Kampf um das Lebenswerk

Ein halbes Jahr nach seinem Steuerprozess hat sich Hermann Nitschs Leben in kreativer Unruhe stabilisiert. Sein Werk ist weltweit gefragt, doch das Sechstagespiel, die Essenz seines Schaffens, kann zum 80. Geburtstag nicht verwirklicht werden

von Kunst - Kampf um das Lebenswerk © Bild: Matt Observe/News

Der Schöpfungsprozess sei der Feind aller Schwäche, sagt Hermann Nitsch, während sich die behandschuhte Rechte in die rote Farbmasse auf der Leinwand gräbt. "Wenn ich arbeite, erstarke ich und versuche auf diesem Weg, Gesundheit und Seinsmystik zu erfahren." Kaum von einer Shitstorm-umtobten Kunstaktion aus Australien zurückgekehrt, hat er vor vier Wochen wieder zu malen begonnen. Das Gehen ist für den bald 79-Jährigen mühsam geworden. Er stützt sich auf eine Krücke, aber er verweigert jede Hilfe beim täglichen Aufstieg über die steile, enge Holztreppe zum Dachbodenkosmos über Schloss Prinzendorf. Jeder Quadratzentimeter glüht hier in Rottönen: Josef, der Assistent, mischt sie in Farbkübeln; Seen aus Rot haben den Boden geflutet, an den Wänden stehen endlose Fluchten fertiger und grundierter Bilder, rot mit den charakteristischen braunen Blutschlieren. 30 der begehrten "Schüttbilder" - Formate drei mal zwei Meter erzielen bis zu 100.000 Euro - sind in diesen vier Wochen entstanden.

Nach der Krise

In das Leben des österreichischen Weltkünstlers Hermann Nitsch ist die Normalität zurückgekehrt, das bedeutet: Rastlosigkeit, die sich wieder auf die Kunst richtet. Und nicht, wie in den vier langen Jahren davor, auf die Vorbereitung eines Prozesses wegen Steuerhinterziehung, der dann Anfang März rasch und so weit glimpflich verlief: 290.000 Euro Geldstrafe für Nitschs Ehefrau und Managerin Rita als Alleinbeschuldigte, eine runde Million an Steuernachzahlungen. Bilder ab Hof zu veräußern soll in Kunstkreisen kein ganz ungebräuchlicher Vorgang sein. Aber einen, und einen der Prominentesten, hat es erwischt. Rechnet man dazu noch die Anwaltskosten und die halbe Million aus dem Einbruch in Prinzendorf, der die Behörde erst auf die Spur der Unregelmäßigkeiten brachte, so musste Nitsch mehr als zwei Millionen Euro abschreiben. Alles, was er in Jahrzehnten erspart hat, und vor allem: die Summe für das Sechstagespiel, das Ziel von bald sechs Schaffensjahrzehnten.

Im nächsten Jahr, zum 80. Geburtstag, sollte das im Schloss und auf dem umlie genden Grundstück stattfinden: ein Fest, sechs Tage lang wie die Schöpfung selbst; ein auf mehr als tausend Seiten konzipiertes, auf intimer Kenntnis der Philosophien und Weltreligionen beruhendes Gesamtkunstwerk, das die Entfesselung aller Sinne und Künste zum Ziel hat. Im Sinne archaischer Theaterrituale suggerieren Schauspieler Liebes-und Tötungsakte, deren Relikte -Bahren und Hemden -ihrerseits begehrte Kunstwerke sind. Musik spielt eine bedeutende Rolle (Nitschs Symphonie "Traubenfleisch", die mit klassischem Symphonieorchester unendliche Klangflächen erzeugt, kann am 2. September im Nitsch-Museum in Mistelbach gehört werden). Am sechsten Tag steigert sich das Spiel in ein gemeinsames orgiastisches Mahl des Genusses und des Rausches: ein Fest des Lebens. Dass während der Aktionen zur Schlachtung bestimmte Tiere von einem Fachmann getötet wurden, rief erheblichen Widerstand hervor. Heute arbeitet Nitsch nur noch mit toten Tieren, die auf dem Schlachthof erworben wurden.

Lebenswerk in Gefahr

Das Sechstagespiel kann nun aus finanziellen Gründen nicht stattfinden, zumindest nicht zum Geburtstag. Er kämpfe um sein Lebenswerk, sagt Nitsch, der die Finanzierung nun für das Jahr 2019 aufzubringen versucht. "Ich habe mein ganzes Leben lang alle meine Aktionen selber bezahlt, während andere mit Subventi0nen gefüttert wurden wie die Stopfgänse. Ich habe mir keine Yacht gekauft wie andere und habe ohne Hilfe des Denkmalamts ein Schloss renoviert. Aber jetzt hat man mich behandelt wie immer in Österreich: wie den letzten Dreck."

© Matt Observe/News Kosmos Schüttboden: Hermann Nitsch und Assistent Josef

Denn kaum wurde die Steuer-Causa ruchbar, brach die öffentliche Wut über ihn herein, als zählte der Künstler nichts; als gäbe es die weltweite Anerkennung nicht, die Präsenz seines Werks in den Spitzenmuseen von Paris, New York und London; als existierten nicht drei Nitsch-Museen, eines in Neapel, eines in der Türkei und eines, auf Betreiben Erwin Prölls, im nahen Mistelbach. Der zurückgetretene Landeshauptmann sei ein Parallelfall, sagt Nitsch. "Ich bin und bleibe mit ihm befreundet. Es ist selbstverständlich, dass alle, die etwas leisten, heruntergemacht werden. Ich finde es schön, wie er dieses Niederösterreich kulturell zum Blühen gebracht hat. Niederösterreich ist ein wunderschönes Land, trotz der scheußlichen Windräder, die es noch nicht gab, als wir hierher gezogen sind", fügt er hinzu. "Im Sommer kann man heraußen sitzen und über die Weingärten blicken. Es ist eine dionysische Gegend", schwärmt Nitsch, der 1971 das Schloss im Weinviertel erwarb. In Wien war er in beengten Verhältnissen aufgewachsen, hatte an der Graphischen studiert und in den frühen Sechzigerjahren den Wiener Aktionismus mitbegründet, die bis dato letzte kulturhistorisch relevante Bewegung, die in Österreich ihren Ausgang nahm. Inmitten der verdrängungsbeschwipsten Nachkriegsjahre war das radikale Spiel mit den Tabus - Sexualität, Selbstverstümmelung, Tod -eine Ungeheuerlichkeit. Nitsch saß wegen Religionsstörung (und unsachgemäßer Beseitigung eines toten Schafs) drei Mal kurz im Gefängnis und ging dann in die USA und nach München: Eine bedingte Haftstrafe von sechs Monaten wäre anlässlich der nächsten Aktion automatisch schlagend geworden.

Prinzendorf wurde zum Symbol der Heimkehr, und auch der öffentliche Umgang schien sich zuletzt zum Zivilisierteren gewendet zu haben. Nun aber hatte vor dem Prozess die Republik die Immobilie zur Gänze mit Pfanden belegt -der Verkauf des Schlosses war zur bedrohlichen Option geworden. Die ist nun abgewendet, aber etwas von der Erschütterung bleibt spürbar. "Für mich ist Prinzendorf kein Theater und kein Vergnügungsort, sondern mein Leben. Oder sollen wir wegziehen und die Tiere schlachten?" 30 Pfauen und vier Hühner, fünf Katzen, zwei Hunde aus einem italienischen Tierheim, eine Ziege und ein Esel sind in der Idylle ansässig und werden sehr geliebt.

Australien, New York, Peking

Dass diese Idylle trotz komplizierter wirtschaftlicher Umstände regenerierbar blieb, hat mit einem Paradoxon zu tun: Der Prozess hat Aufmerksamkeit, auch Solidarität gebracht, Nitschs Werke sind gefragt wie lang nicht mehr, die internationale Aufmerksamkeit hat sich noch gesteigert. In diesem Jahr war Nitschs Werk schon in Dallas und Südkorea zu sehen (diese Reise konnte er nicht auf sich nehmen). Eine Aktion beim Winterfestival "Dark Mofo" im australischen Tasmanien wurde von den gewohnten Tumulten begleitet. Tierschutzorganisationen entfesselten über soziale Medien einen Sturm des Protestes, die Nitschs logierten im Hotel unter dem Pseudonym "Mr and Mrs Clark". "Aber am Ende kamen 15 Demonstranten, und der Erfolg war gigantisch. Es ist doch immer das Gleiche."

In Mistelbach und St. Christoph am Arlberg sind zwei umfängliche Retrospektiven zu sehen, am 9. September eröffnet die renommierte Marc Straus Gallery in New York ihre Nitsch-Ausstellung, im Oktober folgen die Sammlung Würth in Capena und die Casa Morra in Neapel. Dort hält auch der Kölner Musikwissenschaftler Leopoldo Siano ein einwöchiges Seminar über das symphonische Schaffen. Im nächsten Jahr debütiert Nitschs Werk in Peking. Und im übernächsten, wenn unter guten Vorzeichen auch das Sechstagespiel Realität wird, zeigt die Albertina in Wien eine umfängliche Retrospektive.

Die Angst vor dem Tod

Wenn aber dieser Kosmos sein kreatives Zentrum einbüßte?"Ja, ich habe Angst vor dem Tod", sagt Hermann Nitsch. "Weil ich ihn nicht weiß, so wie ein Kind Angst vor dem Einschlafen hat." Die Ängste der Nacht seien ihm vertraut, der "Angstwachtraum" kreise stets um den Verlust des klaren Denkens, des Bewusstseins. Das Bewusstsein, sagt Hermann Nitsch, habe ja zwei Formen: das lexikale, wissenschaftliche, quantitative, das Wissen speichert. Und das andere, das qualitative, das des Glücks-oder Schmerzzustandes, der Innenwelt, kurz: des Künstlers. "Um das habe ich manchmal Angst."

© Matt Observe/News

Dazu kommt die Angst vor dem bedrohlichen Zug nach rechts, bestätigt Nitsch unwillig und kehrt eilends zur Kunst zurück. Es ist ja immer noch viel zu erklären, auch wenn die Welt sechs Schaffensjahrzehnte lang Zeit zum Verstehen hatte.

Dass seine Kunst von jedem Kind, sogar von jedem Schimpansen ausgeübt werden könne? Das bestreitet er prinzipiell nicht. Jeder Künstler mühe sich vergebens um die Kraft von Kinderzeichnungen, und von Affenbildern habe er, Nitsch, viel gelernt. Der gestaltende Unterschied sei der philosophisch-analytische Überbau: "Die Welt beflecken, beschmutzen, bedrecken, der Zivilisation eins auszuwischen, das kollektive Unbewusste sichtbar machen - da gehe ich tiefer und ins Grundsätzlichere als der Affe."

Womit das Nötige gesagt ist.


Nitsch in Österreich

Schüttbilder, Grafiken und eine Symphonie

St. Christoph/Arlberg
Im weiträumigen Areal unter dem Hospiz-Hotel St. Christoph in Vorarlberg zeigt Nitschs Freund und Schüler Florian Werner eine umfassende Retrospektive. Bis 2. Jänner.

Ausstellung in Mistelbach
Das landeseigene Nitsch-Museum in Mistelbach, dem der Künstler auch seinen Vorlass geschenkt hat, zeigt bis 8. April sein wenig bekanntes druckgrafisches Werk.

Konzert in Mistelbach
Zum zehnjährigen Bestand des Museums wird am 2. September (18 Uhr) im Rahmen eines Festaktes Nitschs Symphonie "Traubenfleisch" für Orchester und Chor aufgeführt. www.nitschmuseum.at