"Wir müssen den Elfenbeinturm verlassen"

Der Präsident der Akademie der Wissenschaften, Heinz Faßmann, sorgt sich wegen der anhaltenden Wissenschaftsskepsis. Und der Exminister erklärt das schwierige Verhältnis zwischen Politik und Wissenschaft

von Heinz Faßmann © Bild: Matt Observe/News

In der Spitzenpolitik werden wissenschaftsfeindliche Töne angeschlagen. Umfragen zeigen, dass in Österreich im EU-Vergleich die Wissenschaftsskepsis groß ist. Warum ist das so?
Die hohe Zahl an wissenschaftsskeptischen Personen ist überraschend, weil wir ein Forschungsland geworden sind. Wir geben rund 3,3 Prozent des BIPs für Forschung aus und sind global ein Spitzenreiter, sicher unter den Top-fünf-Nationen, in Europa unter den top drei. Wir haben ausgezeichnete Forschungsleistungen, wie ja auch durch den Nobelpreis an Anton Zeilinger sichtbar geworden ist. Ich habe keine einfache Erklärung dafür, woher diese Skepsis kommt. Aber sie hängt sicherlich mit einer gewissen Skepsis den Eliten gegenüber zusammen. Die Wissenschaftsskepsis und die Skepsis gegenüber Politikerinnen und Politikern gehen Hand in Hand. Daher werden wir das auch gemeinsam klären müssen.

Die Wissenschaft hat im Elfenbeinturm gewohnt und sich als Elite präsentiert?
Elite ist grundsätzlich nichts Negatives. Spitzensport und Spitzenwissenschaft sind immer elitär. Das muss so sein, weil in einem wissenschaftlichen Prozess bisher unentdecktes Wissen von einigen wenigen Personen erarbeitet wird. Als Wissenschaftsinstitutionen sagen wir aber, damit dürfen wir uns nicht zufriedengeben. Wir müssen den Elfenbeinturm verlassen und erklären und überzeugen, Werbung machen für wissenschaftliches Wissen im positiven Sinn. Vielleicht haben wir damit zu spät angefangen oder es bisher zu wenig gemacht. Möglicherweise ist das eine Ursache: zu lange im Elfenbeinturm.

Hängt die Ablehnung mit unserer Geschichte zusammen? Jüdische Wissenschaftler wurden von den Nazis vertrieben oder ermordet. Das Wort "Schulmedizin" wurde zur Diffamierung jüdischer Ärzte gebraucht und wird noch verwendet.
Die Ermordung und Vertreibung jüdischer Wissenschaftler ist in diesem Zusammenhang ein wesentlicher Punkt. Österreich hat sehr lange gebraucht, um sich von diesem Aderlass zu erholen. Und das Aufholen ist erst in den letzten Jahrzehnten geglückt. Vielleicht liegt darin auch eine Erklärung für Skepsis - auf mittelmäßige Forschung muss man nicht sehr stolz sein. Aber heute sind wir ein Land mit Spitzenforschung, darauf können wir sehr wohl stolz sein.

Wenn keiner bemerkt, dass wir ein Spitzenforschungsland sind - wessen Versäumnis ist das?
Sicherlich auch eines von uns Wissenschaftlern, weil wir nicht marktschreierisch auftreten und sagen, wir sind gut. Zum wissenschaftlichen Ethos gehört ja eher die eigene Skepsis: Sind wir wirklich gut? Zudem, glaube ich, haben sich die Institutionen erst spät darauf eingestellt. Wir waren vielleicht zu selbstzufrieden, Geld von der öffentlichen Hand zu bekommen, Forschung zu machen, Lehre zu leisten -und das war's. Dass wir eine verstärkte Rückkopplung haben zwischen Öffentlichkeit und öffentlicher Finanzierung, ist auch eine Folge der verstärkten Macht von Medien.

Wie verwerflich ist es, wenn die Politik, vom Kanzler abwärts nun in den wissenschaftsskeptischen Grundton der Bevölkerung einstimmt?
Ich würde nicht jedes politische Statement auf die Goldwaage legen. Kanzler Nehammer sagt auf der anderen Seite ja auch, dass wir technologisch-wissenschaftlichen Fortschritt brauchen, um die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft bewältigen zu können. Aber natürlich werden Wissenschaft und Wissenschaftsskepsis oft verpolitisiert. Plötzlich ist es eine politische Frage, ob mit öffentlichen Geldern finanziert, über Impfungen informiert werden darf. Das ist in Wirklichkeit eine rein medizinische Frage, ob das sinnvoll ist oder nicht. Meine Kritik: Wissenschaftliche Fragen werden verpolitisiert, auch wenn es nicht notwendig ist.

»Zum wissenschaftlichen Ethos gehört eher die eigene Skepsis: Sind wir wirklich gut?«

Der Kanzler hat eine Klimakatastrophenstimmung kritisiert. Die Klimakrise ist seit Jahrzehnten erforscht und ein Faktum.
Sie ist ein Faktum. Gestritten wird nur darüber, wie man sie bewältigen kann. Die einen sagen, wir brauchen einen radikalen Wandel, die anderen sagen, wir brauchen technologischen Fortschritt, vielleicht brauchen wir beides zusammen. Sicher muss man auch hier auf die Verpolitisierung von wissenschaftlichen Fragen aufpassen und vorsichtig sein.

Wenn die Politik Studien in Auftrag gibt, das Ergebnis aber nur dann veröffentlicht, wenn das Ergebnis passt: Muss die Wissenschaft da versuchen, mehr Transparenz zu erreichen?
Ja, wobei ich sagen muss, das hat sich geändert. Der Druck der kritischen Öffentlichkeit, vertreten durch die Medien, ist sehr groß, das weiß ich aus meiner politischen Erfahrung. Wenn wir eine Studie in Auftrag gegeben haben, musste diese früher oder später veröffentlicht werden. Da gibt es eine Veränderung. Es wäre ja traurig, wenn es nicht auch Änderungen zum Besseren gäbe.

Österreich investiert viel in die Forschung. Ist es genug? Grundlagenforschung ist von Drittmitteln, z. B. aus der Wirtschaft abhängig. Wie unabhängig ist man da?
Das ist ein wichtiger Punkt. Wir sehen im ÖAW-Wissenschaftsbarometer, dass ein Teil der Bevölkerung glaubt, die Wissenschaft stehe stark unter dem Einfluss von Politik und Wirtschaft - mehr als umgekehrt. Ich kann das aus meiner Forscherperspektive aber nicht bestätigen. Ich war vom Erfolg bei der Einwerbung von Drittmitteln bei den Förderungsfonds wie dem FWF oder der FFG abhängig, aber nicht von der Politik oder Wirtschaft. Ich musste mich wie alle anderen auch dem Wettbewerb um knappe Ressourcen stellen. Dieser Wettbewerb bei unabhängigen Fonds ist gut für die Forschung, denn er führt zu Innovation und zur Präzisierung der Gedanken. Drittmittel sind ein Qualitätsmotor in der Forschung und ein Gradmesser des Erfolgs. Aber es braucht auch eine Balance: Wenn man zu viel auf Drittmittel setzt, hetzt man von einem Projekt zum anderen und produziert ein immer nur befristet angestelltes akademisches Prekariat.

Heinz Faßmann
© Matt Observe/News

Wie sehen Sie Kooperationen mit der Wirtschaft? Impfstoffexperten wurde in der Pandemie vorgeworfen, sie hätten Projekte mit der Pharmaindustrie gemacht.
Da gibt es oft eine oberflächliche Sicht auf das Forschungssystem insgesamt. Grundsätzlich ist Industrieforschung auch vorteilhaft, weil man damit weiß, was die Industrie interessiert und woran sie arbeitet. Und umgekehrt helfen wir der Wirtschaft durch neue und intelligente Produkte. Wenn das Verhältnis fair bleibt, dann sehe ich mehr Vor- als Nachteile.

Oder Wissenschaftler gründen selbst Unternehmen für ihre Entwicklungen.
Ausgründungen halte ich für vernünftig. Wissenschaft ist ja kein Selbstzweck für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst, wir haben einen allgemeinen Auftrag, der Gesellschaft zu dienen, zu helfen, sie weiterzuentwickeln.

Wie hoch müsste das Wissenschaftsbudget sein, damit sich die Abhängigkeitsfrage nicht stellt?
Es ist nicht überraschend, wenn ich sage, mehr wäre gut. Tatsächlich sollten wir uns hier an den Besten orientieren. Und wir brauchen eine langfristige Perspektive. Also keine Budgetpolitik nach dem Hauruckprinzip, einmal mehr und einmal weniger. Der Aufbau von Infrastruktur, von Ressourcen und von qualifizierten Personen ist eine langfristige Investitition. Kurzfristige Investitionen bringen weder Stabilität noch Wachstumsorientierung.

Wie viel Prozent des BIPs hätten Sie gerne?
Eine Orientierung an Prozent des BIPs hat den Nachteil, dass der absolute Betrag sinkt, wenn das BIP sinkt. Aber ich sage schon, in Richtung fünf Prozent sollte man sich bewegen. Dort sind die bestausgestatteten Staaten dieser Welt.

Nach Corona ist Lernen aus der Krise angesagt. Was ist die wichtigste Lehre, wenn man sich mit der Politik einlässt?
Zunächst würde ich sagen: Man soll sich ruhig darauf einlassen, der Politik zu helfen. Wir sprechen oft von evidenzbasierter Politik. Aber wer sorgt für die Evidenz? Das sollte die Wissenschaft sein. Was ich den Kolleginnen und Kollegen aber raten würde, ist, zu bedenken, wie weit man geht. Ich berate, ich erkläre Optionen, ich sage voraus, wohin diese oder jene Maßnahme führen kann. Aber man sollte nicht den Rock des Politikers anziehen und sagen: "Du musst unbedingt das machen, und wenn das nicht passiert, ist es nicht richtig." Also: Gelassene Distanz zwischen der Wissenschaft und der Politik, einander nicht verwechseln, das würde ich als wesentlich ansehen. Dann steigen beide am besten aus. Auch wenn Politiker anfangen, Wissenschaft zu betreiben, Stichwort Entwurmungsmittel gegen Covid - glaubwürdiger werden sie dadurch nicht.

Expertinnen und Experten haben Zeit und Lebensqualität während der Pandemie eingebracht. Hätten klare Regeln geholfen?
Wir haben dazu mit der deutschen Leopoldina die "Wiener Thesen" entwickelt, denn wir glauben, das gehört präzise formuliert. Was ist jeweils die Rolle des anderen, wie weit kann ich mich selbst darauf einlassen? Diese Kultur des fairen Miteinanders müssen wir noch weiterentwickeln, sie ist wichtig, damit wir uns gegenseitig helfen können.

»Reputation und Vertrauen sind ein hohes Gut in der Wissenschaft. Das müssen wir erhalten«

Braucht die Politik mehr Verständnis dafür, was Wissenschaft ist? Der Salzburger Landeshauptmann hat gesagt, die Virologen würden "am liebsten alle einsperren", Kanzler Nehammer meinte, man war zu "expertenhörig".
Also ich bin einer, der beide Rollen eingenommen hat, und ich würde auch hier nicht jedes Wort in dieser polarisierten und angespannten Zeit auf die Goldwaage legen.

Aber schaden diese Aussagen nicht der Wissenschaft?
Wir brauchen mehr Verständnis, wie die jeweiligen Systeme funktionieren. Die Politik muss wissenschaftliche Forschungsprozesse verstehen. Aber auch für Wissenschaftler wäre es gut, zu akzeptieren, unter welchem Entscheidungsstress ein Politiker steht, der ganz unterschiedliche Zielkonflikte zu bewältigen hat. Als es darum ging, Schulen zu schließen, waren die Virologen zufrieden, die Bildungspsychologen wiesen auf negative Effekte hin. Solche Zielkonflikte hat die Politik immer, deswegen wäre es gut, Verständnis für beide Systeme zu entwickeln.

Corona hat bei manchen die Tendenz verstärkt, dass sie sich gar nichts mehr sagen lassen wollen - weder von der Politik noch von Wissenschaft oder Medien.
Das ist eine ernste Angelegenheit. Rund ein Siebentel der Bevölkerung fühlen sich auch von keiner Partei und keinem Politiker mehr vertreten, sagt unser Wissenschaftsbarometer. Da passiert eine gewisse Abkopplung von der Gesellschaft, was ich für problematisch halte. Wir sehen das Abkoppeln aber auch in anderen Bereichen. Eine neue rechtliche Grundlage für die Gentechnik bei der Pflanzenzucht wird von der EU erarbeitet. National wird das von den zuständigen Ministerien politisch reflektiert, aber nur NGOs zu Rate gezogen und keine einschlägigen Wissenschaften. Das ist nicht gut. Wir brauchen offensichtlich ein neues aufeinander Zugehen - Gesellschaft, Politik und Wissenschaft.

Wirkt da das sehr erfolgreiche Anti-Gentechnik-Volksbegehren weiter?
Wir haben inzwischen eine wissenschaftliche Weiterentwicklung. Zwei Forscherinnen haben 2020 den Nobelpreis für die Genschere bekommen, die sie zum Teil hier in Wien entwickelt haben. Die Biologen sagen, das ist eine gute Sache, um in Zeiten des Klimawandels und des Bevölkerungswachstums gezielt Pflanzen züchten zu können. Aber die Wissenschaft wird hier von vielen nicht gefragt.

Heinz Faßmann
© Matt Observe/News

Die Regierung will Fehler der Coronazeit aufarbeiten. Da wird es auch um die Rolle der Wissenschaft gehen. Ist diese in den Prozess eingebunden?
Ich als Person nicht, aber die ÖAW wird eingebunden sein. Wir müssen darauf achten, dass Wissenschaft und Forschung eine hörbare Stimme haben und dass nicht nur über uns geredet wird, sondern mit uns.

Wenn man sich so wie im Koalitionsabkommen in Niederösterreich für Coronamaßnahmen entschuldigt - ist das nicht das Ende evidenzbasierter Politik?
Es gibt darin Passagen, die nicht sehr zukunftsorientiert sind. Wir werden sehen, ob man früher oder später nicht doch auch der wissenschaftlichen Evidenz folgen muss. Wenn es im Herbst notwendig sein wird, die über 65-Jährigen an die Auffrischungsimpfung zu erinnern, dann würde ich es für gesundheitspolitisch relevant und wichtig erachten, dass diese mit Werbung darauf aufmerksam gemacht werden.

Etliche Personen aus der Wissenschaft haben sich an die Seite der Klimaaktivisten gestellt und kritisiert, dass die Politik zu wenig tut. Es gibt die Kritik, Wissenschaftler müssten neutral bleiben.
Auch hier verweise ich auf die Rollenverteilung. Die Wissenschaft soll Optionen aufzeigen, das hat sie beim Klimwandel auch gemacht. Die IPCC-Reports sind sehr gut und sehr wichtig. Aber dann hat die Politik das Ruder zu übernehmen und Maßnahmen zu setzen.

Und wenn sie das nicht tut?
Dann muss die Wissenschaft weiter auf ihre Resultate hinweisen. Auch wenn es manchmal schwerfällt: Die Handlungsoptionen liegen letztlich bei der Politik. Ein Energiesystem zu verändern oder unsere Mobilität anders zu organisieren, kann nicht von heute auf morgen und gleichsam auf Rezept geschehen. Es sind viele Faktoren zu berücksichtigen und die Bevölkerung muss dabei mitgenommen werden. Das ist die Aufgabe der Politik.

"Scientists For Future" sind für Sie also keine gute Idee?
Ich würde sagen, alle Scientists sind für die Zukunft. Aber die Rollenteilung ist trotzdem wichtig, damit die Bevölkerung Vertrauen in die Unabhängigkeit der Wissenschaft haben kann. Vertrauen, dass sie sich nicht in einem politischen Diskurs auf die eine oder andere Seite stellt. Reputation und Vertrauen sind ein sehr hohes Gut in der Wissenschaft. Das müssen wir erhalten.

ZUR PERSON

Heinz Faßmann, 67
Der gebürtige Deutsche ist in Wien aufgewachsen und hat hier Geografie, Wirtschafts- und Sozialgeschichte studiert. Er war mehrfach als Berater der Bundesregierung in den Bereichen Zuwanderung und Integration tätig. Von 2011 bis 2017 war Faßmann Vizerektor der Uni Wien. Von dort holte ihn Sebastian Kurz als Wissenschaftsminister. Nach seiner Ablöse durch Karl Nehammer kandidierte Faßmann 2022 für das Amt des Präsidenten der Österreichischen Akakdemie der WIssenschaften (ÖAW).

Dieses Interview ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 16/2023 erschienen.