Eine Geschichte
von Liebe und Hass

Salomon Rothenberg war einer von rund 7.800 Wiener Juden, die während der Novemberpogrome von den Nazis verhaftet wurden. 4.000 wurden sofort ins Konzentrationslager Dachau deportiert. Salomon und seiner Frau Cecylia gelang die Flucht aus Österreich. Jetzt kehrte ihr Sohn David zurück.

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Im Bild: David Rothenberg (Mitte) mit seinen Kindern Jeffrey und Sarah bei der "Wiener Jause" im Wiener Rathaus

Die Stadt hat zur Jause geladen. Es gibt Sachertorte. An großen, runden Tischen sitzen die Gäste und unterhalten sich. Eine Landtagsabgeordnete geht herum und schüttelt Hände. Kellner kredenzen Kaffee und Schlagobers. Es schmeckt, und doch, die Stimmung ist merkwürdig. Viele der Gäste sind zum ersten Mal in Wien. Ihre Eltern oder Großeltern wurden von den Nazis ermordet oder vertrieben. Sie sind zurückgekommen, zögernd und neugierig, weil sie sich für die Stadt interessieren, die einst Heimat ihrer Familie war. Empfang im Rathaus, Wien-Rundfahrt, Besichtigung der Gedenkstätte Mauthausen, Friedhofsbesuch. Das Programm, das das Jewish Welcome Service für den einwöchigen Aufenthalt erstellt hat, ist dicht.

Auch David Rothenberg nimmt daran teil. Er sitzt an einem Tisch links hinten. Ein liebenswürdiger älterer Herr mit Schnauzbart, geboren und aufgewachsen in den USA. Aber seine Eltern, Cecylia und Salomon, waren Österreicher. Sie mussten 1939 vor den Nazis fliehen. Wenn die Dinge sich anders entwickelt hätten, wäre David heute ein ganz normaler Wiener. Ein Nachbar, ein Arbeitskollege. Ein Freund.

Cecylia, genannt Cilla, und Salomon sind schon lange tot. Aber sie haben, auf Drängen des Sohnes, ihre Erinnerungen niedergeschrieben. Kennengelernt hatten sich die beiden beim Skifahren im Wienerwald. Sie gingen mit den Skiern auf den Berg, tranken heiße Schokolade und fuhren hinunter. Die Stadt ihrer Jugend, das Wien der 1920er-und 30er-Jahre, beschreiben sie, trotz aller wirtschaftlichen Schwierigkeiten, als fröhlichen, sorglosen Ort. Cilla erinnert sich an die freundlichen, hilfsbereiten Menschen in Wien, "die, wenn man sie um Hilfe bat, lieber eine falsche Auskunft gaben als gar keine".

An Kaffeehäuser, in denen man stundenlang vom Kellner unbehelligt vor einer Tasse Kaffee sitzen konnte, an Museen, Theater und Bildungseinrichtungen und nicht zuletzt an das gute Wiener Essen. "Die unglaublich köstlichen Mehlspeisen waren in der ganzen Welt bekannt. Sonntage waren Tage der Freude, die mit gutem Essen gefeiert wurden. Überall, wo man hinging, duftete es nach Wiener Schnitzel, Bratkartoffeln, Gurkensalat und Torte."

Novemberpogrome

Die Machtergreifung der Nazis zerstörte das Idyll mit einem Schlag. "Wir hörten Gerüchte über Hitlers Umgang mit den Juden in Deutschland, konnten es aber nicht wirklich glauben", erinnert sich Cilla. "In der Wiener jüdischen Gemeinde war die Überzeugung weit verbreitet, dass sich die Übergriffe nur gegen nicht in Wien Geborene richten würden. Plötzlich, ohne Vorbereitung, explodierte die Nazi-Bewegung mit voller Kraft. Die freundliche Stadt verwandelte sich in ein Inferno. Der latente Hass loderte plötzlich auf."

Cillas Familie verlor ihr Geschäft, eine Konditorei in der Radeckgasse im vierten Bezirk. Sie mussten in eine andere Wohnung ziehen. Übergriffe und Erniedrigungen standen auf der Tagesordnung. Cecylia wurde vom Vater ihrer ehemals besten Freundin mit einer Peitsche geschlagen, als er mit der Pferdekutsche an ihr vorbeifuhr. "Als die Nazis ihr Vernichtungsprogramm begannen und es als ,Umsiedelung' deklarierten", schreibt Cilla, "brach daher keine Panik aus. Alles schien besser als dieses Leben. Der Rest ist bekannt."

Auch Salomon Rothenberg, Davids Vater, 1908 in Wien geboren, schrieb auf Bitte des Sohnes seine Erinnerungen an die Nazizeit auf. Er war als junger Mann in der prosperierenden jüdischen Gemeinde Wiens aktiv gewesen, hatte aber auch viele christliche Freunde. Ähnlich wie Cilla erlebte er die Machtübernahme der Nazis als plötzlichen, unerwarteten Schock. "Wir fühlten uns ziemlich sicher, selbst als die Bedrohung durch die Nazis deutlicher wurde", schreibt er.

Dann ging es sehr schnell. Am 10. November 1938, dem Tag nach den Novemberpogromen, wurde Sal von der Gestapo verhaftet. So wie Tausende andere Wiener Juden auch (siehe Interview auf Seite 26)."Wir wurden in eine Zelle gesperrt, die eigentlich groß genug für 20 Männer war", erinnert sich Salomon Rothenberg in seinen Aufzeichnungen. "Wir waren 150. Der Gestank wurde bald unerträglich und viele fielen in Ohnmacht, aber wir konnten ihnen nicht helfen. Nach fünf Stunden brachten sie uns in offenen Lastwagen in ein anderes Gefängnis. Wir wurden von 16-jährigen Buben mit Schusswaffen und Peitschen bewacht. Ich kann gar nicht daran denken. Ich bekomme immer noch Alpträume davon."

Fünf Tage später wurde Sal zum Verhör mit der Gestapo gebracht. "Ich musste stundenlang stehen und warten, mit dem Gesicht zur Wand und erhobenen Armen. Hinter mir hörte ich Schreien, Flehen, Schläge, aber ich wagte es nicht, mich umzudrehen oder meine Arme zu senken, aus Angst, dass es auch mir passieren könnte."

Es gelang Salomon, die Gestapo davon zu überzeugen, dass er bereits eine gültige Ausreisebewilligung besaß. Nach weiteren acht Wochen in Haft wurde er mitten in der Nacht aus dem Gefängnis entlassen und konnte zu seiner Frau heimkehren. Sie hatte monatelang verzweifelt nach ihm gesucht . Ende 1939 konnte das junge Ehepaar über Italien aus Österreich fliehen. Am 21. Dezember 1939 um zwei Uhr morgens kamen sie mit sechs Dollar in der Tasche in New York an. "Wir gingen durch die Straßen und weinten die ganze Zeit. Ich hatte meine Frau unter der Belastung des Hitler-Regimes nie weinen sehen, aber als der Druck abfiel, brachen alle Dämme." Cilla begann als Putzfrau zu arbeiten, Sal als Autopolierer. Langsam bauten sie sich ein neues Leben auf. "Sie waren nicht verbittert", sagt ihr Sohn David. "Aber es hat ihnen das Herz gebrochen, dass sich ihre Freunde von ihnen abgewandt haben. Sie liebten Wien. Sie liebten es, Österreicher zu sein."

Cecylia war 30, als ihre nach "shlag and torte", wie sie auf Englisch schreibt, duftende Wiener Kindheitswelt zerstört wurde. Die Rückkehr 30 Jahre später war eine große Enttäuschung. "Wir fanden eine komplett andere Stadt vor. Der alte Charme war verloren gegangen. Alle Synagogen waren zerstört. Es war ein Alptraum, meine alte Schule noch vorzufinden, aber wo früher die Synagoge gewesen war, stand jetzt ein riesiger Wohnbau. Wir gingen die Straßen auf und ab, um Spuren der alten Tempel zu finden, aber alles war weg." Keine Kaffeehäuser mehr, dafür jede Menge Bierlokale. Kaum Bildungseinrichtungen, dafür Supermärkte. Während die jungen Leute der Zwischenkriegszeit sich um 21 Uhr trafen, um den weiteren Abend zu planen, wurden in diesem unfreundlichen, provinziellen Nachkriegs-Wien um 18 Uhr die Gehsteige hochgeklappt, beobachtete Cilla argwöhnisch. "Es schien, als hätte ich in dieser Stadt nie jung und fröhlich sein können. Meine Erinnerungen schienen wie ausgelöscht zu sein."

Sozialprojekt

"Ich habe das Gefühl, verschont worden zu sein", sagt David Rothenberg. Neben ihm sitzen seine Kinder, seine Frau und seine Schwiegertochter. Er hat sie alle mitgenommen, damit sie mehr über ihre Vergangenheit herausfinden können. David spricht leise und konzentriert über seine Familiengeschichte. Alles viele Male durchgedacht. Wie geht man um mit diesen ungeheuerlichen Erfahrungen? David hat sich für einen bemerkenswerten Weg entschieden. "Ich habe mein Leben lang versucht, nett zu sein", sagt er. "Ich habe versucht, ein gutes Leben zu führen.""Und das hast du", unterbricht ihn seine Frau und erzählt von einem Sozialprojekt, das ihr Mann auf die Beine gestellt hat. Er betreibt in Springfield, Massachusetts, einer 150.000-Einwohner-Stadt unweit von New York, ein kleines Gründerzentrum. Arme Leute, Schwarze, Hispanics können sehr günstig Räumlichkeiten mieten und bekommen Unterstützung bei der Umsetzung ihrer Business-Ideen. "Sie versuchen, sich aus der Armut zu befreien und wir helfen ihnen dabei."

Seine Eltern, die unter so grausamen Bedingungen aus Wien fliehen mussten, hätten ihn mit viel Liebe großgezogen, erzählt David. Er möge die Menschen. Aber die aktuellen Entwicklungen, in Österreich, in den USA, auch in vielen anderen Ländern, machten ihm Sorgen. "Der Hass ist wieder zurück. Ein Drittel der Bevölkerung hasst, wen auch immer. Und der Rest der Bevölkerung tut nichts dagegen. Das ist vielleicht etwas, was wir aus der Geschichte lernen können. Dass man laut seine Meinung sagen und sich auch für die Dinge interessieren sollte, die größer sind als man selbst."

Zwei Fahnen

Die "Wiener Jause" im Rathaus ist fast vorbei. Noch schnell ein Gruppenfoto. Im Hinausgehen ergibt sich die Gelegenheit, noch ein paar Sätze mit Davids Sohn Jeffrey zu wechseln. Er habe seine verstorbene Großmutter als sehr wienerisch erlebt, sagt er. "Sie liebte Tanz und Musik. Wir nannten sie immer nur ,happy grandma'." Die jungen Rothenbergs verbinden aber nicht nur sentimentale Erinnerungen mit Österreich. Er und seine Schwester Sarah hätten bereits mehrfach an österreichischen Business-und Networking-Veranstaltungen in den USA teilgenommen, erzählt Jeffrey. "Das hat mir eine neue Welt eröffnet." Den Besuch in der alten würde er sofort wiederholen. "Wien ist eine schöne Stadt mit viel Potenzial. Außerdem würde ich gerne mehr von Österreich sehen. Ich bin ein begeisterter Skifahrer und würde wahnsinnig gerne einmal Innsbruck besuchen und in den Alpen Skifahren gehen."

Und dann, die Veranstaltung ist jetzt wirklich vorbei und der Fotograf wartet schon, ist noch Zeit für eine allerletzte Geschichte. Seine dreijährige Tochter, erzählt Jeffrey, die Urenkelin von Cilla und Sal, marschierte am Memorial Day mit zwei Fahnen durch die Straßen. Einer amerikanischen und einer österreichischen. Auf die Frage, was denn das für eine komische Fahne sei, diese rot-weiß-rote, antwortete sie stolz: "Austria!"

Gedenken 80 Jahre danach

Heuer jährten sich zum 80. Mal die Novemberpogrome von 1938 gegen die jüdische Bevölkerung. Oft immer noch mit dem verharmlosenden Nazi-Ausdruck "Reichskristallnacht" bezeichnet, bedeuteten die Pogrome für viele Historiker den Beginn der gezielten Auslöschung der jüdischen Bevölkerung.

Veranstaltungen Im Parlament wird heute der Opfer der Novemberpogrome gedacht. Am Nachmittag empfängt Van der Bellen Opfer des NS-Regimes in der Präsidentschaftskanzlei. Für den Abend ist in der Wiener Ruprechtskirche ein Gedenkgottesdienst geplant. Ebenfalls an die Gräuel der Judenverfolgung erinnert wird bei einer Mahnwache beim Gedenkstein vor dem ehemaligen Aspangbahnhof im 3. Wiener Gemeindebezirk.

Projekt OT Im Rahmen des Projekts OT, initiiert vom Jüdischen Museum und der Universität für Angewandte Kunst, werden Lichtzeichen an den Stellen der 1938 zerstörten Synagogen und Bethäuser Wiens errichtet. Die fünf Meter hohen "Sternstelen" des Künstlers Lukas Kaufmann tragen einen ineinander verflochtenen leuchtenden Davidstern. Eine Inschrift verweist auf den Namen der Synagoge und ihre gewaltsame Zerstörung durch die Nationalsozialisten. Die 25 Standorte (siehe Grafik und www.lichtzeichen.wien) verteilen sich über ganz Wien.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der Printausgabe von News (Nr. 45/2018) erschienen!