Das Leben mit dem Schmerz

1,5 Millionen Menschen in Österreich sind chronische Schmerzpatienten. Wie Betroffene den Alltag mit dem ständigen Schmerz meistern, warum die richtige Diagnostizierung oft Jahre dauert, was Spezialisten raten und wie die Chancen stehen, ohne Operation schmerzfrei zu werden

von Gesundheit - Das Leben mit dem Schmerz © Bild: iStock

Alles begann mit einem Sportunfall: Die Oberösterreicherin Ulrike Gstöttenmayer war sieben Jahre alt, als sie sich beim Skifahren einen komplizierten Waden- und Schienbeinbruch zuzog. Ein Arzt verpfuschte ihr Bein beim Einrichten des Bruchs. Die dramatischen Folgen: Das Gefühl in ihren Zehen schwand, und der Bruch wollte nicht so richtig heilen.

Mit ihren Eltern suchte sie einen Spezialisten nach dem anderen auf. Jahrelang probierten verschiedenste Ärzte verschiedenste Methoden, um das Bein zu stabilisieren. Heute ist Ulrike Gstöttenmayer 50 Jahre alt und hat unglaubliche 40 Operationen hinter sich. Die Besserungen nach diversen Behandlungen waren immer nur von kurzer Dauer. Jahrelang quälten sie immer wieder schlimme Schmerzen. 2006 bekam sie ein künstliches Sprunggelenk, das 2011 getauscht werden musste. Durch die ständige Fehlbelastung des gesunden Fußes wurde dessen Kniegelenk ebenfalls stark in Mitleidenschaft gezogen: 2016 bekam die Patientin eine Prothese, doch die Schmerzen hörten nicht auf. „Mir tat ständig das Bein weh: beim Stehen, beim Liegen, beim Schlafen. Wenn nur der Wind die Bettdecke bewegt hat, hatte ich Schmerzen.“

Auf Schritt und Tritt

Die Österreichische Schmerzgesellschaft definiert einen Schmerz dann als chronisch, wenn dieser länger als zwölf Wochen anhält, wiederkehrt oder über die durchschnittliche Heilungszeit hinausgeht. Am häufigsten betroffen sind Menschen von 41 bis 70 Jahren. Chronische Schmerzen äußern sich hauptsächlich in Form von Schmerzen des Bewegungs- und Stützapparats, Kopf- oder Nervenschmerzen oder Schmerzen als Folge von Krebserkrankungen. Viele Betroffene haben, wie Ulrike Gstöttenmayer, einen langen Leidensweg und unzählige Operationen hinter sich. Der Alltag und die Lebensqualität der meisten Schmerzpatienten sind massiv eingeschränkt. Schon die kleinsten ­Herausforderungen stellen extreme Belastungen dar. Das soziale Umfeld reagiert mit Unverständnis – Isolation ist die Folge.

Körper und Psyche

Zum Zeitpunkt unseres Interviews ist ­Gstöttenmayer seit zwei Monaten schmerzfrei. Ohne Operation. Sie wollte nicht mehr. „Ich habe immer daran geglaubt, dass die Schmerzen irgendwann weggehen werden. Aber ich wollte definitiv nicht mehr operiert werden.“ Im Schmerzkompetenzzentrum in Bad Vöslau fand sie in Facharzt Martin Pinsger endlich einen Spezialisten, der nicht nur fachlich, sondern auch als Betroffener genau weiß, wovon er spricht.

Pinsger ist Facharzt für konservative Orthopädie, Schmerztherapie und Allgemeinmedizin und zählt zu den wenigen Ärzten in Österreich, die Patienten unter anderem mit cannabinoidhaltigen Präparaten behandeln – also mit Medikamenten auf Cannabisbasis. „Etwa 40 Prozent der Patienten sprechen auf diese Therapie gut an“, erklärt der Experte. Cannabinoide ­wirken dabei auf das Endocannabinoid-System, einen Teil des körpereigenen Nervensystems, und können schmerzlindernde, krampflösende und appetitsteigernde Wirkung haben. Denn wer schmerzfrei werden möchte, so der Therapeut, muss zuerst wieder lernen, sich zu entspannen: „Der Körper von Schmerzpatienten ist ­völlig aus der Balance geraten. Der Patient bewegt sich nicht mehr, er hat Angst vor Bewegung, schläft schlecht, ist reizbar und oft aggressiv. Dazu kommen häufig Probleme in der Partnerschaft und im Beruf, denn viele Betroffene fühlen sich unverstanden oder schämen sich.“ Existenzielle Sorgen, Burnout und starke Erschöpfung aufgrund von Schlaflosigkeit machen den Schmerzpatienten zu schaffen. „Die Kommunikation innerhalb der Partnerschaft oder der Familie bricht ­zunehmend ab, Ängste treten auf – die ­gesamte Emotionalität ist vom Schmerz betroffen. In diesem Kreislauf bleiben Schmerzpatienten oft jahrelang stecken“, so Pinsger.

Schmerz mit Gedächtnis

Dieser Schmerzspirale und der Ängste, die sich in ihr aufgestaut hatten, wurde sich Gstöttenmayer erst im Laufe der Behandlung bewusst. „Mir wurde klar, dass sich der Schmerz und die Angst vor jeder Bewegung in meinem Gehirn festgefahren haben“, rekapituliert die Patientin. Erinnerungen daran, dass sie auf jedem ihrer Klassenfotos nur mit Gips zu sehen ist oder dass sie nie an Radausflügen teilnehmen konnte, kamen hoch.

Gstöttenmayer bekam zu Therapiebeginn Antidepressiva verschrieben, um diese Ängste endlich loslassen zu können. „Das fand ich anfangs absurd. Ich dachte nur: ‚Ich bin doch nicht depressiv!‘ Aber nach einem Monat hat es sich angefühlt, als ob eine große Last von mir abfällt“, erinnert sie sich. Heute weiß sie: „Die Ängste waren ständig da. Immer habe ich mich gefragt: ‚Was denken die Leute, wenn sie mich hinken sehen? Was denken sie von meinem Fuß?‘“

Sie wurde auf die Cannabispräparate eingestellt. Seitdem nimmt sie jeden Abend pünktlich um 19 Uhr ihre Kapseln. Die Behandlung ist weitgehend nebenwirkungsfrei. „Aber nach der ersten Einnahme bin ich ziemlich high geworden und etwa zwei Wochen lang litt ich unter Schwindelanfällen. Heute spüre ich das alles nicht mehr.“

Die ständige Betreuung durch Martin Pinsger und sein Team half ihr dabei, einen Weg aus der Schmerzspirale zu finden. „Durch die Medikamente ist der Schmerz zwar nicht völlig verschwunden, er wirkt aber distanzierter.“ Auch ihre Psyche profitierte: „Ich fühle mich heute viel gelassener, entspannter und attraktiver als ­vorher. Ich bin ein anderer Mensch ­geworden.“

Heilung durch Bewegung

Bei chronischen Schmerzen, die den Bewegungs- und Stützapparat betreffen, fangen Schmerzpatienten an, Vermeidungstechniken einzuüben. Das führt oft dazu, dass die betroffenen Körperpartien versteifen. Die Folgen können irreversibel sein. Es sind die Angst vor der Bewegung und die Angst vor dem Schmerz, die nicht nur im übertragenen Sinne lähmen.

Gstöttenmayer kann sich heute endlich freier bewegen, ihre Schonhaltung auf­geben und in der Physiotherapie wieder „normal“ gehen lernen. Ohne Schmerzen. Körperliche Aktivität ist für den Heilungsprozess essenziell, erklärt der Facharzt. „Viele Betroffene glauben, dass jede zusätzliche Bewegung ihnen Schmerzen ­bereitet. Da wird jeder Muskelkater nach ­einer Trainingseinheit zur Qual und der Betroffene hört sofort damit auf. Cannabinoide können helfen, durch diese Blockade durchzugehen.“ Schmerzpatienten, die jahrelanges Vermeidungsverhalten einstudiert und bestimmte Bewegungen vermieden haben, müssen erst langsam wieder Vertrauen in ihren Körper fassen und ­lernen, dass Bewegung ihnen guttut.

Die richtige Diagnose

Der Österreichischen Schmerzgesellschaft zufolge dauert es etwa 2,5 Jahre, bis von den Symptomen auf eine chronische Schmerzerkrankung geschlossen wird. Ein katastrophaler Zustand, den die Volksschullehrerin Antonia* genau nachvollziehen kann. Starke Rückenschmerzen plagten die Oberösterreicherin schon einige Jahre, Anfang 2015 erlitt sie dann einen Bandscheibenvorfall, der von den behandelnden Ärzten lange Zeit unentdeckt blieb und als rein psychisch bedingte ­Rückenschmerzen abgetan wurde. „Wenn man lange keine Diagnose bekommt, ist das eine Katastrophe. Deshalb traut man sich auch nicht, Verständnis von ­anderen für den eigenen Zustand einzufordern“, erinnert sie sich. „Ich habe trotz Schmerzen keinen Tag in der Arbeit gefehlt, weil ich ja keine richtige Diagnose hatte.“

Im April 2015 brach sie aufgrund der Schmerzen schließlich zusammen, wurde sogar ohnmächtig. Erst dann stellte ein Spezialist mithilfe eines MRTs den Bandscheibenvorfall fest, durch den ein Nerv massiv bedrängt wurde und ­Antonia* zunehmend das Gefühl in einem Bein verlor. Durch die falsche Einschätzung der Ärzte litt sie an Schmerzen und Panikattacken, die auch nach der darauffolgenden Operation nicht verschwanden. Antonia* fühlte sich hilflos und nicht ernst genommen. Sie zog sich immer weiter zurück. „Ich war voll isoliert, konnte meinen Haushalt nicht ­bewältigen und war plötzlich auf fremde Hilfe angewiesen. Das war schrecklich.“

Die Angst vor dem Schmerz sitzt immer noch tief. „Ich habe alles probiert: progressive Muskelentspannung, Qigong, Physiotherapie, Schmerzmittel. Aber das kostet viel Geld“, klagt die Patientin. Heute kann sie ihren weitgehend schmerzfreien Zustand mit regelmäßiger Physiotherapie, Akupunktur, Laufen, Radfahren und Dehnungen halten. Die Zeit, als sie von Spezialist zu Spezialist pilgerte, vergisst sie trotzdem niemals. „Man klammert sich an jeden Strohhalm. Auch wenn es mir heute besser geht, fürchte ich mich vor Tagen, an denen es mir wieder schlechter gehen könnte.“ Diese Ängste loszulassen, fällt ihr schwer. „Bei leichten Verspannungen bekomme ich sofort wieder Panik und Schweißausbrüche.“

Dem Schmerz ausgeliefert

Je länger ein Patient seinen Schmerzen ausgeliefert ist, desto höher ist die Chance, dass der Schmerz chronisch wird. „Wenn ein Patient nach einer Operation einige Tage bewegungsunfähig ist, kann das ­Panik auslösen. Man fühlt sich hilflos, und diese Angst verhaftet sich im Gehirn. Wenn Therapeuten und Ärzte rechtzeitig und schnell handeln würden, würde es gar nicht so weit kommen“, kritisiert Pinsger. Dass sich Schmerzpatienten von vielen Ärzten nicht ernst genommen fühlen, hört er oft. „Unser Gesundheitssystem ist dem chronischen Schmerz als Krankheitsbild gegenüber nicht offen“, meint der Facharzt. Zudem fehle die Möglichkeit zur stationären Behandlung von Schmerzpatienten in vielen Krankenhäusern. Das alles führe dazu, dass Patienten immer weniger Vertrauen in das Urteil der behandelnden ­Ärzte haben und sich eher ihrem Schicksal hingeben, als nach Heilungsmöglichkeiten zu suchen.

Der Wiener Physiotherapeut Jakob Voss weiß aus seiner eigenen Erfahrung: „Vor allem wenn die Betroffenen schon viele Ärzte und Therapeuten aufgesucht haben und noch immer keine Lösung für die Problematik gefunden wurde, sinkt der Glauben an den Erfolg weiterer Therapieansätze.“ Dabei ist die rechtzeitige Behandlung wichtig, damit der Schmerz eben nicht gelernt und somit chronisch werden kann. Voss präzisiert: „Neurowissenschaftler haben herausgefunden, dass langanhaltende Schmerzzustände Veränderungen an involvierten Nerven und Gehirnbereichen auslösen können.“ Nerven werden empfindlicher und Schmerznetzwerke verselbstständigen sich, so der Physiotherapeut. „Schmerz kann gelernt werden. Man spricht deshalb auch von einem Schmerzgedächtnis.“

Richtig behandeln

Wenn ein Schmerz gelernt werden kann, kann er auch wieder verlernt werden. Eine schmerztherapeutische Behandlung mit Cannabinoiden kann dabei zum Beispiel helfen. Um Schmerzen richtig behandeln zu können, ist es aber wichtig, die gesamte Lebenssituation des Patienten einzubeziehen und mit erfahrenen Schmerzspezialisten zusammenzuarbeiten, die den Betroffenen ernst nehmen und erkennen, was ihm fehlt. „Manchen Patienten, die kurzfristig Schmerzen haben, hilft es, wenn man sie mit Schmerzmitteln behandelt“, erklärt Martin Pinsger. „Aber bei jenen, die bereits starke Belastungen und Stresserlebnisse hatten, kann man mit Spritzen allein wenig erreichen.“

Eine Behandlung mit Cannabinoiden ist allerdings nicht für jeden geeignet: „Bei Menschen, die unter Psychosen oder einer bipolaren Störung leiden, muss man von einer Therapie absehen“, weiß Pinsger. Bei vielen seiner Patienten erzielte er auf diese Art aber bereits gute Erfolge. „Wichtig ist, dass Schmerzpatienten nicht einfach weitergereicht werden, sondern laufend Betreuung und Coaching bekommen. Sich von Schmerz zu erholen, ist ein lebenslanger Prozess.“ Die Konfrontation des Patienten mit seiner persönlichen Lebenssituation ist ebenso wichtig wie die Behandlung von physischen Problemen. Deshalb sei es wichtig, dass Physiotherapeuten, Orthopäden, Diätologen, Anästhesisten, Psychologen und Sportwissenschaftler die Behandlung eines Patienten mit- und aufeinander abstimmen. „Das macht ein solides Schmerzkompetenzzentrum aus“, so der Schmerztherapeut.

Ob und wann Operationen dann doch sinnvoll sind, muss man individuell entscheiden. „Mein Ziel ist es natürlich immer, die Operation zu verhindern“, so Physiotherapeut Voss. „Der Ansatz ist dann, Physiotherapie mit verschiedenen anderen Disziplinen zu kombinieren.“ Für Patienten ist es wichtig, eine angefangene Schmerztherapie diszipliniert durchzuziehen. Voss: „Das größte Problem sind die stagnierenden oder sehr langsam ein­tretenden Behandlungsfortschritte, was ­wiederum häufig zum Therapieabbruch seitens der Klienten führt.“ Durch eine umfangreiche Aufklärung vor Therapiestart wird deshalb versucht, Betroffene auf den Ablauf der Therapie vorzubereiten.

Patienten ernst nehmen

Jährlich könnten zwischen 1,4 und 1,8 Milliarden Euro an Behandlungskosten eingespart werden, wenn es im Krankheitsverlauf erst gar nicht zu einer Chronifizierung des Schmerzes kommen würde, schätzt man bei Joanneum Research.

Prävention lautet das Stichwort. Und die obliegt unter anderem der Verantwortung eines jeden Menschen, der unter Schmerzen leidet oder sich körperlich beeinträchtigt fühlt. „Wir sind der Ansicht, dass ‚Schwachstellen‘ im Bewegungsapparat bekämpft werden müssen, bevor sie zu Problemen führen“, so Voss. Betroffenen empfiehlt er, rechtzeitig eine Schmerzklinik aufzusuchen. Für jede Erkrankung gibt es ein optimales Zeitfenster zur Behandlung, meint Facharzt Pinsger. „Wir versuchen, präventiv zu arbeiten. Wie man sich vor chronischen Schmerzen schützen kann? Mit Wohlbefinden!“ Zudem ist es wichtig, über chronische Schmerzerkrankungen offen sprechen zu können. Der erste Schritt zur Besserung ist eben auch hier eine gewisse Selbsterkenntnis.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Printausgabe 50/2018

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