Irmgard Griss: Wir haben gar
nichts kommen sehen

Demokratie braucht Anstand. Einen Anstandsgrundkonsens. Dass Politiker nicht alles behaupten dürfen, was ihnen bei ihrer Klientel Zustimmung bringt

von
Gastkommentar - Irmgard Griss: Wir haben gar
nichts kommen sehen

Sieben französische Jugendbuchautorinnen haben je ein Kapitel eines Romans geschrieben. Darin wird geschildert, wie sich der Wahlsieg der "Partei der Freiheit" auf das Leben von sieben Jugendlichen in unterschiedlichen Milieus auswirkt. Sie machen schlimme Erfahrungen, und immer wieder wird gesagt: "Wir haben gar nichts kommen sehen." Das Vorwort hat Stéphane Hessel verfasst, der Autor von "Empört euch!". Als ich das Buch gelesen habe, kam mir manches ein wenig übertrieben vor. Ich habe mir gedacht, jedenfalls bei uns wäre es doch nicht möglich, dass jemand das Land verlassen muss, obwohl er schon Jahre hier lebt. Dass Menschen danach eingeteilt werden, wie hell oder wie dunkel ihre Haut ist. Dass Behinderte, Hippies, Aussteiger, Alte und Homosexuelle Angst um ihre Zukunft haben müssen. Österreich ist doch ein Rechtsstaat. Doch da bin ich mir nicht mehr so sicher. Wenn ein Innenminister sagt: "Ich glaube immer noch, dass der Grundsatz gilt, dass das Recht der Politik zu folgen hat und nicht die Politik dem Recht", dann greift er damit den Rechtsstaat an. Denn den Rechtsstaat zeichnet aus, dass es verbindliche Regeln gibt, die für alle gelten. Für die Politik wie für die Bürgerinnen und Bürger. Regeln, die festlegen, wie wir uns zu verhalten haben, was wir tun und lassen müssen, und Regeln, die festlegen, wie Regeln zustande kommen und wie sie geändert werden können. Manche haben argumentiert, der Innenminister habe ja nur sagen wollen, dass Regeln auch geändert werden können und selbstverständlich nur in einem verfassungsmäßigen Verfahren. Wenn dem so wäre, weiß ich nicht, warum er es so und in diesem Zusammenhang gesagt hat. Nicht nur ein Jurist, auch ein Philosoph - der Innenminister hat ja Philosophie studiert - muss wissen, dass es bei Äußerungen immer darauf ankommt, wie sie aufgenommen werden. Dass der "Empfängerhorizont" maßgebend ist und nicht innere Beweggründe, die das Gegenüber gar nicht erkennen kann.

Und den "Empfängerhorizont" hat der Innenminister ja auch offenkundig im Blick gehabt. Denn die Äußerung zielt ganz klar auf Menschen ab, die es gut finden, wie endlich gegen straffällige Asylwerber und Asylberechtigte, gegen Einwanderer in das Sozialsystem, gegen Sozialschmarotzer vorgegangen wird. Gegen Unerwünschte, die unser schönes Österreichbild und unser ungetrübtes Selbstbild stören, weil sie eine andere Sprache sprechen, anders ausschauen, eine andere Religion haben oder einfach nicht in der Früh aufstehen wollen. Diese Menschen werden als Bedrohung empfunden, sie machen Angst, und die Angst ruft geradezu nach jemandem, der davor schützt, der die Gefahren abwehrt und sich dabei nicht von Regeln stören lässt, die veraltet sind. Regeln, die aus einer längst vergangenen Zeit stammen und heute einfach nicht mehr passen. Denn heute können wir uns diese Humanität nicht mehr leisten. Wer etwas anderes behauptet, ist ein "Gutmensch", ein Phantast, ein Linker. Diese Leute kritisieren die fortschrittliche Politik des Innenministers ja nur, weil sie nicht mehr das Sagen haben. Weil sie -endlich! - die Meinungsführerschaft verloren haben. Und endlich kann man wieder sagen, was man denkt -ohne gendern zu müssen. Die Grenze des Sagbaren wird immer weiter nach außen verschoben. Was noch vor einigen Jahren unsagbar gewesen wäre, regt heute jedenfalls die Mehrheit nicht mehr auf. Sebastian Haffner schildert in der "Geschichte eines Deutschen", wie sich die öffentliche Meinung in den Dreißigerjahren langsam der herrschenden Ideologie angepasst hat. Vor einigen Tagen wurde ich von einem jungen Mann gefragt, ob ich meinte, dass die Demokratie gefährdet sei. Hans Kelsen, der Schöpfer unserer Bundesverfassung, hat darin auch die Möglichkeit einer Gesamtänderung der Verfassung vorgesehen. Weil er überzeugt war, dass es das unveräußerliche Recht des Volkes ist, die Regierungsform zu bestimmen. Und das kann auch ein autoritäres Regime sein, ohne Gewaltentrennung, ohne unabhängige Gerichtsbarkeit, ohne Gleichheit vor dem Gesetz. Denn das Volk ist der Souverän. Daher heißt es auch in Artikel 1 der Bundesverfassung: Das Recht geht vom Volk aus.

Wir müssen uns fragen, was wir wirklich wollen. Es gibt ja Beispiele, dass autoritäre Regime erfolgreich sind, erfolgreicher als manche Demokratie. Wir müssen uns auch eingestehen, dass es noch nie so leicht war, Menschen zu beeinflussen, sie von Dingen zu überzeugen, die bei näherem Hinschauen geradezu absurd anmuten. Die Abstimmung über den Brexit, auch Trumps und Bolsonaros Wahlsiege sind ein schlagender Beweis. Sie sind auch ein schlagender Beweis dafür, dass die Demokratie Anstand braucht. Einen Anstandsgrundkonsens. Dass Politiker nicht alles behaupten dürfen, was ihnen bei ihrer Klientel Zustimmung bringt. Dass sie nicht wider besseres Wissen - ein Beispiel aus jüngster Zeit -sagen dürfen, die EU habe ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich eingeleitet, weil sie nicht will, dass österreichische Familien gefördert werden. Dass sie, was sie sagen und was sie tun, an einem Maßstab messen, der nicht allein die Zustimmung ist, die sie bei der nächsten Umfrage bekommen. Es sind daher beide Seiten gefordert, die wählen und die sich wählen lassen. Die Demokratie ist nicht in Stein gemeißelt. Wir müssen sie uns immer wieder aufs Neue sichern, durch Wachsamkeit, durch kritisches Hinterfragen, durch Einstehen für das, was wir für richtig halten. Die Demokratie hat viele Feinde. Nicht zuletzt unsere eigene Bequemlichkeit. Sie entschuldigt uns nicht. Denn wir haben gar nichts kommen sehen, werden wir nicht sagen können.

"Wir haben gar nichts kommen sehen", Edition Bernest, ISBN 978-3-902984-51-7,12 Euro

Kommentare

Roland Mösl

Griss forderte 2017 bei einer NEOS Veranstaltung: Statt 24 Monate Karenzzeit nur noch 6 Monate für den Mann und 6 Monate für die Frau. Damit sollen noch weniger Kinder erreicht werden.

Seite 1 von 1