Wer war Gertraud Jesserer?

Dass jemand einen neuen, vergleichslosen Ton in die Theaterkunst einbringt, ist unter den historischen Ereignissen zu subsumieren. Erinnerungen an eine Schauspielerin, ohne die es schwer wird

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Wie da fast alle vor einem Rätsel standen, wem sie eigentlich nachrufen sollten! Als gruppierten sich die Verdienste der großen Schauspielerin Gertraud Jesserer um das Jahr 1960, und sie hätte seit damals von ihren Einkünften als Kinderstar aus der Fernsehfamilie Leitner gezehrt. So schrieb man in ratloser Eile wackeligen Agenturmeldungen hinterher und verfehlte die Jesserer dabei um nicht weniger als eine Galaxie. Lassen Sie es also mich versuchen, und wenn ich auch daran scheitern muss, ihr gerecht zu werden: Lieblos wird es nicht sein. Meine persönliche Erinnerung an sie setzt im Herbst 1974 ein, mit den von Otto Schenk anno Gerhard Klingenberg am Burgtheater inszenierten "Geschichten aus dem Wiener Wald". Ich habe mir Jahrzehnte nach der Stehplatzzeit die Details aus dem Archiv geholt und vor der Besetzung - Karl Paryla, Wolfgang Hübsch, Jane Tilden, Adrienne Gessner - salutiert. Aber in Erinnerung geblieben war mir nur Gertraud Jesserer, die damals am Haus debütierte.

Eine neue Melodie ging da direkt ins Herz. Das imperiale Burgtheater - und das bagatelladelige Josefstadt-Deutsch waren mit einem rauen, bürgerlichen Ton unterhoben, und das Resultat war eine mir bis dahin unbekannte Geradheit und Wahrheitsschönheit. Diese Marianne war ein zerbrechliches Bürgerkind, aber sie stellte um den Preis der Ächtung und der endlichen Vernichtung den uneinlösbaren, ja skandalösen Anspruch auf Glück und lud sich dafür die tonnenschwere Last des sozialen Unrechts auf die Schultern. Unvergesslich war das und mehr als alles danach dem Humanisten Horváth verpflichtet, der die Frauen auf Händen trug, wie nur noch Mozart und Ibsen es getan hatten.

Sie war damals 29 und schon länger jemand, ausgewiesen an ersten deutschsprachigen Bühnen. Drei Jahre zuvor war sie, ebenfalls unter Schenk, neben Helmuth Lohner die Julie in einer Maßstäbe setzenden Fernsehverfilmung des "Liliom" gewesen. Der Öffentlichkeit war sie aber aus dem damals turmhoch besetzten Gesellschaftssegment bekannt. Was war das, Jahrzehnte vor Erfindung der Patchwork-Familie, für ein Aufsehen, als sie, Erika Pluhar, André Heller und Peter Vogel die Partner wechselten! Als Vogel, ein exzessiver, genialischer Selbstverwüster, 1978 aus dem Leben ging, war Gertraud Jesserer schon an Hellers Seite. Aber die privaten Petitessen haben noch eine andere Dimension: Nonkonformismus war in der Zeit des Aufbruchs aus dem endlosen nachkriegszeitlichen Abducken eine Lebensentscheidung, die man oft teuer bezahlte (man denke an Qualtinger). Die zur Sexbombe blondierte Erika Pluhar kämpfte sich unter Schmerzen zur ersten Schauspielerin frei. Heller hätte sich im mittlerweile eingestandenen Größenwahn fast vernichtet. Und die Jahre an der Seite des schwer depressiven Vogel mögen Gertraud Jesserer, die unter den vieren die Normale war, schlimm zugesetzt haben. Beider Sohn Nick habe ich recht gut gekannt. Er stellte sich 1991 als Reporter im Zehn-Tage-Krieg sinnlos auf den Flughafen von Ljubljana und wurde von einer Bombe getötet. Gertraud Jesserer muss schon mehrere Tode gestorben sein, als ihr das Verhängnis die letzte, empörende Ungeheuerlichkeit zudachte.

Was sie als Künstlerin bedeutet hat, scheint irritierenderweise vergessen zu sein. So wie die lange und glückhafte Direktionszeit Achim Bennings am Burgtheater, in der sie schwerelos über die Fachgrenzen ging, Nestroy und Schnitzler im Originalklang sprach und bei Tschechow und Feydeau beinahe unerreicht war. Die Jesserer stand da mit Elisabeth Orth, Annemarie Düringer, Erika Pluhar, Fritz Muliar, Joachim Bißmeier, Franz Morak, Karlheinz Hackl, Wolfgang Gasser, Robert Meyer, Regina Fritsch und anderen, die mir ihr Nichterwähntsein verzeihen mögen, in der ersten Reihe eines großen Ensembles. Als 1986 Peymann kam, brachte er augenhohe Konkurrenz mit, und dass hier nichts zusammenwuchs, ist ein Jammer. Wie es hätte sein können, erfuhr man 1998, als Gert Voss für einige Zeit im Streit an die "Josefstadt" ausgewichen war. Luc Bondy inszenierte dort Horváths "Figaro lässt sich scheiden", und das Ensemble mit Voss, Helmuth Lohner und Gertraud Jesserer blieb seither konkurrenzlos. Auf nunmehr alle drei verzichten zu müssen, ist eine schwer erträgliche Gewissheit.

Was meinen Sie? Schreiben Sie mir bitte: sichrovsky.heinz@news.at