"Ihr hungert uns aus"

Wer eine Operation braucht, muss das Skalpell selbst mitbringen.

von
Griechenland - "Ihr hungert uns aus"

Die Krise hat diese Woche Sophia M. erwischt. Die 46-jahrige Lehrerin aus Athen leidet an Brustkrebs, und eigentlich hatte ihre Chemotherapie beginnen sollen. Doch dafur musste sie jetzt 3.500 Euro in bar in die Hand nehmen, aus dem Krankenhaus in die Apotheke gegenüber gehen und die Medikamente selbst kaufen. Denn ihre Krankenversicherung hat kein Geld mehr. Die Bestände in den Spitalern sind erschöpft. Und die Pharmafirmen liefern nur mehr gegen Vorauszahlung. Sophia hat keine 3.500 Euro, ihre Chemotherapie muss warten. Bis wann? Das weiß hier niemand. Es ist ein kleiner Puzzlestein in einem leisen, langsamen Zusammenbruch. Die Wahlen in Griechenland sind geschlagen, zur Erleichterung von Resteuropa hat die konservative Nea Dimokratia gewonnen. Sie will in einer Dreierkoalition das Sparprogramm fortsetzen, das Griechenland gegen die Rettung vor der Pleite auferlegt wurde. Der Euro ist also vorerst gerettet. Die Menschen in Griechenland nicht: Sie sehen ihrem Land dabei zu, wie es auf den Status eines Entwicklungslandes abrutscht – und viele rutschen mit ab. Man kann das an vielen Orten beobachten. Athens größtes Krankenhaus Evaggelismos ist einer davon.

Krankenhäuser vor dem Kollaps.
Wir treffen die Ärztevertreter vor dem Tor. „Diese Sparpolitik gefährdet Menschenleben. Wir sind nicht mehr in der Lage, unsere Patienten angemessen zu behandeln“, sagt Ilias Sioras, Kardiologe, der die Arzte im Vorstand des Krankenhauses vertritt. „Es fehlt an allen Ecken und Enden: Wir haben
kein Material mehr, wir können niemanden einstellen, und wir arbeiten bereits sieben Tage die Woche, 15 Stunden am Tag. Es geht nicht mehr“, ergänzt sein Kollege Manos Mavrelos. In manchen Krankenhausern muss man mittlerweile Gips und Operationsbesteck selbst mitbringen. Und Medikamente gibt es nur mehr gegen Bargeld: „Wir haben lange die Medikamente vorgestreckt und gehofft, dass die Versicherung zahlt“, sagt die Apothekerin von gegenüber. „Nun sind unsere Reserven aufgebraucht. Inzwischen bekommen auch wir die Ware nur gegen Vorauszahlung, sogar die Importe wurden limitiert.“Der Zusammenbruch des Gesundheitssystems ist wie ein Brennglas, in dem man die gesamte griechische Krise erkennen kann: Es geht um Korruption im großen Stil, mit der Firmen und Politiker Millionen verdienten. Um den Schuldenschnitt vom März, der Griechenland eigentlich helfen sollte – aber die eigenen Versicherungen und Krankenhäuser zwang, auf drei Viertel ihrer Rücklagen in Staatsanleihen zu verzichten. Und um Sparmaßnahmen, die dazu führen, dass Krankenschwestern mit mehreren Berufsjahren nur mehr 580 Euro brutto verdienen – dafür aber doppelt so viel arbeiten müssen, weil die Patienten sich die Privatkliniken nicht mehr leisten können. Bezahlt werden die Überstunden nicht mehr. „Das ist die Folge der EU-Sparpolitik“, sagt Sioras. „Wir wollen nicht das Geld anderer Steuerzahler verbrauchen. Wir wollen unsere Schulden zahlen“, ergänzt Radiologin Vivi Paskhali. „Aber es soll jene treffen, die schuld an der Krise sind. Diese Art von Politik tötet Menschen. Das geht nicht.“Tatsächlich hatte die Sparpolitik, verbunden mit Lohn- und Sozialkürzungen, bisher desaströse Folgen: Die Wirtschaft ist seit Beginn der Krise um 20 Prozent geschrumpft, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 52 Prozent. Die Spirale aus fehlenden Staatseinnahmen, sinkenden Löhnen, bankrotten Unternehmen trifft nun die breite Bevölkerung: Viele haben seit Monaten kein Gehalt gesehen. Und mit der Armut kommt der Hunger nach Athen.

Hungernde Schulkinder
Szenenwechsel auf einen Platz im Zentrum. Hinter einem Bretterzaun hat sich eine lange Warteschlange gebildet: Das Rathaus gibt hier dreimal täglich Essen aus. Ursprünglich wurden hier Flüchtlinge versorgt – jetzt sind mehr als die Hälfte der Bedürftigen aus Griechenland. Einer davon ist der Pensionist Giorgios Z., der früher als Design-Ingenieur gearbeitet hat. „1941 bis 1944, als die Deutschen hier waren: Da gab es in Griechenland zuletzt Hunger. Ich hätte nie gedacht, dass ich das noch einmal erleben muss“, sagt er. An der Ausgabestelle stehen Mütter mit
Kinderwagen, Pensionistinnen, aber auch junge Männer in schicken T-Shirts – Überbleibsel aus der Zeit vor der Arbeitslosigkeit. „Einmal am Tag können wir uns hier versorgen, am Abend essen wir dann die Reste mit etwas Brot“, erzählt eine Mutter. „Für das Frühstück reicht es oft nicht mehr.“ Die Konsequenz: Immer mehr Kinder gehen hungrig in die Schule. Kiki Nikolao, die im Stadtviertel Kipseli in einer Schule das Buffet betreut, erlebt die Folgen täglich. „Im Schnitt fallen hier jeden Tag ein bis zwei Kinder in Ohnmacht, weil sie zu wenig gegessen haben“, erzählt sie. „Die Lehrer legen für Essen zusammen – aber mit den gekürzten Gehältern und den vielen arbeitslosen Familienangehörigen ist das gar nicht so einfach.“ Am meisten betroffen sind Kinder aus Migrantenfamilien ohne Netzwerk. Sie sind die ersten Opfer – und für manche die Sündenböcke.

Menschenjagd auf Ausländer
„Wenn wir ins Parlament kommen, werden wir Razzien in Kindergärten und Krankenhäusern machen und die Einwanderer hinauswerfen, damit Griechen ihre Plätze einnehmen könnten“, rief Ilias Panagiotaros von der rechtsextremen Partei „Goldene Morgenröte“ vor der Wahl seinen Unterstützern zu. Die Partei hat bei den Wahlen fast sieben Prozent gemacht und 18 Sitze im Parlament gewonnen. Für Einwanderer ist das Leben auf Athens Straßen schon vorher lebensgefährlich geworden. Samstagabend, auf dem Omonia-Platz feiern griechische Fans den EM-Sieg ihrer Mannschaft. Dutzende Skinheads gruppieren sich am Rand der euphorischen Masse. Als zwei asiatische Männer vorbeigehen, geht es plötzlich los: Tritte, Faustschläge. Einer der Neonazis zerbricht eine Flasche. Eine Gruppe jagt einen jungen Afghanen in eine Seitengasse. Die Polizei stellt sich dazwischen – verfolgt die Gewalttäter aber nicht. Zwei Afrikaner verschwinden schnell wieder in der U-Bahn, rennen um ihr Leben – allein in der Woche vor den Wahlen wurden in Athen sieben Einwanderer erschlagen oder erstochen. Einem Pakistani rammten die Schläger ein Schwert durch den Oberkörper. Ein Agypter wurde in Piräus mit seiner Familie aus seinem eigenen Haus gezerrt und zusammengeschlagen. Am nächsten Tag sehen wir einen der Schlager wieder: Er steht am Wahlabend am Balkon des Parteilokals der „Goldenen Morgenröte“, das mit leicht abgewandelten Hakenkreuzen
geschmückt ist. Als er die Kamera sieht, hebt er die Hand zum Hitlergruß. Auch das ist die Krise: In der sonst so solidarischen griechischen Gesellschaft gewinnt der Hass an Boden. Die Regierung selbst schürt ihn – etwa, indem sie Einwanderer als Gesundheitsrisiko darstellt und sie zu Aids-Tests zwingt. Die Fotos von positiv getesteten Prostituierten wurden von den Behörden selbst – mit Namen – ins Internet gestellt und im Fernsehen gezeigt. „Dabei kommen die meisten Krankheiten, an denen Einwanderer leiden, von den Bedingungen hier: 68 Prozent der Gesundheitsprobleme entstehen erst in den Anhaltezentren“, sagt Apostolos Veizis, Chef der „Ärzte ohne Grenzen“, die in Griechenland Migranten versorgen. „Einwanderer ohne Papiere sind außerdem mittlerweile völlig vom Gesundheitssystem ausgeschlossen: Sie dürfen nur im Notfall in Krankenhäuser – und der wird immer weiter eingeschränkt.“Weg können die Einwanderer nicht mehr: Das europäische Asylsystem schreibt vor, dass sie im ersten Ankunftsland bleiben müssen – auch wenn es das Griechenland der Krise ist.

Zeit gekauft
Doch viel starker als die Rechtsextremen sind die Linken gewachsen: Das Bündnis Syriza mit dem charismatischen Chef Alexis Tsipras verlor die Wahl nur knapp mit über 27 Prozent der Stimmen – nach vier Prozent im Jahr 2009. Syriza lehnt das Sparpaket ab – und bildet nun eine starke Opposition im Parlament. Ökonom Theodoros Paraskevopoulos, Berater der Syriza,
ist sich sicher: „Griechenland braucht ein Schuldenmoratorium.“Rückendeckung für die Pläne der neuen Regierung, die desaströse Sparpolitik neu zu verhandeln und Rettungsgeld auch für die Wirtschaft und das Sozialsystem zu verwenden. Will man den Zusammenbruch der Gesellschaft noch aufhalten, ist es dafür höchste Zeit.