Für immer jung!
Zukunftstrend Downaging

Warum die Gesellschaft immer älter und jünger zugleich wird

Weltweit nimmt die Zahl der älteren Menschen immer weiter zu während die der jüngeren immer weiter abnimmt. Gleichzeitig werden aber auch die Älteren immer jünger.

von Gesellschaft - Für immer jung!
Zukunftstrend Downaging © Bild: shutterstock

Wien, Berggasse 19: Dort, wo einst Sigmund Freud arbeitete und lebte, findet heute die Vorlesung „Psychoanalytische Begriffe in den Literaturwissenschaften“ statt. Um die hundert Studenten haben sich in den ehemaligen Gemächern Freuds versammelt und warten nun gespannt auf den ersten Vortrag. Eine von ihnen ist Gertie W. Im Gegensatz zu ihren Kommilitonen besucht sie die Vorlesung rein aus Interesse. Sie braucht keinen Studienabschluss mehr, um später einen Job zu bekommen. Gertie W. ist 63 Jahre alt und bereits in Pension.

»Es gibt eine Theorie, die besagt, dass Lernen und geistiges Fit-Bleiben glücklich macht. Das kann ich nur bestätigen«

„Es gibt eine Theorie, die besagt, dass Lernen und geistiges Fit-Bleiben glücklich macht. Das kann ich nur bestätigen“, sagt die Pensionistin, die nebenbei noch ein Seminar zu philosophischer Anthropologie besucht und sich in ihrer Freizeit Videos über Quantenmechanik auf YouTube ansieht.

„Junge Alte“

Gertie W. steht stellvertretend für das, was man heutzutage als „Downaging“ bezeichnet. Gemeint ist damit das Heraustreten aus traditionellen Altersrollen. Dadurch, dass das gefühlte und biologische Alter immer weiter auseinanderklaffen, kommt es zu einem Paradoxon: Unsere Gesellschaft wird zwar immer älter, gleichzeitig aber auch immer jünger.

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Die gestiegene Lebenserwartung sorgt nicht nur dafür, dass sich die Menschen jünger fühlen, sondern es relativ gesehen auch tatsächlich sind. Während Österreicher heutzutage aufgrund medizinischer Fortschritte 81,84 Jahre alt werden, lag die Lebenserwartung um 1900 noch bei der Hälfte. 60 wird in Zukunft also das neue 40 sein.

Doch nicht nur die Zahlen ändern sich, sondern eben auch das Bild, das wir von „alten“ Menschen in unseren Köpfen haben. Dieses stimmt oft nicht mehr mit der Realität überein. So gesehen veralten auch die Altersbilder zusehends.

„Un-Ruhestand“ der aktiven Alten

Auch verschwimmen die einzelnen Lebensphasen immer stärker ineinander. Folgten Biografien früher noch dem linearen Dreiklang von Kindheit/Jugend, Erwerbsalter/Heirat/Kinder und Ruhestand/Alter, fächert sich dieser in neue und vielfältigere Lebensabschnitte auf. So gehen Zukunftsforscher beispielsweise davon aus, dass die Kindheit zwar kürzer wird, jugendliche Verhaltensweisen dafür bis ins Erwachsenenalter andauern.

Und nach der „Rush-Hour“ des Lebens mit Karriere und Kindern folgt statt der Pension der zweite Aufbruch: Der „Un-Ruhestand“ der aktiven Alten. Denn die Generation 60+ ist heute agiler denn je. Hier spielen vor allem Werte wie physische und psychische Fitness, Vitalität, Aktivität sowie ein gesunder Lebensstil eine Rolle.

Wie im Fall von Gertie W. nehmen viele oft auch zusätzliche berufliche oder ehrenamtliche Tätigkeiten an. Obwohl sie, wie sie sagt „offiziell“ schon in Pension ist, arbeitet sie geringfügig als Lehrerin in einer Ausbildung für BehindertenbetreuerInnen und ist freiberuflich als Erwachsenenbildnerin tätig.

Zukunftsforscher brechen Altersgrenzen auf

Dass sich Begriffe wie „Jugend“ und „Alter“ immer weiter auflösen, davon sind auch der Hamburger Zukunftsforscher Horst Opaschowski und sein österreichischer Kollege Peter Zellmann überzeugt, die diesen Montag ihr neues Buch „Du hast fünf Leben!“ in Wien vorgestellt haben.

»Den einen Beruf, den Bund und die Freunde fürs Leben wird es bald nicht mehr geben «

In diesem erklären sie jedes Lebensalter zu einem „Start-up“ für ein Leben mit immer neuen Anfängen und Aufgaben. „Den einen Beruf, den Bund und die Freunde fürs Leben wird es bald nicht mehr geben“ sagt Opaschowski voraus. Auch die Altersgrenze könne man vergessen, meint der Wissenschaftler, der selbst 77 Jahre alt ist. „Wie jede Blüte welkt und jede Jugend dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe zu ihrer Zeit“, zitierten die Autoren Hermann Hesse.