Wenn das Gas ausgeht

Österreich hat sich von russischem Gas so abhängig gemacht, dass ein plötzlicher Importstopp - egal ob als ultimative EU-Sanktion oder seitens Russlands - dramatische Folgen hätte. Wenn der Wirtschaftskrieg weiter eskaliert, drohen Stromausfälle, Produktionsstopps und Teuerungen.

von Gas © Bild: IMAGO images/ANP

Der Krieg in der Ukraine rückt immer näher. Mit jedem Flüchtling, der am Wiener Hauptbahnhof ankommt. Mit jedem Gräuelfoto, das in den sozialen Medien geteilt wird. Möglich, dass er für uns bald noch spürbarer wird. Wenn eine Diskussion weiter Fahrt aufnimmt, die für Österreich höchst unangenehm werden könnte: Die EU überweist jeden Tag rund 200 Millionen Euro an Russland - für Gasimporte. Trotz der verhängten Sanktionen. Blutgeld, sagen Kritiker. Und sprechen sich für einen sofortigen Stopp dieser Lieferungen aus.

Auch der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, forderte Anfang der Woche einen Boykott russischer Gas-und Ölexporte. "Man kann es Embargo nennen oder auch einfach Moral, wenn man sich weigert, den Terroristen Geld zu geben."

Österreich bezieht 80 Prozent seiner Gasimporte aus Russland. Ein plötzlicher Stopp, darin sind sich alle Experten einig, die News dazu befragt hat, wäre ein Horrorszenario. Denn, sagt ein Gesprächspartner: "Wir sitzen in der Falle." Daran ändert auch Kanzler Nehammers Publicity-Reise auf die Arabische Halbinsel nichts. Kurzfristig ist das russische Gas in Österreich nicht zu ersetzen, schon gar nicht mit einer Absichtserklärung zu grünem Wasserstoff, wie sie in Abu Dhabi unterschrieben wurde -eine Technologie, die derzeit weder effizient noch spruchreif ist.

"Massives Problem"

Was also, wenn plötzlich kein Gas aus Russland kommt -sei es, weil Russland den Hahn plötzlich zudreht, wie der russische Außenminister Sergej Lawrow bereits gedroht hat, oder weil Europa diesen ultimativen, schmerzhaften Schritt doch noch für angebracht hält?

"Dann haben wir ein massives Problem", sagt Carola Millgramm, Leiterin der Abteilung Gas bei der Regulierungsbehörde E-Control, "weil wir das Gas ja nicht nur fürs Heizen einsetzen, sondern auch für die Fernwärmeerzeugung, die Stromerzeugung und natürlich zu einem großen Teil auch in der Industrie."

Bei einem hundertprozentigen Ausfall der Gaslieferungen aus Russland, sagt Millgramm, "wären natürlich auch Länder wie Deutschland und Italien massiv betroffen, weil sie sehr viel Gas in der Stromerzeugung einsetzen. Und Österreich importiert viel Strom aus Deutschland, vor allem an Tagen, an denen wir wenig Winderzeugung haben und die Sonne nicht scheint." Beeinträchtigungen der Stromversorgung wären in so einem Szenario "nicht ausgeschlossen".

»Ich bin bei dieser Diskussion darüber, ob die EU die Gasimporte von sich aus einstellen sollen, sehr skeptisch. Es ist wirklich ein risikoreiches Spiel, das man sich sehr gut überlegen muss«

"Ich bin bei dieser Diskussion darüber, ob die EU die Gasimporte von sich aus einstellen sollen, sehr skeptisch. Es ist wirklich ein risikoreiches Spiel, das man sich sehr gut überlegen muss. Weil das nicht nur bedeutet, dass wir uns einen wärmeren Pullover anziehen müssen, sondern auch, dass wir uns auch auf massive Probleme in der Stromerzeugung und -versorgung einstellen müssen."

Nachhaltige Maßnahmen?

Außerdem, meint Millgramm, sei unklar, ob solche Maßnahmen überhaupt nachhaltig wirksam sind. "Ich kann diesen Vorschlag aus menschlicher Sicht wirklich nachvollziehen. Aber wir können ja nicht sicher sein, nur weil wir für zwei Wochen unsere Öl-und Gasimporte einschränken, dass der Krieg beendet wird. Und was machen wir dann? Diese Maßnahme muss ja auch zu Ende gedacht werden."

Zudem, sagt Millgramm, sei schwer einzuschätzen, wem so ein Importstopp mehr schaden würde, der russischen oder der europäischen Seite. "Wir können unsere Kosten ganz gut einschätzen, aber nicht die russischen. Dazu ist es zu wenig transparent. Wir wissen schlicht nicht, ob diese Maßnahme zum Ziel führt."

Produktionsstopp

Bei der Industriellenvereinigung sieht man die Aussicht auf ein mögliches plötzliches Ende der Gaslieferungen aus Russland mit Sorge, auch wenn man die bisherige Linie der Bundesregierung und auch der EU hinsichtlich der Sanktionen "vollinhaltlich" unterstütze.

"Ich sage ganz offen, ich schließe nicht aus, dass es dazu kommt", sagt IV-Generalsekretär Christoph Neumayer. "Deutschland ist klar positioniert in dieser Frage, weil sie in einer ähnlichen Situation sind wie wir. Aber sollte Deutschland von dieser Position abrücken, wird es schwierig."

"Wirklich dramatische" Folgen

Für Österreich wären die Folgen "wirklich dramatisch", sagt Neumayer. "Ich befürchte, man macht sich keine Vorstellung davon, was das bedeuten würde. Es betrifft ja nicht nur die Haushalte, was das Heizen betrifft, sondern auch beispielsweise den Produktionssektor, gerade die Bereiche Verpackungen für Lebensmittel und Medikamente, aber auch die Bau-und Stahlindustrie. Das heißt, es hätte kurzfristig eklatante Auswirkungen auf unser Leben und unsere Wirtschaft. Das muss uns bewusst sein." Ganz konkret würde so ein Gasimportstopp bedeuten, dass beispielsweise "ein großes Unternehmen die gesamte Produktion einstellen müsste, weil die Lackierstraße mit Gas betrieben wird und alle Produkte lackiert werden müssen." In der Stahlindustrie, sagt Neumayer, könnten durch einen plötzlichen Gasstopp sogar Anlagen kaputt gehen, weil sie permanent befeuert werden müssen. Und auch die Bauindustrie wäre unmittelbar betroffen, weil kein Zement mehr hergestellt werden könnte.

Fragen der Gasverteilung

Schon jetzt wird darüber nachgedacht, wie das wenige Gas, das im Falle eines Worst-Case-Szenarios zur Verfügung stände, verteilt werden könnte. Haushalte haben Vorrang. Und dann? Kommen Energielenkungsmaßnahmen zum Einsatz, heißt es aus dem Büro der grünen Klima-und Energieministerin Leonore Gewessler: "Zuerst würde die Industrie ersucht, ihren Verbrauch zu reduzieren. In einem nächsten Schritt würde die Produktion dann in Absprache mit den Unternehmen -aber per Verordnung -gezielt gedrosselt. So kann sichergestellt werden, dass jedenfalls genug Gas für Haushalte, aber auch Kraftwerke vorhanden ist.

»Ein plötzlicher Gasimportstopp würde die Teuerungen an die Decke schießen lassen. «

Das Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo hat kurz nach Beginn des Kriegs in der Ukraine eine Kurzanalyse zu den möglichen Auswirkungen auf Österreich und die EU erstellt. Elisabeth Christen, eine der Autorinnen der Studie, verweist auf die Inflationsgefahr. "Wir sehen jetzt schon, dass die gesamte Eurozone unter einer sehr hohen Inflationsrate leidet. Ein plötzlicher Gasimportstopp würde die Teuerungen an die Decke schießen lassen. Das hätte nicht nur in Hinblick auf die Energiepreise unmittelbare Auswirkungen, sondern würde viele Produkte in Österreich verteuern. Schon allein die Herstellung eines banalen Joghurtbechers wäre von höheren Gaspreisen betroffen."

Als "fahrlässig" will Christen so einen plötzlichen, politisch motivierten Importstopp aber nicht bezeichnen: "Es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit und eine äußerst wirksame Drohung mit Kosten, die jeder zu spüren bekommt. Gleichzeitig muss man aber auch die Chancen sehen. Die EU und Österreich haben sich zu einem Ausstieg aus nicht erneuerbaren Energiequellen bekannt. Man könnte diesen negativen Druck von außen zum Anlass nehmen, das System umzustellen."

Drei bis fünf Jahre

Jedoch die Emanzipation vom russischen Gas ist schwierig. Die EU möchte russische Gasimporte im kommenden Jahr um zwei Drittel reduzieren, durch den Ausbau erneuerbarer Energien, die Erschließung neuer Gaslieferungen und die Senkung des Energieverbrauchs. Auch Österreichs Politik will rasch raus aus der Gasabhängigkeit. "Wir brauchen schnell auch andere Lieferländer, um die Versorgung zu diversifizieren", sagt Ministerin Gewessler dazu. "Wir werden mit einer Erdgasbevorratung dafür sorgen, dass wir mit besser gefüllten Gasspeichern in den nächsten Winter gehen. Und vor allem müssen wir unabhängig werden. Jedes Windrad, das wir bauen, ist ein Schritt in diese Richtung. Jede Gastherme, die wir tauschen, bringt uns Freiheit. Wir müssen dabei aber auch ehrlich sein. Wir können diese Abhängigkeit nicht von heute auf morgen beenden."

40 Prozent der Gasimporte aus Russland

40 Prozent der EU-weiten Gasimporte stammen aus Russland. Österreich ist mit 80 Prozent in einer viel kritischeren Situation. "Wir haben uns das wirklich sehr genau angeschaut", sagt Christoph Neumayer, der Generalsekretär der Industriellenvereinigung. "Ich glaube, wir haben eine Chance, in drei bis fünf Jahren wirklich diversifiziert zu sein. Aber diese Zeit wird es sicher brauchen."

»Österreich kann sich kurzfristig nicht komplett unabhängig machen von russischem Gas«

Carola Millgramm von der Regulierungsbehörde E-Control meint dazu: "Österreich kann sich kurzfristig nicht komplett unabhängig machen von russischem Gas. Es ist auf jeden Fall ein längerer Prozess. Wenn wir zu Beginn des kommenden Winters wirklich einen 80-prozentigen Speicherstand haben wollen, wie es die EU vorgegeben hat, ist das ohne russische Gaslieferungen nicht machbar. Wir werden auf irgendeine Art und Weise mit der russischen Seite zusammenarbeiten müssen." Es sei, sagt Millgramm, "ein bisschen wie bei einer Scheidung. Wir werden uns wahrscheinlich scheiden lassen, aber wir müssen mit der russischen Seite die Scheidung ausverhandeln."

Was nur derzeit keiner weiß: Haben die Ehepartner überhaupt noch eine Gesprächsbasis? Sind die gegenseitigen Abhängigkeiten so groß, dass das heikle Thema Gasimporte weiterhin außen vor bleibt? Steigt der Druck, auch durch die USA, die selbst einen Importstopp für russisches Öl verhängt haben, die Gaslieferungen auszusetzen? Oder dreht Russland irgendwann den Hahn zu?

Der Wirtschaftswissenschaftler Christoph Badelt, ehemaliger Leiter des Wifo, sieht in dieser kritischen Situation die EU gefordert. "Jetzt fahren wieder alle einzeln irgendwohin, um Gas aufzutreiben. In Wahrheit wäre natürlich eine europäische Zusammenarbeit viel fruchtbringender, weil sich das bei den Preisen positiver auswirken würde und weil es ja auch um die notwendige Infrastruktur geht."

Solidarität

Auch im Falle eines plötzlichen Gas-Boykotts durch die EU käme es auf die europäische Solidarität an, meint Badelt. "Das wird ja keine österreichische Entscheidung sein, sondern eine EU-Entscheidung oder eine Entscheidung der EU und der USA. Wir als kleines Land werden uns dagegen nicht wehren können. Aber Österreich würde einen besonders hohen Preis zahlen, es sei denn, dass im Zuge so eines Beschlusses ein innereuropäischer Ausgleich gefunden wird. In Wahrheit wird das eine Bewährungsprobe für den Zusammenhalt in Europa werden."

Österreichs - verhältnismäßig -große Gasspeicher sind derzeit immerhin zu rund 17 Prozent gefüllt, auch weil das russische Gas während der ersten beiden Kriegswochen zuverlässig geliefert wurde, ja die Gasflüsse sogar erhöht wurden. Der aktuelle Speicherstand ist für den Spätwinter nicht ungewöhnlich.

»Für diesen Winter ist die Gasversorgung für Haushalte gesichert«

Wenn es in der schwierigen Situation, in der sich Österreich derzeit befindet, eine gute Nachricht, dann die: Frieren für den Frieden muss in den nächsten Wochen niemand. Carola Millgramm von der E-Control: "Selbst bei dem Szenario eines sofortigen Gasstopps aus Russland würden wir zwar Sparaufrufe machen, aber für diesen Winter ist die Gasversorgung für Haushalte gesichert."

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News-Magazin Nr. 10/2022.