Wohin mit Europa?

Politisch-historische Analysen über Europa mit Thriller-Spannung erzählt, garantierten dem niederländischen Historiker Geert Mak ein weltweites Millionenpublikum. Mit News sprach er über die Auswirkungen des Kriegs und die Erfordernisse einer besonnenen Sicherheitspolitik.

von Geert Mak © Bild: imago images/Sven Simon

Der Krieg in der Ukraine habe bereits 2014 auf der Krim begonnen, argumentiert der niederländische Historiker Geert Mak im Buch "Große Erwartungen. Auf den Spuren des europäischen Traums". Seine scharfen Analysen zur Befindlichkeit des Kontinents brachten dem 1946 geborenen holländischen Pastorensohn ein Millionenpublikum. Für sein jüngstes Werk "Große Erwartungen. Auf den Spuren des europäischen Traums" reiste er von Kirkenes in Norwegen bis an die Küste von Lampedusa. Die deutsche Friedrich- Ebert-Stiftung wählte das Werk zum "politischen Buch 2022". News erreichte den vielfach ausgezeichneten Forscher in Amsterdam.

Herr Mak, bei der Lektüre Ihres Buches "Große Erwartungen" gewinnt man den Eindruck, dass der Krieg Russlands gegen die Ukraine vorhersehbar war. Hätte er verhindert werden können?
Schon 2014 haben baltische und polnische Politiker davor gewarnt. Aber die meisten Diplomaten in Westeuropa hielten das immer für deren altes Trauma. Sie glaubten, dass wir ein neues Europa mit Russland bauen. Aber die anderen behielten mit ihren Warnungen recht. Zu Beginn dieses Jahrtausends war die Situation entspannt, doch das Regime in Moskau änderte sich. In Moskau entwickelte sich ein total repressiver Mafia-Staat. Speziell Deutschland und die Niederlande waren bewusst blind dafür. Aber Russland ist und bleibt unser Nachbar. Wir müssen jetzt einen neuen Weg finden, um mit Russland zu leben. Die Sanktionen sind im Moment richtig, wir müssen allerdings immer daran denken, dass wir am Ende wieder mit diesem komplizierten Nachbarn auskommen müssen. Wir haben keine andere Lösung. Wir können Russland nicht canceln.

Das Buch erhalten Sie hier (*)

Die mit Sternchen (*) gekennzeichneten Links sind sogenannte Affiliate-Links. Wenn Sie auf so einen Affiliate-Link klicken und über diesen Link einkaufen, bekommen wir von dem betreffenden Online-Shop oder Anbieter eine Provision. Für Sie verändert sich der Preis nicht.

Aber genau das verlangen viele, auch in der Kultur.
Das ist alles nicht logisch. Die Leute wollen keine russische Musik auf Konzerten mehr spielen. Das ist doch verrückt! Es ist wichtig, über die weitere Zukunft nachzudenken. Wenn ich die Leute hier sprechen höre, besteht Russland gar nicht mehr. Wir in Europa müssen einen kühlen Kopf bewahren, denn die Rhetorik der Amerikaner geht zu weit. Etwa, wenn Präsident Biden Putin einen Kriegsverbrecher nennt. Ich bin damit einverstanden, das ist er auch. Aber wer das nicht sagen darf, ist der amerikanische Präsident.

Sind die Massaker, die aus Butscha berichtet wurden, denn keine Kriegsverbrechen?
Doch. Wir müssen sagen, dass wir alles tun werden, um diese Übeltäter zu finden. Aber es ist wichtig, auch dabei immer einen kühlen Kopf zu bewahren und nicht zu sagen, alle Russen seien so. Die Agenten der CIA prahlen damit, dass mithilfe ihrer Informationen russische Generäle umgebracht worden sind. Das führt zu noch mehr Eskalationen. Wir brauchen eine Ethik der Verantwortung und erleben jetzt einen Krieg, der durch Überschätzungen entstanden ist. Zum einen durch die westliche Hybris, dass man dachte, wir könnten die Nato immer weiter ausbreiten, ohne in einen Konflikt mit Russland zu geraten. Der Westen war diesbezüglich sehr übermütig. Man hätte doch erwarten können, dass Russland etwas dagegen unternehmen würde. Auch der Ukraine ist eine gewisse Hybris zu attestieren. Wir alle lieben unseren Selenskyj, aber wir übersehen dabei, dass die Ukraine bis zum 24. Februar auf Platz 122 der korruptesten Länder rangierte, also zwischen Gabun und Swasiland. Das große Problem ist allerdings der Übermut des Kremls. Dort dachte man, dass man in Europa die Zeit um ein Jahrhundert zurückdrehen und wieder das russische Reich errichten könne. Man war sicher, dass die Ukraine sich schnell ergeben würde. Das größte Problem bleibt der Übermut Putins und des Kremls.

Bleiben wir bei der Nato. Finnland und Schweden drängen in dieses Militärbündnis. Die Friedensbewegung der Achtzigerjahre demonstrierte gegen die Nato und den Warschauer Pakt. Hat nach dessen Auflösung nicht auch die Nato ihre Existenzberechtigung verloren? Als naive Pazifistin stelle ich mir vor, dass man so das Gleichgewicht in der Welt herstellen hätte können. Wäre das vorstellbar?
Das wäre zu gefährlich gewesen, denn Russland ist voller Ressentiments. Man hat im Westen den Fehler gemacht, dass man die Ukraine übersehen hat. Die war wie ein Paket mit "Handle with care"-Aufklebern. Bush und Dick Cheney haben der Ukraine die Nato-Mitgliedschaft versprochen. Und schon damals wurde von Russland-Experten davor gewarnt. Das war ein Spiel mit dem Feuer, und jetzt hat man das Gefühl, dass Russland wirklich gefährlich ist, weil es so schwach ist. In den 1950erund 1960er-Jahren gab es auch schon die Gefahr eines Atomkriegs. Aber die Möglichkeit für einen russischen Atomschlag war nicht so groß, weil die Armee auch so stark genug war. Jetzt ist die Situation viel gefährlicher, weil die russische Armee schnell am Ende sein kann. Aber Putin hat seine Atomwaffen. Früher hatte man Kontaktsysteme, um einen Atomkrieg zu blockieren. Jetzt sind die meisten Verträge aufgehoben. Wir leben in der gefährlichsten Situation seit dem Zweiten Weltkrieg.

Wie ist Putin einzuschätzen?
Russland ist jetzt ein Mafia- Staat. Wie ich bereits gesagt habe, hat die Armee überhaupt keine Disziplin mehr. Alle Experten, mit denen ich spreche, sind über ihre Inkompetenz erstaunt. So etwas hätte niemand erwartet. Wie viele andere Kriege auch zeigt dieser die letzten Zuckungen eines Imperiums an. Es wird auch das Ende des Putin-Regimes sein. Aber was geschieht, bis es so weit ist? Im Holländischen sagen wir immer, eine Katze, die in die Ecke getrieben ist, kann sehr gefährlich sein. Putin ist jetzt diese Katze.

Sollte man versuchen, mit Putin zu reden, wie der österreichische Kanzler Nehammer, der Putin und Selenskyj besucht hat?
Es ist wichtig, dass Diplomaten den Kontakt mit Russland aufrechterhalten. Im Kalten Krieg hatte man immer Angst, dass durch ein Missverständnis ein Atomkrieg ausgelöst wird. 2014 haben die Amerikaner Szenarien von einem Krieg zwischen der Ukraine und Russland entwickelt. Alle diese Szenarien endeten damit, dass der Krieg zum Weltkrieg eskalierte. Die einzige Möglichkeit, das zu blockieren, waren gute Kontakte zwischen Russland, Amerika und Großbritannien. Denn nur durch gute Kontakte kann eine weitere Eskalation verhindert werden. Man schließt keinen Frieden mit guten Freunden. Man muss Frieden mit den Schrecklichsten schließen.

»Man muss auch sagen, wir können nichts anderes tun, als Waffen zu liefern. Wenn er den Krieg in der Ukraine gewinnt, sind die nächsten Länder die baltischen Staaten. Vielleicht sogar Polen, das ist keine Paranoia.«

Alice Schwarzer hat in einem offenen Brief gegen Deutschlands Waffenlieferungen an die Ukraine protestiert. Geben Sie ihr recht?
Ich respektiere diese Intellektuelle, aber das ist das alte Deutschland. Leider sind wir in einer total anderen Situation und müssen mit Waffen streiten. Aber wir müssen zugleich vor großer Eskalation warnen. Schwarzer und die anderen tun so, als ob man mit Putin reden könnte. Doch er hat sich selbst geschadet, ist total isoliert. Sogar mit der Sowjetunion konnte man noch Verträge machen. Putin agiert ohne Ratio, das macht ihn so gefährlich. Man muss auch sagen, wir können nichts anderes tun, als Waffen zu liefern. Wenn er den Krieg in der Ukraine gewinnt, sind die nächsten Länder die baltischen Staaten. Vielleicht sogar Polen, das ist keine Paranoia.

Wäre jetzt ein einheitliches europäisches Verteidigungssystem, eine Europa-Armee vonnöten?
Das wäre längst fällig. Das müssen wir sehr schnell entwickeln, aber es kostet sehr viel Geld und Zeit. Wir haben damit viel zu lang gewartet. Wir haben immer gehofft, dass unser guter "Uncle Sam" seinen Schutzschirm über uns ausbreitet. Doch Amerika ist viel mehr am Gebiet im Pazifik interessiert und viel weniger europaorientiert als vor einem halben Jahrhundert. Korea und China sind Amerika wichtiger. Jetzt hilft Biden Europa wieder, aber es ist gut möglich, dass in drei Jahren ein anderer Präsident in den USA im Amt ist und die Unterstützung ausbleibt. Man sollte auch bedenken, dass alle europäischen Länder zusammen mehr für die Verteidigung ausgeben als Russland oder China. Es dachten aber alle immer ganz nationalistisch, jeder hat andere Flugzeuge und Panzer. Das ist ein Chaos! Dann kommt auch noch der Brexit dazu. Großbritannien war die wichtigste militärische Macht in Europa.

Was ist mit neutralen Ländern wie Österreich? Könnte es Teil dieses Sicherheitssystems sein und neutral bleiben?
Das muss die österreichische Innenpolitik klären. Man könnte das so konstruieren wie die Eurozone, manche könnten Mitglied sein, andere nicht.

Robert Menasse sieht das Ideal in der Auflösung der Nationalstaaten. Und Sie?
Ich auch. Aber mein ideales Europa ist eines von Städten. Ich lebe in Amsterdam und denke europäisch. Amsterdam ist unglaublich international. Wir leben mit über hundert Kulturen, fühlen uns zugleich als Amsterdamer. Viele sprechen von einem Europa der Vaterländer, ich glaube an ein Europa der Mutterstädte.

»Wenn man jetzt auf Europa blickt, hat man den Eindruck, es zerfalle in Kleinstaaten.«

Wenn man jetzt auf Europa blickt, hat man den Eindruck, es zerfalle in Kleinstaaten. In Schottland gibt es ständig Tendenzen einer Abspaltung von Großbritannien - Katalanen, Basken, sie alle wollen eigene Staaten bilden. Schottland war eine Reaktion auf den Brexit, ein englisches Lügenprojekt. Ich glaube, dass die EU es möglich macht, auch kleineren Regionen mehr Raum zu geben. Der katalanische Nationalismus ist voller Lügen, aber man kann auch sagen, die EU bietet Möglichkeiten, vieles auf die eigene Weise zu regeln und eine gewisse Identität zum Ausdruck zu bringen.

In Ihrem Buch werfen Sie Europa einen Mangel an Selbstbewusstsein und Einigkeit vor. Putin, schreiben Sie, habe Europa geeint, was er jedoch so nicht geplant hatte. Wird Europa durch diesen Krieg selbstbewusster?
Sicher. Europa ist näher zusammengerückt. Was den Diplomaten in 20 Jahren nicht gelungen ist, hat Putin innerhalb von zwei Wochen erreicht. Ich propagiere ein Denkmal für Putin beim Berlaymont, dem Gebäude der EU in Brüssel.

Was das Gas-Embargo angeht, fehlt es noch an Einigkeit. Könnten wirtschaftliche Krisen zu innereuropäischen Schwierigkeiten führen?
Wir stehen noch am Beginn eines ökonomischen Kriegs mit Russland und werden dafür einen hohen Preis zahlen. Es ist sehr gut möglich, dass Putin die Gasexporte blockiert, dann werden auch die Verpflichtungen für die südlichen europäischen Länder groß, dann haben wir auch eine Euro-Krise. All diese Maßnahmen werden auch gespiegelt in der politischen Haltung der Bevölkerung. Ich hoffe, dass unser Gefühl von Einigkeit diese Turbulenzen überlebt.

Kommen wir zum Abschluss noch einmal auf die Kultur zu sprechen. Halten Sie die Sanktionen gegen russische Künstler für übertrieben? Der Dirigent Valery Gergiev war einer der ersten, die ausgeladen wurden. Russische Künstler müssen sich von Putin distanzieren, bevor sie hier auftreten dürfen. Ist das richtig?
Für mich ist wichtig, was man wirklich meint. Ist man Teil dieses Propagandasystems oder nicht? Es ist sehr leicht, von hier aus zu urteilen. Künstler haben es im Augenblick schwer, in Russland in Opposition zu gehen, und Menschen machen Fehler. Wenn jemand seine zugibt, dann muss man auch die Größe zeigen und sagen: "In Ordnung, komm zu uns." Aber Gergiev kann nicht mehr bei uns auftreten.

Der letzte Krieg in unserer Nähe war der im ehemaligen Jugoslawien. Der österreichische Literaturnobelpreisträger Peter Handke wurde heftig dafür kritisiert, dass er in Serbien bei Milošević war. Ist das in irgendeiner Weise mit der Situation zu Unrecht kritisierter russischer Künstler heute zu vergleichen?
Ach, da denkt man doch nur: "So ein verrückter Österreicher."

ZUR PERSON: Geert Mak wurde am 4. Dezember 1946 in Vlaardingen, Niederlande, als Sohn eines Pastors geboren. Seine Bücher über Europa verschafften ihm zahlreiche Preise und Ehrungen. 2008 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung und die Ernennung zum Chevalier de la Légion d'honneur in Frankreich. Sein jüngstes Buch über Europa, "Große Erwartungen. Auf den Spuren des europäischen Traums", kürte die deutsche Friedrich-Ebert-Stiftung zum "politischen Buch 2022". Geert Mak lebt in Amsterdam.