen Filmregisseur Werner Herzog, der dort einen ästhetisch betörenden "Lohengrin" inszenierte. Auch mit Christoph Schlingensief, dessen Bayreuther "Parsifal" unvergessen blieb, verband ihn eine Freundschaft. Aber, so fügt er hinzu, den "Parsifal" hätte er doch lieber selbst inszeniert.

Denn mit diesem Werk, das wegen seiner sakralen Blut-und Opfer-Thematik als unmittelbarer Impulsgeber d e s Nitsch'schen Orgien-Mysterien-Theaters zu verstehen ist, verbindet ihn eine eigene Leidensgeschichte.

Nitsch hatte 1995 an der Staatsoper mit triumphalem Aufmerksamkeitseffekt Massenets "Herodiade" inszeniert: eine rare Salome-Version mit Agnes Baltsa und Placido Domingo, von deren Ästhetik man sich die Bayreuther "Walküre" ein wenig hochrechnen kann. Klar, dass man mit Direktor Ioan Holender weitere Zusammenarbeit vereinbarte. Und klar zumindest aus der Sicht des Gesamtkünstlers, dass es "Parsifal" werden müsse.

Man gelangte bis in die Nähe des Vertrags, doch dem Direktor wurde angesichts des Beabsichtigten bang. Unter anderem wollte Nitsch dem zu Tode verletzten Gralskönig Amfortas eine Wunde in der Gestalt eines klaffenden Schweinekadavers aufbürden. Kaum vorstellbar, dass der schwer behinderte Bariton Thomas Quasthoff das Vieh hätte schultern können, sagt Nitsch heute. Auch die Blumenmädchen, die im zweiten Akt eine Art Bordellbetrieb aufrecht erhalten, hätten hochrechenbar die staatstheatralischen Schicklichkeitsverordnungen übertreten.

Also wurde die verlässliche ostdeutsche Regisseurin Christine Mielitz verpflichtet, und Nitsch wartete weiter auf die Erfüllung seines einen Sehnsuchtsprojekts. Das andere wäre "Tristan und Isolde" gewesen. "Aber", sagt er heute in rückblickender Einsicht, "wenn ich darüber nachdenke, wäre es mir wohl nicht gelungen."

Verschobene sechs Tage

So wurde die Musik wenigstens zum zentralen Bestandteil des Nitsch'schen Sechstagespiels, das zuletzt 1998 in Prinzendorf realisiert werden konnte. Sein gesamtes Wirken konzentriert sich da auf die Länge des biblischen Schöpfungsaktes. Alle Künste, alle Sinne werden in einer monumentalen, vielgestaltigen Performance mobilisiert, realer Rausch und realer Tod (in der Gestalt der später nicht mehr vollzogenen Schlachtung eines Stiers) werden eins, und über allem liegt die Musik.

Sie wäre in diesen Tagen auch im Zentrum der Weiterentwicklung des Sechstagespiels gestanden: Nitsch wollte das millionenteure Ereignis heuer nochmals in Szene setzen. Doch unter ungewissen pandemischen Voraussetzungen, womöglich vor minimalem Publikum, hätte das gemeinsame Fest der Sinne die Funktion verloren. Also verschob man auf den Sommer 2022, was sich im Lichte des Bayreuther Angebots als nützlich erwies.

Vor allem, sagt Nitsch, werde sich das zweite Sechstagespiel vom ersten durch die Musik unterscheiden. Sein eigenes, mehrere Symphonien umfassendes Schaffen schließe mittlerweile auch die Tonalität nicht mehr aus. Die groß dimensionierten Klangflächen sind noch breiter geworden, "alles wird überschichtet, es gibt ein Schwenken innerhalb der Tonarten". Blasmusik, mit Heurigenklängen collagiert, ist dabei der einzige Fremdbeitrag. Alles andere ist Nitsch'sche Eigenleistung und das Aufgebot erheblich. "Ein festes und ein bewegliches Orchester, ein Synthesizer, ein oder mehrere Streichquartette für die Nacht, da ist ,Tristan' mein Vorbild", zählt Nitsch auf. "Es geht mir ja um Sphärenmusik."

Bayreuth atmet auf

In Bayreuth meldet sich derweil das Leben zurück. Zwar dürfen nur 911 statt 1.940 Zusehern ins Haus, aber die balgen sich um den Zutritt wie in der besten Vorkrisenzeit. Sollten Karten zurückkommen, werden sie sofort online gestellt, andere Erwerbsmöglichkeiten sind nicht vorgesehen. Das Orchester spielt in Vollbesetzung und bezahlt das Privileg mit Test-Exzessen. Der in der "Walküre" unbeschäftigte Chor ist geteilt: 70 werden aus dem geräumigeren Chorsaal übertragen, die anderen agieren infektionsminimierend stumm auf der Bühne.

»Meine Angst vor dem Sterben ist die eines Kindes vor dem Einschlafen«

Er selbst, sagt Nitsch, wird sich vom Gesellschaftstrubel fernhalten, denn die Pandemie hat ihm auch ein Geschenk von dunklem Erkenntniswert gemacht. "Ich habe als 82-jähriger gelernt, wieder Angst zu haben. Ich hab sie noch immer." Mit dem Göttervater Wotan, diesem hoffnungslos in Gesetze und Verträge verstrickten armen Teufel, vergleiche er sich oft, fügt er in nur halbem Scherz hinzu. Aber Wotans Aufschrei "Nur eines will ich noch: das Ende!", den mag er nicht nachvollziehen. "Ich will das Ende nicht, ich glaube an die ewige Wiederkehr. Wenn ich sage, ich bin in allen Dingen, dann bin schon wiedergekommen und werde wiederkommen. - Jetzt ist Sommer", holt er zur elegischen Coda aus. "Bald wird Herbst sein, dann kommt der Winter, dann der Frühling, die ewige Wiederkehr, in die wir alle hineingebunden sind." Kennt er also keine Angst vor dem Sterben? Doch. "Mindestens so wie ein Kind, das Angst vor dem Einschlafen hat. Nur die Politik will den Leuten fälschlicherweise die Angst vor dem Tod nehmen."

Nicht ohne dazwischen den reduzierten Fotografenbataillonen vor dem Festspielhaus zur Verfügung zu stehen.