Die gute alte Zeit

Wie unser Gehirn die Vergangenheit idealisiert

von Peter Sichrovsky © Bild: News/Ricardo Herrgott
»"Das Merkwürdigste an der Zukunft ist wohl die Vorstellung, dass man unsere Zeit einmal die "gute alte Zeit" nennen wird"«

Ernest Hemingway

Expräsident Trump ist nicht Erfinder der Ankündigung, vergangene Zeiten zurückzuholen mit seinem Wahlspruch "Make America Great Again". Von Caesar Augustus zu den Medicis, von Adolf Hitler zu Chinas Präsident Xi und Marcus Jr. der Philippinen versprechen Politiker und Politikerinnen eine Rückkehr in die "guten, alten Zeiten". Selbst Joe Biden kündigte an: "America is back!"

Was die politischen Botschaften verschiedener Jahrhunderte verbindet, ist die berechtigte Annahme, dass für Wähler und Wählerinnen die "goldenen Zeiten" in der Vergangenheit liegen würden und sie eine Sehnsucht beschäftigt, diese Harmonie wiederherzustellen. Auf der Grundlage dieser vergangenheitsorientierten Fantasie entwerfen Politstrategien seit ewigen Zeiten Wahlprogramme und -propaganda. Wenn tatsächlich der Zustand des "Heute" im Vergleich zum "Gestern" sich verschlechtert hat, diese Einschätzung sich aber von Generation zu Generation wiederholt - wann war es dann gut, und wann haben die schlechten Zeiten begonnen?

Erinnerung

Die beiden Wissenschaftler Mastroianni und Gilbert der US-Universität Harvard beschäftigen sich seit Jahren mit dem Phänomen, dass Menschen das Vergangene idealisieren, ihre Erinnerungen filtern und die Gegenwart im Vergleich dazu negativ bewerten. Erreichen Frauen und Männer ein gewisses Alter, beginnt eine Sehnsucht nach einem angenehmen Gestern mit der Überzeugung, dass zum Beispiel Menschen jetzt unfreundlicher und Kinder unerzogener seien, die Ästhetik des Alltags eine andere Qualität hätte.

Die Wissenschaftler konzentrierten ihre Studien auf Untersuchungen aus verschiedenen Ländern mit unterschiedlicher Fragestellung. Dabei schränkten sie die Auswahl nicht auf ein reduziertes Sample ein, sondern analysierten Tausende Befragungen, die bereits publiziert waren. Sie fanden 235 Publikationen mit insgesamt 574.000 Frauen und Männer, die befragt und deren Antworten ausgewertet wurden. In allen Ergebnissen setzt sich eine Meinung durch, unabhängig vom Kontinent, dem Land und dem Jahr, in dem die Studie durchgeführt wurde: Im Vergleich zu früheren Generationen seien die Menschen unehrlich, unfreundlich, unverlässlich, unzivilisiert, unwissend, uninteressiert und kulturlos. Das Beklagen des moralischen Verfalls wiederholt sich in allen Studien aus insgesamt 59 Ländern unabhängig vom Alter der Befragten, ihrer Religion, der Herkunft, des Einkommens und Zugehörigkeit zu Minderheiten -es ergab keine Unterschiede. Die ältesten wissenschaftlichen Arbeiten waren fast hundert Jahre alt.

Sicherheit

Selbst wenn es in anderen Fragen wie Sicherheit, Freiheit, Zugehörigkeit, Vertrauen in die Zukunft und politische Stabilität extreme Unterschiede in der Bewertung der Gegenwart gab, in einem waren sie sich alle einig: Die wunderbaren Zeiten der Rücksichtnahme, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft waren vorbei.

Mastroianni und Gilbert suchten nach Querverbindungen zu anderen Studien und kamen zu einem unerwarteten Ergebnis. Sie sammelten Befragungen, mit denen die Bewertung des "Ist-Zustands" hinterfragt wurde. Zum Beispiel mit Fragen wie "Wurden sie in den letzten Tagen respektvoll behandelt?","Haben sie in den letzten Monaten als Freiwilliger an einem Projekt mitgearbeitet?", "Wie oft erlebten sie in den letzten Wochen unzivilisiertes Verhalten am Arbeitsplatz, am Wohnort, beim Einkaufen?","Hat ihnen jemand in einer schwierigen Situation geholfen?".

In dieser weltweiten Sammlung von Veröffentlichungen konnten Studien von zwölf Millionen Menschen sichergestellt und verglichen werden. Das Ergebnis war erstaunlich. Es gab kaum Unterschiede bei der Auswertung historisch verschobener Untersuchungen. Der Vergleich verschiedener Jahrgänge -zum Beispiel Studien aus dem Jahr 2000 mit jenen aus 2020 -ergaben identische Ergebnisse. Menschen beurteilen die "Jetzt-Zeit" auf der Grundlage von Tatsachen realistisch und sachlich, meist sogar positiv. Ihre Fantasie manipuliert jedoch die Vorstellung über die Vergangenheit. Das "Jetzt" sei im Grunde genommen das, was es ist, und in vielen Fällen in Ordnung, doch im Vergleich zu "damals" sicherlich schlechter. "Damals" - also 20 Jahre früher -beurteilten die Menschen ebenfalls das "Jetzt" nüchtern und realitätsbezogen, doch "damals" war alles besser. Es setzt sich von Generation zu Generation fort, als würde man die gleiche Meinung parallel in verschiedene Vergangenheiten verschieben.

Erfahrung

Manche der Befragten bestätigen sogar eine Verbesserung der Zustände wie soziale Sicherheit, Versorgung, Infrastruktur, ihre finanzielle Situation. Dennoch beharrten auch diese Interviewten, dass sie das Gefühl hätten, im Vergleich zu früher "ginge alles den Bach hinunter".

Wissenschaftler kamen zu dem Schluss, dass es ein manipuliertes System der Erinnerung geben müsse. Negative Erfahrungen werden anscheinend in Regionen des Gehirns gespeichert, die nach einer gewissen Zeit kaum mehr zugänglich sind, oder anders formuliert: Positive Erinnerungen verdrängen die negativen. Beispiele: Eine Trennung wird durch die positive Erinnerung des ersten Treffens mit dem neuen Partner ersetzt. Die jetzigen Politiker seien durchwegs unfähig oder korrupt, kein Vergleich zu den früheren. Urlauber sprechen begeistert über einmalige Eindrücke, erholsame Tage, während schlechtes Wetter und schmutzige Hotelzimmer aus dem Gedächtnis verschwinden.

Information

Gleichzeitig konzentriert sich unsere Aufmerksamkeit auf negative Nachrichten, die nicht den persönlichen Alltag betreffen. "Only bad news are good news", formulierte es einst ein Herausgeber. Ein Blick in Zeitungen, die Inhalte der TV-Nachrichten zeigt eine Abfolge von Skandalen und Katastrophen. Das aggressive, demaskierende Interview erreicht einen maximalen Unterhaltungswert. Selbst beim Tratsch gehören Krankheit, Scheidung, Jobverlust, eine verstopfte Toilette, die Dummheit des Nachbarn und ein stundenlanger Verkehrsstau zu den liebsten Themen.

Das parallele Erleben negativer Nachrichten und der Sehnsucht nach einer (nicht existierenden) perfekt gefilterten Vergangenheit muss in einer Katastrophe enden. Beispiele: Ich stehe am Flughafen in der Security-Warteschlange und ärgere mich, weil es nur sehr langsam weitergeht. Mein Erinnerungsfilter erinnert mich an den Abflug vor ein paar Jahren, als der Flughafen halb leer war. Meine Schlussfolgerung: Es wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Ich sehe Nachrichten im Fernsehen, die Sendung vor drei Jahren hab ich längst vergessen: ein Erdbeben, eine Überschwemmung, ein Verbrechen, ein korrupter Politiker. Der Gedanke bedrängt mich: Es wird alles immer schlimmer.

Manipulation

Nach einer Umfrage in den USA aus dem Jahr 2015 sind 75 Prozent der Ansicht, dass der "moralische Zusammenbruch" des Landes zu den Prioritäten der Verantwortung einer Regierung gehört. Das ergibt eine Erwartungshaltung gegenüber Politikern und Politikerinnen, ihre Macht dafür einzusetzen, eine nicht reale Fantasiewelt wiederherzustellen.

Die gute Nachricht: Dieser "moralische Zusammenbruch" hat nie stattgefunden, das ist durch Befragungen statistisch erwiesen. Die schlechte Nachricht: Die Menschen sind überzeugt, dass er stattgefunden hat -rationale Argumente prallen einfach von ihnen ab.

Hier setzt der Brückenschlag zur politischen Manipulation ein, wenn Erwartungen und Hoffnungen in die politische Propaganda übernommen werden. Wähler und Wählerinnen sind mit dem Versprechen ansprechbar, die "gute alte Zeit" wiederherzustellen, auch wenn sie nie existierte. Die Sehnsucht nach einer idealisierten Vergangenheit, überlagert mit dem ständigen Gefühl, dass alles sich zum Schlechten verändert, öffnet Türen zu substanzlosen populistischen Strategien und der Mobilisierung des sogenannten "Frustpotenzials" unter der Stimmberechtigten.